Einhundert Katholikentage

Zum einhundertsten Mal gibt es einen deutschen Katholikentag, diesmal vom 25. bis 28. Mai 2016 in Leipzig - einer Stadt mit rund 15 Prozent Christen, weniger als fünf Prozent davon sind katholisch. Er steht unter dem Schriftwort „Seht, da ist der Mensch“. Mit diesem Motto ist eine Botschaft verbunden, die auf der Website des Katholikentags (www.katholikentag.de/) so kommuniziert wird: „eine Einladung an alle, gemeinsam neu sehen zu lernen, vom Menschen her und auf den Menschen hin. Ganz in der Tradition seiner 99 Vorgänger wird der Jubiläumskatholikentag Zukunftsthemen wie die Solidarität und das Miteinander von Menschen aufgreifen. Themen wie Migration, Menschenrechte, Grenzen des Wachstums und der Technik und Wissenschaft, Armut und Familie werden in den Fokus rücken. Aber auch die Zukunft von Kirche und Gemeinden, Globalisierung und Klimagerechtigkeit stehen ganz oben auf der Agenda des 100. Katholikentags. Dabei gilt es, neue Perspektiven einzunehmen und neue Wege zu gehen.“

Deutlich wird damit: Glaube ist immer auch politisch. Mystik und Politik sind nicht voneinander zu trennen. Flüchtlings- und Migrationsfragen polarisieren im Moment das Land - und Katholikinnen und Katholiken. Sakristei-Christentum hilft jedoch in Zeiten der Globalisierung nicht weiter.

Thomas Sternberg, der neue Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) und damit Gastgeber des Katholikentags, hat betont, das Jubiläum wolle „mehr sein als ein Rückblick auf eine gute Geschichte“. Diese hat im Revolutionsjahr 1848 begonnen, als sich im Oktober in Mainz zum ersten Mal die „Generalversammlung des katholischen Vereins Deutschlands“ formierte - damals ein reines Delegiertentreffen. Katholiken erkannten ihre Chance: Als Folge der Märzrevolution wurden bei den bürgerlichen Grundrechten neben Presse- und Meinungsfreiheit auch Versammlungs- und Koalitionsfreiheit garantiert - ein „window of opportunity“ für die seit dem Wiener Kongress durch protestantische Regierungen unterdrückte katholische Bevölkerung. Sie musste sich öffentlich nicht länger wegducken.

Die bis in die Weimarer Republik andauernden Diskriminierungen - man denke an das kleine „k.“ hinter bestimmten Namen in Kürschners Gelehrtenkalender („Vorsicht, katholisch!“) - gehören ebenso der Geschichte an wie der Verbandskatholizismus und die Laienbewegungen des 19. Jahrhunderts. Aber aus den Gesellenvereinen hat sich das internationale Kolpingwerk entwickelt, die Katholische Frauengemeinschaft Deutschlands ist eine angesehene Interessensvertretung. Deutsche Katholiken sind selbstbewusst geworden. Katholisch sein ist kein Synonym mehr für kritiklose Romtreue, ultramontane Fernsteuerung oder intellektuelle Dürftigkeit. Als „Laienvertretung“ ist das ZdK weltweit ein Unikat. Es wird auch beargwöhnt: Rechte Kirchenkreise sammeln sich im „Forum Deutscher Katholiken“, einer Gegenorganisation, die Kongresse veranstaltet („Freude am Glauben“) und ebenfalls Petitionen und Resolutionen formuliert. Will man in solchen Kreisen einen Ghetto-Katholizismus - nach dem Motto: „Man bleibt unter sich“?

1848 haben Katholikentage in Deutschland, 1877 in Österreich, 1903 in der Schweiz begonnen. Schon rein geografisch vermitteln die ersten Katholikentage eine Ahnung davon, was diese öffentlichen Inszenierungen bedeuteten, nämlich „Heerschau“: in Mainz, Freiburg, Frankfurt, München, Köln, Aachen, Münster, Breslau, Prag, Wien. Zweisprachige Katholikentage gab es in Metz und Straßburg. Der erste Katholikentag nach 1932 fand 1948 in Mainz statt, wie schon hundert Jahre zuvor. Ivo A. Zeiger SJ irritierte dort mit der Diagnose „Deutschland ist Missionsland geworden“.
Katholikentage sind Foren der Auseinandersetzung, Plattformen einer debattenstarken, vitalen Kirche des Volkes Gottes. Sie bilden mit ihrem Programm die Vielfalt heutiger Lebens- und Glaubensformen ab, aber auch gesellschaftlicher wie politischer Optionen, bei denen Katholiken zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen können, wie das Zweite Vatikanische Konzil betonte. Gängelungen sind überholt, bischöfliche Bevormundungsversuche unwirksam - der Essener Bischof Franz-Josef Overbeck verwahrte sich neulich gegen die Vorstellung von Bischöfen als „Rechtgläubigkeits-TÜV“.

Konfliktscheu darf ein Katholikentag nicht sein. Nationalismus und Zentrumspartei, Unfehlbarkeit und Antimodernismus beschäftigten. Bismarcks Kulturkampf war ebenso Thema wie der Kirchenkampf im Nationalsozialismus. Kardinal Michael Faulhaber und Konrad Adenauer gerieten 1922 heftig aneinander. Gewerkschaften, Gastarbeiter, Abrüstung, Atomdebatte, Bioethik, Umweltschutz, Theologie der Befreiung, Zugang zum Priesteramt, Ökumene, Frauen, Schwangerschaftsabbruch, Homosexualität, wiederverheiratete Geschiedene, Jugend, Muslime standen schon auf der Agenda - und gehören immer wieder dorthin. Was Gesellschaft und Politik bewegt, muss Thema für einen Katholikentag sein, der nicht Nabelschau betreiben will. Wer heiße Eisen meidet, verbrennt sich später daran. Wie eine dunkle Wolke schwebt seit Jahren die Missbrauchskrise über allem, der oscarprämierte Film „Spotlight“ betrifft nicht nur Boston. Sexueller Missbrauch kratzt an der Glaubwürdigkeit aller.

Die Band Wise Guys wünscht sich ein Signal aus Leipzig: dass wir angesichts der Flüchtlinge „nicht ,dicht machen‘ können. Dass wir nicht wegrennen können“. Schade, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel wegen des G7-Gipfels in Japan ausgerechnet diesmal verhindert ist. Holger Arning und Hubert Wolf haben zum Jubiläum den höchst informativen, teils unterhaltsamen Prachtband „Hundert Katholikentage. Von Mainz 1848 bis Leipzig 2016“ (Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt) veröffentlicht: Spiegelbild nicht nur von Kirchen-, sondern auch von Zeit-, Mentalitäts- und Sozialgeschichte. „Laien machen Geschichte“, schreiben die beiden Herausgeber. Sie haben Recht: „Hundert Katholikentage: Ohne sie sähe die katholische Kirche anders aus.“ Wie? Zweifellos ärmer.

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