Auch wenn der Beginn der Reformation nun bald 500 Jahre zurückliegt und wohl über kaum eine andere Gestalt aus der Zeit des Mittelalters und der Renaissance so viel geschrieben worden ist wie über Martin Luther (1483-1546), so ist das Bild des Wittenberger Reformators nach wie vor umstritten1. Bis heute gibt es unter römisch-katholischen wie evangelischen Christen eine Menge Mythen, Klischees und Vorurteile in der Wahrnehmung Luthers und in der Beurteilung seines Werkes. Man findet gleichsam Deutungen „mit und ohne Goldgrund“ 2. Während viele Katholiken mit dem Namen Luthers zuerst die Spaltung der abendländischen Kirche verbinden, sehen viele lutherische Christen in ihm einen unerschrockenen Glaubenshelden und Gründungsvater ihrer Kirche3. Beides jedoch sind Verkürzungen und Verzerrungen. Sie mögen zwar nach wie vor weit verbreitet sein, aber sie werden Luther nicht gerecht und behindern die Vertiefung der Gemeinschaft zwischen den Kirchen.
Eine große Chance, die das Reformationsgedenken im Jahr 2017 für die Ökumene bildet, liegt darin, dass das breite Interesse und die intensive Vorbereitung dieses Ereignisses dazu führen könnten, Luther neu zu begegnen und ihn in seinem theologischen Anliegen besser zu verstehen. Dabei wird es auch darum gehen, sich mit den je eigenen „blinden Flecken“ in der Beurteilung Luthers auseinanderzusetzen, sie möglicherweise zugunsten einer gemeinsamen Deutung der Reformation zu überwinden und so einen guten Schritt auf dem Weg zur sichtbaren Einheit der Christenheit voranzukommen. Natürlich wird man das, was in der Vergangenheit geschehen ist, nicht ungeschehen machen können. „Was jedoch von der Vergangenheit erinnert wird und wie das geschieht, kann sich im Lauf der Zeit tatsächlich verändern“ 4: Mit Blick auf Luther und den Beginn der Reformation vor 500 Jahren geht es nicht darum, „eine andere Geschichte zu erzählen, sondern darum, diese Geschichte anders zu erzählen“ 5, nämlich als eine Geschichte, die uns heute nicht mehr trennt, sondern miteinander verbindet.
Zu den Aufgaben, die sich hier stellen, gehört es, begründend darzulegen, was Luther evangelischen wie römisch-katholischen Christen heute zu sagen hat und von welchen seiner theologischen Anliegen Impulse für Glaube, Theologie und Kirche in der Gegenwart ausgehen. Ich will mich dabei auf fünf Aspekte konzentrieren, nämlich: Luther als „Lehrer im Glauben“, als „Bibelleser“, als „Zeugen des Evangeliums von Jesus Christus“, als „Rufer zur geistlichen Erneuerung“ und als „Förderer der Ökumene“ und von da aus auch auf die aktuellen Entwicklungen eingehen, die durch Papst Franziskus ausgelöst sind6. Die thematische Auswahl ist naturgemäß subjektiv, aber darin könnte ja die Chance liegen, unbekümmert von kirchlichen Vorgaben oder Rücksichtnahmen neue, die Kirchen verbindende Wege in der Begegnung mit Luther zu entdecken.
Luther als „Lehrer im Glauben“
Wer Luthers Schriften liest, dem begegnet ein zutiefst frommer Christenmensch, der in seiner theologischen Arbeit als Augustinermönch, Universitätsprofessor und Prediger versuchte, durch die Auslegung der Heiligen Schrift Antworten auf Grundfragen des Glaubens zu finden. Dabei ging es Luther nie um intellektuelle Spekulation oder Brillanz. Seine intensive, ernsthafte und von hoher denkerischer Kraft gezeichnete Erforschung der biblischen Wahrheit zielte einzig und allein darauf, angefochtene Gewissen zu trösten und sie hinsichtlich ihres Heils gewiss zu machen. Diese existenzielle, geistliche und seelsorgerliche Ausrichtung der Theologie ist ein erster Impuls, der sich von Luther lernen lässt.
Die entscheidende Frage, die Luther zeitlebens bewegte, war - so beschreibt es Papst Benedikt XVI. in seiner Rede im Erfurter Augustinerkloster treffend -
„die Frage nach Gott, die die tiefe Leidenschaft und Triebfeder seines Lebens und seines ganzen Weges gewesen ist. ,Wie kriege ich einen gnädigen Gott‘: Diese Frage hat ihn ins Herz getroffen und stand hinter all seinem theologischen Suchen und Ringen. Theologie war für Luther keine akademische Angelegenheit, sondern das Ringen um sich selbst, und dies wiederum war ein Ringen um Gott und mit Gott.“ 7
Gott, wie er sich in Christus und in der von Christus zeugenden Heiligen Schrift geäußert hat, und der Mensch, der diesem Gott als Sünder und zugleich als Angenommener, als Gerechtfertigter, gegenübersteht - das sind die beiden Pole, die Luthers Denken und sein Leben bestimmten.
Wie seine theologischen Einsichten seine Existenz als Christenmensch prägten, das kann exemplarisch an einer kleinen Notiz deutlich werden, die Luther zwei Tage vor seinem Tod am 18. Februar 1546 verfasst hat. In diesem letzten schriftlich belegten Text fasste er seine Lebenserfahrungen zusammen und stellte fest, dass man Vergils Georgica nur verstehen könne, wenn man fünf Jahre lang Hirte und Bauer gewesen sei. Und Cicero verstehe keiner, der nicht zwanzig Jahre in der Politik tätig gewesen sei. Das eigentliche Ziel seiner Überlegungen aber besteht in dem dann folgenden Bekenntnis: Auch die Heilige Schrift könne man nur verstehen, wenn man hundert Jahre mit den Propheten die Gemeinde geleitet habe - also, so die unausgesprochene Folgerung, in einem Menschenleben gar nicht. Und so formuliert Luther im Rückblick auf seine lebenslange Beschäftigung mit der Heiligen Schrift eine hermeneutische Einsicht, die für seine Theologie und für seine Existenz insgesamt gilt: „Wir sind Bettler. Hoc est verum.“ 8
Das ist keine rhetorische Bescheidenheitsfloskel, sondern die inhaltliche und existenzielle Mitte der Theologie Luthers. Er war davon überzeugt, dass wir Menschen vor Gott mit leeren Händen dastehen und alles, was wir sind und haben, von Gott empfangen. Der von Luther überaus geschätzte Apostel Paulus hat dies in die kurze Frage gefasst: „Was hast du, das du nicht empfangen hast?“ (1 Kor 4,7) Knapper und zugleich einfacher lässt sich das theologische Anliegen Luthers nicht beschreiben. Diese Unterscheidung zwischen Gott und Mensch hat Luther stets betont und eingeschärft, weil für ihn Gewissheit im Glauben nur dann möglich ist, wenn sie nicht von uns Menschen abhängt, sondern sich auf das stützt, „was außerhalb von uns (extra nos) ist, nämlich auf die Zusage und Wahrheit Gottes, die nicht trügen kann“ 9. Mit seiner theologischen Klarheit und der seelsorgerlichen Zielsetzung seines Wirkens ist Luther zu einem anregenden und anspruchsvollen „Lehrer im Glauben“ geworden.
Luther als „Bibelleser“
Wer Luthers Schriften liest, dem begegnet ein Christenmensch mit einem „geradezu abenteuerlichen Vertrauen“ 10 in die Heilige Schrift. Er war davon überzeugt, dass die biblischen Texte höchst relevant sind für Menschen, die ihnen Jahrhunderte nach ihrer Entstehung begegnen. Luthers Grundannahme, dass in den biblischen Texten das zu finden sei, was Menschen für ihren Glauben und für ihr Leben suchen, ist eine weitere Anregung, die von ihm ausgehen kann11. Was er über den Gebrauch der Bibel in seiner Zeit beobachtet, klingt sehr aktuell:
Es ist freilich eine der größten Plagen auf Erden, dass die Heilige Schrift so verachtet ist, auch bei denen, die dazu von Amts wegen bestellt sind. Alle anderen Sachen, Künste, Bücher treibt und übt man Tag und Nacht [...]. Nur die Heilige Schrift lässt man liegen, als brauche man sie nicht.“ 12
Das jedoch hält Luther für einen Irrtum, weil in der Heiligen Schrift nicht nur „Leseworte, wie viele meinen, sondern lauter Lebensworte enthalten sind, die nicht zum Spekulieren und hohen Betrachtungen, sondern zum Leben und Tun hergesetzt sind.“ 13 Aus diesem Grund bemüht er sich, mit seiner Bibelübersetzung, mit einleitenden Vorreden zu den biblischen Büchern, mit seinen Überlegungen zum Verstehen der Bibel, die Bedingungen dafür zu schaffen, dass jeder Christenmensch die Heilige Schrift lesen kann. Drei wichtige Einsichten sind für ihn dabei leitend gewesen: In der Bibel geht es erstens nicht um irgendwelche historischen Informationen, sondern wir begegnen hier dem Wort Gottes:
„Wer Christi Wort glaubet und hält, dem steht der Himmel offen, die Hölle zugeschlossen, der Teufel gefangen, die Sünde vergeben, und er ist ein Kind des ewigen Lebens. Solches lehrt dieses Buch, die Heilige Schrift, und sonst kein anderes Buch auf Erden. Wer darum ewig leben will, der studiere hier fleißig.“ 14
Da wir uns in der Begegnung mit dem Wort Christi nicht vertreten lassen können, muss jeder selber die Bibel lesen.
Zweitens geht Luther davon aus, dass jeder Mensch die Bibel hinreichend verstehen kann. Dabei stellt er keineswegs in Abrede, dass die biblischen Texte unterschiedlich leicht oder schwer zu verstehen sind. Aber Luther meint, dass die Bibel sich bei sorgfältiger Lektüre erschließe. Und er traut der Heiligen Schrift zu, dass sie durch den Heiligen Geist Glauben wecken kann. Genau darin liegt für Luther die besondere Kraft und Wirksamkeit der Bibel:
„Sie wird nicht in den verwandelt, der sie studiert, sondern sie verwandelt den, der sie liebt, in sich und ihre Kräfte hinein.“ 15
Genau diesen Umschlag von der äußeren zur inneren Klarheit der Heiligen Schrift hat Luther selbst erfahren. Ja, diese Erfahrung bildet die Mitte dessen, was als die reformatorische Wende Luthers bezeichnet wird. Über diese entscheidende Veränderung berichtet Luther rückblickend im sogenannten Selbstzeugnis aus dem Jahr 1545.
Dieser Text, in dem er beschreibt, wie ihm der Sinn des Begriffes „Gerechtigkeit Gottes“ aufgegangen ist, wird meistens herangezogen, um die Datierung dieser theologischen Einsicht zu bestimmen16. Doch dieser Text ist nicht nur biografisch. Vielmehr beschreibt sich Luther hier als exemplarischen Bibelleser, dem sich im intensiven, nicht nachlassenden Lesen der Bibel der Sinn der Heiligen Schrift neu erschließt und für den dadurch wahr wird, was das Evangelium ihm zusagt. Die befreiende und den Glauben begründende Kraft dieser Bibellektüre ist in den Worten noch deutlich zu spüren, die Luther kurz vor seinem Tod für diese Erfahrung gefunden hat: „Da fühlte ich mich geradezu von neuem geboren und durch geöffnete Tore ins Paradies selbst eingetreten.“ 17
Aufgrund seiner eigenen Erfahrung als Bibelleser ermutigt Luther drittens jeden Christenmenschen zur eigenen Bibellektüre. Seine bis heute bedenkenswerte Empfehlung lautet:
„Wache, studiere, lies. Fürwahr, du kannst nicht zu viel in der Schrift lesen, und was du liest, kannst du nicht zu gut lesen, und was du gut liest, kannst du nicht zu gut verstehen, und was du gut verstehst, kannst du nicht zu gut lehren, und was du gut lehrst, kannst du nicht zu gut leben.“ 18
Luther als „Zeuge des Evangeliums“
Durch seine Schriften wie auch in seiner Verkündigung und Lehrtätigkeit wurde Luther Zeuge des Evangeliums von Jesus Christus. Das Verständnis von der Rechtfertigung des Sünders durch den Glauben, wie es sich ihm durch sein intensives Lesen der Bibel aufgetan hatte, bildete von nun an die orientierende Mitte seines eigenen Glaubens wie seiner Theologie und Verkündigung. Entsprechend dieser Einsicht verstand sich Luther in seinem Tun als „unseres Herrn Jesu Christi unwürdiger Evangelist“ und machte so deutlich, dass es in keinerlei Weise um ihn, sondern allein um den Zuspruch und den Anspruch des von ihm bezeugten Evangeliums ging. Aus diesem Grund hat er sich mit aller Entschiedenheit dagegen gewehrt, dass die durch ihn entstandene Bewegung seinen Namen trägt:
„Erstens bitte ich“, schreibt Luther, „man wolle von meinem Namen schweigen und sich nicht lutherisch, sondern einen Christen nennen. Was ist Luther? Ist doch die Lehre nicht mein! Ebenso bin ich auch für niemanden gekreuzigt. St. Paulus […] wollte nicht leiden, dass die Christen sich paulinisch oder petrisch hießen, sondern Christen. Wie käme denn ich armer stinkender Madensack dazu, dass man die Kinder Christi dürfte nach meinem nichtswürdigen Namen nennen? Nicht so, liebe Freunde! Lasst uns tilgen die parteiischen Namen und uns Christen heißen, nach Christus, dessen Lehre wir haben.“ 19
Nun wird man deshalb nicht gleich die evangelisch-lutherische Kirche umbenennen müssen. Doch das theologische Argument, das Luther unter Bezugnahme auf Paulus stark macht, gilt es in unserem Kirchesein immer im Blick zu haben: Zum einen darf die Einheit der Gemeinde nicht durch Bildung unterschiedlicher Separatgruppen gefährdet werden. Zum anderen entsteht christlicher Glaube nicht durch Bezugnahme auf Luthers Theologie, sondern durch das Hören auf das Wort Gottes beziehungsweise auf Jesus Christus, wie er in der Heiligen Schrift bezeugt ist. Für Luther kann es gar nicht anders sein, als dass nicht er, sondern allein Jesus Christus das Kriterium für den Glauben ist. Der Auftrag der Kirche ist es, einzig und allein das Evangelium von Jesus Christus zu verkündigen. Was für diese Verkündigung zu gelten hat, das hat Luther in aller Klarheit zum Ausdruck gebracht:
„Durch das Evangelium wird uns mitgeteilt, was Christus sei. Dass wir ihn kennenlernen, sprich: dass er unser Heiland ist, uns von Sünde und Tod befreit und uns aus allem Unglück hilft, uns mit dem Vater versöhnt und uns ohne unsere Werke fromm und selig macht. Wer nun Christus nicht erkennt, der geht fehl. Denn auch wenn du weißt, dass er Gottes Sohn ist, gestorben und auferstanden, und sitzt zur Rechten des Vaters, so hast du dennoch noch nicht richtig Christus erkannt [...], denn du musst das wissen und glauben, dass er alles um deinetwillen getan hat, dir zu helfen.“ 20
Darum geht es im Kern bei Luther und das ist der bleibende Grundauftrag der Kirche: eine Verkündigung des Evangeliums, die zum Glauben an Jesus Christus einlädt und die Erfahrung eröffnet, dass das Heilswerk Christi nicht irgendjemanden, sondern uns zugute geschehen ist.
Luther als „Rufer zur geistlichen Erneuerung“
Wenn man sich dem Verständnis von „reformatio“ bei Luther zuwendet, dann ist als Erstes zu betonen, dass Luther sich weder als Gründer einer neuen Form des Christentums sah noch jemals den Anspruch erhoben hat, selbst der Reformator der Kirche zu sein oder die Reformation der Kirche zu bringen21. Auch die Vorstellung von dem Mönch, der am Abend vor dem Allerheiligenfest 1517 selbstbewusst seine Thesen an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg angeheftet habe, ist falsch, und zwar unabhängig davon, ob der Thesenanschlag nun stattgefunden hat oder nicht22. Und auch in Worms, wo Luther im Jahre 1521 vor Kaiser und Reich Rede und Antwort stehen musste, ist er nicht überheblich aufgetreten. Eher ist Luther mit Zittern und Zagen an sein Werk gegangen.
Freilich ist es nicht nur Bescheidenheit, die Luther daran hinderte, sich selbst als Reformator zu bezeichnen. Anders als manche Reformbewegungen des späten Mittelalters ging es Luther nicht um ein Programm, das auf die Verwirklichung bestimmter äußerer Forderungen zielte. In der ersten der 95 Thesen wird deutlich, dass Luther von der grundlegenden und lebenslangen Notwendigkeit zur Umkehr und Erneuerung in Glaube und Kirche überzeugt war. Die These lautet: „Da unser Herr und Meister Jesus Christus spricht: ,Tut Buße‘ (Mt 4,17), hat er gewollt, dass das ganze Leben der Gläubigen Buße sei.“ 23
Luther wusste, dass die Kirche zu jeder Zeit einer Reformation bedarf. Aber er war davon überzeugt, dass diese Reformation nicht von einem Menschen, nicht vom Papst und auch nicht von den Kardinälen herbeigeführt werden könne. Vielmehr sei die Reformation letztlich allein Sache Gottes, und dieser allein kenne die Zeit, wann es zu dieser Reformation kommen werde24. Unter diesem Vorzeichen machte er zwar eine Reihe von Vorschlägen für Reformen, um einzelne Missstände abzustellen. Aber er wollte damit nicht eine neue Kirche gründen, sondern er wollte zur Erneuerung der einen Kirche Jesu Christi aus dem Geist des Evangeliums beitragen.
Sodann war Luther nicht der Meinung, dass bestimmte Änderungen schon als solche die Reformation der Kirche herbeiführten. Eine solche Reformation müsse darin bestehen, dass der ganze Pomp und die weltliche Herrschaftsweise von der Kirche abgelegt werden müssten, dass man statt dessen auf das Wort und das Gebet sich richten und, dem Beispiel der Apostel folgend, in Armut für die Wahrheit Gottes leben müsse.
Auch wenn sich Luthers Verständnis von Reformation nicht durchgesetzt hat und wir heute den Begriff als Epochenbezeichnung verwenden, so könnte es gleichwohl lohnend und weiterführend sein, sich damit auseinanderzusetzen, dass Luther die Reformation nicht als Werk von Menschen, sondern ausschließlich als Werk Gottes verstanden hat, das die Buße als Neuausrichtung an Gottes Willen zur Voraussetzung habe und das durch das Hören auf das Wort Gottes geschehe.
Luther als „Förderer der Ökumene“
Wenn die Päpste seit Paul VI. darauf hingewiesen haben, dass ihr Amt das größte Hindernis auf dem Weg zur Einheit der Kirche darstelle25, so muss man selbstkritisch zugeben, dass ein ebenso großes Hindernis darin besteht, was viele - seien es Lutheraner oder Katholiken - bei Luther über eine Ablehnung des Papsttums zu finden meinen. Doch auch hier lohnt es sich, direkt bei Luther nachzulesen und nicht einfach unreflektiert über Jahrhunderte hinweg kultivierte Fehldeutungen weiterzutragen26. Ohne Frage kam er im Laufe der Auseinandersetzung mit der römischen Kirche zu kritischen, scharfen und auch polemischen Aussagen über das Papsttum. Doch es gilt hier genau hinzuschauen und zu fragen, worin die theologischen Argumente in Luthers Kritik bestanden haben. Wo man in dieser Weise seine Schriften befragt, da zeigt sich, dass Luthers reformatorisches Wirken seine Mitte nicht (wie vielfach angenommen) im Kampf gegen das Papsttum gehabt hat und dass die Papstkritik - wie Harding Meyer, Wolfhart Pannenberg und Gunther Wenz herausgearbeitet haben - für Luther letzten Endes kein „Grundsatzurteil“ darstellte, „sondern eher ein Tatsachenurteil, das besagt: So liegen die Dinge zu meiner Zeit“ 27.
Trotz der Schärfe, mit der Luther gegen die missbräuchliche Ausübung des Papstamtes der damaligen Zeit vorgeht, verneinte er jedoch nicht die Möglichkeit eines erneuerten Papsttums, das eine legitime Aufgabe als Dienst an der sichtbaren Einheit der Christenheit hätte. Wiederholt kam er zu Aussagen, die die Möglichkeit einer Verständigung mit und über den Papst offen hielten. Selbst wenn Luther damals an einer Verwirklichung dieser Möglichkeit zweifelte, so konnte er doch sagen:
„Wir haben bis jetzt allezeit und besonders auf dem Reichstag zu Augsburg (im Jahre 1530), sehr demütig dem Papst und den Bischöfen angeboten, dass wir ihre Kirchenrechte und -gewalten nicht zerstören wollen, sondern wo sie uns nicht unchristliche Artikel aufzwingen, gern von ihnen geweiht und regiert sein wollen“ 28.
Am eindrücklichsten sind wohl die Aussagen Luthers in seinem Galaterbriefkommentar von 1531/1535. Wiederholt gibt er hier zu erkennen, dass er „die Herrschaft des Papstes gern ertragen“, ihn „ehren und ihn seiner Person halber achten (würde), wenn er mir nur mein Gewissen frei lassen wollte“ 29. Und wenig später folgen dann die erstaunlichen und von Luther doch ehrlich gemeinten Worte:
„Wenn wir das erlangen, dass anerkannt wird, Gott allein aus lauter Gnade rechtfertigt durch Christus, dann wollen wir den Papst nicht nur auf Händen tragen, sondern ihm auch die Füße küssen.“ 30
Es blieb also innerhalb der lutherischen Reformation so „etwas wie eine leise, wenn auch meist verdeckte Hoffnung auf ein im Sinne der reformatorischen Anliegen erneuertes Papsttum“ 31 bestehen. An diese von Luther und ebenso von Philipp Melanchthon grundsätzlich vertretene Auffassung haben die lutherisch/römischkatholischen Dialoge des 20. Jahrhunderts angeknüpft. Im sogenannten Malta-Bericht, dem ersten Dialog-Dokument von 1972, wurde von lutherischer Seite dem Gedanken eines „Amtes des Papstes als sichtbares Zeichen der Einheit“ deutliches Verständnis entgegengebracht, „soweit es durch theologische Reinterpretation und praktische Umstrukturierung dem Primat des Evangeliums untergeordnet wird.“ 32 Diese bewusste Anknüpfung an einen theologischen Argumentationsstrang, der sich bei Luther findet, ist für alle weiteren Dialogergebnisse kennzeichnend, an denen lutherische Kirchen beteiligt sind. So auch in dem besonders wichtigen USamerikanischen Dialogtext „Amt und universale Kirche“ (1974), in dem die theologischen Annäherungen zu der Frage führten,
„ob nicht die Zeit für eine neue Einstellung gegenüber dem Papsttum gekommen ist ,um Friedens und gemeiner Einigkeit willen‘ und noch mehr um eines vereinten Zeugnisses von Christus in der Welt willen. Unsere lutherische Lehre über die Kirche und das Amt zwingt uns zu der Überzeugung, dass eine Anerkennung des päpstlichen Primats in dem Maße möglich ist, in dem ein erneuertes Papsttum wirklich die Treue dem Evangelium gegenüber fördert und in rechter Weise eine petrinische Funktion in der Kirche ausübt.“ 33
Weitere Dialog-Dokumente wie die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ (1999), „Communio Sanctorum. Die Kirche als Gemeinschaft der Heiligen“ (2000), „Gemeinschaft der Kirche und Petrusamt“ (2010) und „Vom Konflikt zur Gemeinschaft“ (2013) vertiefen diese Sicht und stellen Ansätze für die Weiterführung des Gesprächs zur Verfügung. Wenig scheint mir gegenwärtig für die Ökumene so förderlich und verheißungsvoll zu sein, wie an diese Dialogergebnisse anzuknüpfen. Denn hier sind theologische Argumente angelegt und vorbereitet, die helfen können, um sich von der Fixierung auf das Papsttum als „Hindernis“ zu lösen und sich der neuen Situation zu öffnen, die durch die Wahl von Papst Franziskus eingetreten ist.
„Es ist Zeit für versöhnte Verschiedenheit“: Neue Impulse für die Ökumene
Von den ersten Worten an, mit denen sich Papst Franziskus am Abend des 13. März 2013 auf der Benediktionsloggia von St. Peter vorstellt, ermöglicht er qualitativ neue Erfahrungen mit dem Papstamt und setzt damit zugleich Akzente, die in den Beziehungen zwischen den Kirchen „aus dem Engpass des Gewordenen“ (Joseph Ratzinger) hinausführen können. Wie tiefgreifend die Veränderungen sind, zeigt sich daran, dass Papst Franziskus nicht nur wie seine Vorgänger dazu einlädt, ihm Vorschläge zu unterbreiten, um „eine Form der Primatsausübung zu finden, die zwar keineswegs auf das Wesentliche ihrer Sendung verzichtet, sich aber einer neuen Situation öffnet“ 34. Er erkennt vielmehr an, dass man bisher auf diesem Weg „nur wenig vorangekommen“ sei und zieht aus dieser Einsicht die Konsequenz, in der Ausübung seines Amtes neue Wege zu gehen: „Da ich berufen bin, selbst zu leben, was ich von anderen verlange, muss ich auch an eine Neuausrichtung des Papsttums denken.“ 35
Zu den Veränderungen gehört, dass Papst Franziskus seinen Primat als pastoralen Dienst versteht, dass er die kollegialen, synodalen und subsidiären Strukturen der Kirche stärker berücksichtigt, dass er legitime Vielfalt in der Kirche respektiert und fördert, dass bei ihm nicht Abgrenzung, sondern das gemeinsame Bekenntnis zu Jesus Christus im Mittelpunkt steht und dass für ihn die Ökumene wesensmäßig zum Amt des Bischofs von Rom dazugehört, wie er in seiner Predigt zum Abschluss der Gebetswoche für die Einheit der Christen am 25. Januar 2014 in der Basilika San Paolo fuori le mura erklärt hat36. In dem, wie Papst Franziskus seinen Dienst als Bischof von Rom ausübt, zeichnen sich die Konturen eines aus dem Geist des Evangeliums erneuerten Papstamtes ab.
Innerhalb kurzer Zeit ist Papst Franziskus zu einem der entscheidenden Akteure und Impulsgeber der Ökumene geworden. Sein ökumenisches Handeln ist getragen und motiviert vom Glauben an die Auferstehung Jesu. Von daher ist für ihn die Überzeugung leitend, „dass ebenso, wie der Stein vom Grab weggewälzt worden ist, auch alle Hindernisse ausgeräumt werden können, die der vollen Gemeinschaft zwischen uns noch im Wege stehen.“ 37 In diesem Vertrauen bringt Papst Franziskus sich in die Ökumene ein und erweist sich mit seinen Worten, mit seinem Handeln und seinen Gesten im wahrsten Sinne des Wortes als Pontifex - als jemand, dem es gelingt, Hindernisse aus dem Weg zu räumen und Brücken zwischen den Kirchen zu bauen. Dabei verfolgt Papst Franziskus keinen „Masterplan“ für die Einheit der Kirche, sondern weiß, dass die Einheit ein Geschenk ist, das der Heilige Geist im Unterwegssein bewirkt38. Von daher wird verständlich, warum die Begegnungen mit anderen Christen und Kirchen für Papst Franziskus einen so hohen Stellenwert besitzen:
„Sich begegnen, gegenseitig das Gesicht sehen, einander den Friedenskuss geben, füreinander beten, sind wesentliche Dimensionen auf dem Weg zur Wiederherstellung der vollen Gemeinschaft, die wir anstreben.“ 39
Papst Franziskus stellt keine Forderungen auf, die zuerst erfüllt werden müssten, damit eine ökumenische Begegnung stattfinden kann. Er empfängt beinahe täglich ökumenische Gäste im Vatikan, und er macht sich selbst auf den Weg, um andere christliche Kirchen zu besuchen, und ist dafür auch bereit, sich auf bisher unbekanntes Terrain zu begeben. Jede dieser ökumenischen Begegnungen setzt einen je eigenen Akzent, durch den die Gemeinschaft zwischen den Kirchen vertieft wird, und besitzt einen besonderen Stellenwert für die Ökumene insgesamt. Sei es die Begegnung mit dem ökumenischen Patriarchen Bartholomäus I. am 25. Mai 2014 in Jerusalem mit dem ausdrucksstarken Zeichen eines gemeinsamen Gottesdienstes in der Grabeskirche, dem Ursprungsort des christlichen Glaubens. Seien es die ersten Besuche eines Papstes in einer evangelikalen Pfingstgemeinde in Caserta am 28. Juli 2014 und in einer reformierten Waldensergemeinde in Turin am 22. Juni 2015 und den jeweils dort ausgesprochenen Vergebungsbitten. Sei es die Teilnahme an der Feier der Göttlichen Liturgie in der Patriarchatskirche St. Georg in Istanbul am 30. November 2014, bei der Papst Franziskus sich vor Patriarch Bartholomäus I. verbeugte und ihn um den Segen bat. Sei es das Treffen mit Vertretern evangelischer Gemeinschaften in der Evangelisch-Theologischen Fakultät von Bangui am 29. November 2015 oder sei es die erste Begegnung mit dem russischen Patriarchen Kyrill I. am 12. Februar 2016 im Flughafengebäude von Havanna.
Wie sich in der Ökumene gegenwärtig mit und durch Papst Franziskus neue Perspektiven auftun und substanzielle Schritte auf dem Weg zur Einheit der Christen möglich werden, das zeigt sich gleichsam exemplarisch bei seinem ersten offiziellen Besuch in einer evangelisch-lutherischen Kirche, der am 15. November 2015 in der Christuskirche Rom stattfand. Im Kleinen lassen sich hier verschiedene Faktoren benennen, die auch in anderen Kontexten zum Gelingen ökumenischer Begegnungen beitragen können. Den Ausgangspunkt bildet eine seit vielen Jahren in Rom gelebte und gefeierte Ökumene, zu deren Kennzeichen zum einen sehr vertrauensvolle und verlässliche Beziehungen gehören und zum anderen der alle Beteiligten vereinende Wille zur Ökumene, verbunden mit Wohlwollen, Großherzigkeit und einer Portion Unbekümmertheit, einfach das zu tun und zu leben, was in der Ökumene gerade möglich ist. Diese die Ökumene bejahende Grundhaltung prägte vom ersten Augenblick an die Begegnung zwischen Papst Franziskus und der lutherischen Gemeinde.
Mit viel Applaus, herzlich, fröhlich und begeistert wurde Papst Franziskus von den Gemeindemitgliedern beim Betreten der Christuskirche begrüßt, und er hat mit derselben Herzlichkeit und Nähe, die er erfahren hat, geantwortet. Ein weiterer wichtiger Faktor bestand in dem neuen Format, das für diese Begegnung entwickelt wurde. Während man bei den Besuchen von Johannes Paul II. (1983) und Benedikt XVI. (2010) gemeinsam nach der lutherischen Tradition Gottesdienst gefeiert hatte, bestand die Begegnung mit Papst Franziskus aus Dialog und Abendgebet. Das ist ein entscheidendes Novum. Erstmals in der Geschichte der Ökumene fand im Rahmen einer solchen Begegnung ein echter Dialog statt. Drei Fragen wurden dem Papst von Gemeindemitgliedern gestellt, auf die er dann im Gespräch geantwortet hat. Schon allein die Tatsache, dass ein Papst bereit ist, sich in dieser Weise befragen zu lassen, ist bemerkenswert.
Und das gilt noch viel mehr von der offenen, ehrlichen und sympathischen Weise, mit der Papst Franziskus der Gemeinde geantwortet hat, und in besonderer Weise von dem inhaltlichen Gehalt seiner Antworten. So machte er deutlich, dass er sein Papstamt in der Nachfolge Jesu als Dienst an anderen verstehe und es ihm wichtig ist, es im Stil eines Gemeindepfarrers auszuüben, der gern mit Kindern spreche, Kranke aufsuche und Gefangene besuche40. Eine ebenso überraschende Aussage für einen Papst, wie sie für Franziskus programmatisch ist!
Diese seelsorgerliche Grundhaltung prägte dann auch die Antwort, die Papst Franziskus auf die Frage gab, was zu tun sei, damit konfessionsverbindende Ehepaare gemeinsam am Abendmahl bzw. der Eucharistie teilnehmen können. Der Papst hätte sich mit einem moderaten Hinweis auf die geltende Lehre berufen und antworten können: „Ein gemeinsames Abendmahl ist zurzeit noch nicht möglich.“ Doch Franziskus nahm den Schmerz wahr, den das Getrenntsein am Tisch des Herrn für viele Christen bedeutet, und stellte sich der Herausforderung, eine überzeugende Antwort auf dieses in den bisherigen ökumenischen Dialogen noch nicht gelöste Problem zu geben. In seinem tastenden Bedenken dieser Frage nahm er vor allem auf die Verbundenheit in der einen Taufe Bezug. Wenn wir die gleiche Taufe haben und in ihrem Verständnis keine Unterschiede bestehen, dann, so folgerte Papst Franziskus, „müssen wir gemeinsam gehen“. Das Leben sei größer als die dogmatischen Interpretationen. Und dann gab er einen entscheidenden seelsorgerlichen Hinweis, der auf die Stärkung der Gewissensentscheidung jedes einzelnen Gläubigen abzielte:
„Nehmt immer auf die Taufe Bezug: ,Ein Glaube, eine Taufe, ein Herr‘, sagt uns Paulus, und von daher zieht die Schlussfolgerungen. Ich werde nie wagen, Erlaubnis zu geben, dies zu tun, denn es ist nicht meine Kompetenz. Eine Taufe, ein Herr, ein Glaube. Sprecht mit dem Herrn und geht voran.“
Mit dem Gastgeschenk eines Abendmahlskelches samt Patene, das Papst Franziskus der lutherischen Gemeinde überreichte, unterstrich er noch einmal in symbolträchtiger Weise die Bedeutung seiner Worte. Denn die Überreichung eines Kelches war bisher nur bei Besuchen von Päpsten in römisch-katholischen Diözesen als Zeichen der vorhandenen Einheit in der Eucharistie üblich. Natürlich sind mit diesem Geschenk nicht alle Differenzen im Verständnis von Abendmahl und Eucharistie überwunden. Aber das päpstliche Gastgeschenk ist ein Zeichen der Wertschätzung des lutherischen Abendmahls und ein Zeichen der Gemeinschaft, auf die die Kirchen zugehen. Die Gemeinsamkeiten im Verständnis des Herrenmahls sind für Papst Franziskus bereits so wesentlich, dass er die Frage stellte, was es bedeute,
„das Abendmahl zu teilen? Ist dies das Ende eines Weges oder Stärkung auf dem Weg, um gemeinsam voranzuschreiten?“
Auf den Dialog folgte dann ein Abendgebet, in dem Papst Franziskus in seiner Predigt das Evangelium des Sonntags, die Rede Jesu vom Weltgericht (Mt 24,31-46) auslegte und dabei Jesus als den Diener der Einheit in den Blick rückte, der den Kirchen helfe, gemeinsam voranzugehen. Denen, die trotz aller schon erreichten Gemeinsamkeiten nach wie vor darauf beharrten: „Aber, Pater, wir sind doch verschieden, weil unsere Dogmatikbücher eine Sache sagen und eure eine andere“, entgegnete Papst Franziskus, dass die Kirchenspaltung ein Skandal sei, für den Lutheraner und Katholiken einander um Verzeihung bitten müssen, und „dass es Zeit sei für die versöhnte Verschiedenheit“. Für Papst Franziskus ist dies nicht einfach eine schöne Formel, die im Übrigen für die Einheitskonzeption des Lutherischen Weltbundes grundlegend ist, sondern er lebt und praktiziert diese versöhnte Verschiedenheit. Und so beendete Papst Franziskus seine Predigt mit den Worten:
„Bitten wir heute um diese Gnade, die Gnade dieser versöhnten Verschiedenheit im Herrn, also im Knecht Jahwes, jenes Gottes, der zu uns gekommen ist, nicht um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen. Ich danke euch sehr für diese brüderliche Gastfreundschaft. Danke.“
Diese Begegnung in der lutherischen Christuskirche in Rom bedeutet einen großen Schritt auf dem gemeinsamen Weg zur Einheit! Exemplarisch wird deutlich, dass gelingende ökumenische Begegnungen von gegenseitigem Vertrauen und Wohlwollen, von Freundschaften, Dialog und Offenheit, vom gemeinsamen Hören auf das Wort Gottes und dem Gebet sowie einer Portion Unbekümmertheit leben. Zugleich hat sich hier gezeigt: Diese Faktoren, die von vielen Menschen im Alltag der ökumenischen Beziehungen vor Ort gelebt werden, prägen auch Papst Franziskus. Er ist ein entscheidender Akteur der Ökumene, der neue Wege geht und immer wieder dazu beiträgt, die Gemeinschaft zwischen den Kirchen zu vertiefen. Wo die Haltung, die für Papst Franziskus kennzeichnend ist, von den anderen Kirchen ernst genommen wird und seine Impulse beachtet werden, da eröffnen sich auf dem Weg zur Einheit der Christen weitreichende qualitativ neue Möglichkeiten, wie sie noch vor wenigen Jahren niemand für denkbar gehalten hätte.
„Andate avanti!“: Perspektiven für einen ökumenischen Aufbruch 2017
Wenn Vertreter des Lutherischen Weltbundes und Papst Franziskus am 31. Oktober 2016 im schwedischen Lund miteinander Gottesdienst feiern werden, dann ist dies ein besonders ausdrucksstarkes Zeichen versöhnter Verschiedenheit. Zugleich wird durch diesen gemeinsamen Auftakt deutlich, dass alles Gedenken an Luther und die Anfänge der Reformation vor 500 Jahren unter einem ökumenischen Vorzeichen steht und dem Ziel dient, uns heute der Einheit der Christen näher zu bringen. Im Licht der neuen Erfahrungen mit diesem Papst bietet das Reformationsgedenkjahr eine entscheidende Gelegenheit, Hindernisse, die bisher trennend zwischen den Kirchen standen, endgültig aus dem Weg zu räumen und mehr Gemeinsamkeit zu wagen.
Einen wichtigen Beitrag dazu kann die Begegnung und das Gespräch mit Martin Luther liefern. Für lutherische Christen könnte eine solche Auseinandersetzung mit Luther bedeuten, Luther nicht zu überhöhen, sondern ihn als einen „Lehrer im Glauben“ wertzuschätzen, der aber nicht der einzige „Lehrer im Glauben“ ist, sondern eine wichtige Persönlichkeit in der Geschichte des Christentums, dem wir in ähnlicher Weise wie zum Beispiel Augustinus, Franz von Assisi, Dietrich Bonhoeffer oder Alfred Delp SJ grundlegende Glaubenseinsichten verdanken und der uns als „Zeuge des Evangeliums“ in die Heilige Schrift und zu Jesus Christus hinführen will.
„Luther begegnen“ - das kann auch dazu ein Anstoß sein, sich heute von der Fixierung auf das Papsttum als „Hindernis“ zu lösen und mit Papst Franziskus, der genau das tut, was Luther von einem erneuerten Papsttum erwartete: in den Dialog über einen möglichen und sinnvollen Dienst an der Einheit der Kirche einzutreten und Lösungen für die offenen Fragen - wie die ekklesiale Notwendigkeit des päpstlichen Primates und die unfehlbare Lehrvollmacht - zu finden.
Es steht mir nicht zu, eine ähnliche Einschätzung für römisch-katholische Christen zu formulieren. Aber ich würde mir wünschen und halte das auch für gut möglich, dass sie Luther nicht übersehen oder gar als „Hindernis“ bewerten, sondern ihn als einen wichtigen „Lehrer im Glauben“ entdecken, dessen zu gedenken es sich lohnt, weil von seinen Anliegen für heutiges Christsein wesentliche Anregungen ausgehen.
Wo wir Katholiken und Lutheraner gemeinsam Luther begegnen können und uns von ihm auf Jesus Christus weisen lassen, dort haben wir eine gute und sinnvolle Perspektive für das Gedenken an den Beginn der Reformation. Da können wir Buße tun für die Verletzungen und Schmerzen, die durch die Trennung der Kirchen entstanden sind. Da können wir mit Freude und Dankbarkeit die geistlichen Impulse wahrnehmen, die beiden Kirchen geholfen haben, sich zu erneuern. Da kann das Evangelium gefeiert und an die Menschen unserer Zeit weitergegeben werden.
Wo wir dies als „Zeugen des Evangeliums“ gemeinsam tun, dort kann neu deutlich werden, dass Jesus Christus nicht zerteilt ist, sondern eins (1 Kor 1,13). Da geben wir uns mit dem bisher erreichten Stand der Ökumene nicht zufrieden, sondern tun mutig weitere Schritte hin auf die ersehnte und erhoffte Einheit der Kirche. Wo wir in Luther einen gemeinsamen „Lehrer im Glauben“ sehen und der Papst sein Amt evangeliumsgemäß versieht, dort braucht es nicht mehr viel. Da steht der Weg zur Einheit weit offen:
„Schieben wir“ darum, so ermutigt uns Papst Franziskus, „die Zaudereien, die wir von der Vergangenheit geerbt haben beiseite und öffnen wir unser Herz dem Wirken des Heiligen Geistes, dem Geist der Liebe (Röm 5,5), um gemeinsam mit raschen Schritten dem segensreichen Tag unserer wiedergefundenen vollen Gemeinschaft entgegenzugehen.“ 41
Beste Aussichten also für das Jahr 2017!