„Wir müssen so sein, dass die anderen unsere Anwesenheit wünschen“: Mit „wir“ meinte Frans van der Lugt SJ die Christen als Minderheit im Nahen Osten, speziell in Syrien, wo er lebte, mit „die anderen“ die muslimische Mehrheit der Schiiten und Sunniten. Diese Ansicht vertrat er im November 2010 vor den Direktoren des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes (JRS), als eine formelle JRS-Region Naher Osten errichtet wurde.
Niemand ahnte damals, dass ein Jahr später in Syrien ein Krieg beginnen würde, der bis heute andauert. Der 76-jährige niederländische Jesuit fiel diesem Krieg am 7. April 2014 zum Opfer, als er in der belagerten, völlig zerstörten Altstadt von Homs, zusammen mit fünfzig Menschen, im Haus der Jesuiten ausharrte. Bis heute sind seine Mörder unbekannt. Von offizieller Seite spricht man von einer islamistischen Splittergruppe unter den Rebellen. Frans van der Lugt lebte bis zum Tod, was er uns gesagt hatte. Alle mochten ihn. Es kommen nicht nur Christen, sondern auch viele Muslime an sein Grab in Homs. Oft haben wir über die Rolle der Christen in Syrien und im Nahen Osten diskutiert. Innerhalb des JRS waren wir uns nicht immer einig darüber, ob es kirchliche Hilfe in erster Linie für die eigene Gemeinde, dann für die anderen Kirchen und erst dann für die Muslime geben sollte. Aber Muslime waren mehrheitlich vom Krieg betroffen, in absoluten Zahlen wie auch als Sunniten.
Am Anfang des Syrien-Krieges waren Christen noch keine Zielscheibe. Ihre Verfolgung begann erst mit den islamistischen Gruppen El Nusra und vor allem mit dem IS. Unter dem Assad-Regime konnten sich die Kirchen als Minderheit sicherer fühlen als unter einer sunnitischen Mehrheitsregierung. Dahinter steht die Erfahrung des Irak: Unter Saddam Hussein blieben Christen unbehelligt. Minderheitsregime wie die Alawiten unter Baschar al-Assad und die Sunniten im Irak brauchen andere Minderheiten, um ihre politische Basis zu stärken. Das zeigt, wie komplex und gleichzeitig wie verwundbar die Existenz der Christen dort ist. Die Sorge, dass der Nahe Osten zu einer „christenfreien Zone“ (Erzbischof Ludwig Schick) wird, ist sehr groß.
In absoluten Zahlen wird der Nahe Osten seit mehreren Jahrzehnten dramatisch und drastisch entchristlicht: Im Irak lebten unter Saddam Hussein 1,3 Millionen Christen, heute sind es weniger als 300 000. Mit der Vertreibung und der Verfolgung der verbliebenen Christen aus der Ninive-Ebene und Mossul beschleunigt sich dieser Rückgang. Im Libanon, wo der Anteil der Christen am höchsten war, sind es jetzt nur noch dreißig Prozent. Die junge Generation wandert ab, sie sieht für sich einfach keine Zukunft mehr. In Syrien sind es sehr viel weniger Christen.
Weniger bekannt ist: Durch den Zuzug als Fremdarbeiter oder Hausbedienstete gelangen viele Christen aus den Philippinen, Sri Lanka oder Indien in die Golfstaaten. Die Kindermädchen von vielen reichen Saudis sind Christen. Natürlich ist christliche Präsenz durch Zuwanderung, die teils auf einige Jahre begrenzt ist, nicht vergleichbar mit der Präsenz eingewurzelter christlichen Kirchen, die eine Tradition von fast 2000 Jahren vorweisen. Diese Wurzeln wurden geschwächt: ein großer kultureller Verlust für den Nahen Osten, ganz abgesehen von der Zerstörung von bis zu 5000 Jahre alten Kulturdenkmälern.
Andererseits bleiben manche Christen. In Erbil wuchs in den letzten Jahren ein völlig neuer Stadtteil, Ankawa, wo sich vertriebene Flüchtlinge ansiedeln und Kirchen bauen. Die Ortskirche kümmert sich um Flüchtlinge, aber auch um Jesiden, auf eine Art und Weise, die ich während meiner achtjährigen Tätigkeit im JRS weltweit selten gesehen habe. Es ist ein vitales Christentum. Die Größe der Madonnenstatue am Eingang von Ankawa wächst mit der Zahl der neu angesiedelten Christen. Eine kleinere Statue hat man durch eine größere ersetzt.
Die Anwesenheit von Christen, deren Verhalten so einladend war, dass sie zum Bleiben aufgefordert werden, war Frans van der Lugt wichtig. Christen im Nahen Osten spielen nach wie vor eine bescheidene, aber nicht zu unterschätzende Rolle: vor allem wegen der anerkannten Schulen, die von vielen muslimischen Kindern besucht werden. Dort werden das Zusammenleben, Toleranz und gegenseitiger Respekt gelernt, dort werden dem verbohrten Extremismus durch Wissen und kritisches Denken Grenzen gesetzt. Hier muss noch viel mehr investiert werden, um eine neue friedliche Gesellschaft aufzubauen.
Einzigartig am Christentum ist die Gabe zu vergeben. In einem Umfeld, das seit Jahrhunderten von Gewalt und Gegengewalt geprägt ist, durchbricht das Christentum mit der Botschaft und der Praxis des Vergebens die Konfliktspirale zwischen muslimischen Fraktionen, Muslimen und Juden. Diese Botschaft wird im Nachkriegs-Syrien mehr als je zuvor gebraucht. Christen spielen auch eine politische Rolle - nicht durch fragwürdige Allianzen mit Diktatoren, sondern als Minderheit, die keine politische Bedrohung darstellt, weil sie keine Machtpolitik betreiben kann. Im Libanon stehen Christen für ein gewisses Gleichgewicht zwischen der schiitischen Hisbollah und den Sunniten. Und da ist schließlich das karitative Engagement der Christen: Das Netzwerk der Kirchen versorgt Hundertausende Menschen mit Lebensmitteln. Im Moment verschiebt sich der Akzent auf Bildung. Für ein neues Syrien ist das der Schlüssel.
Eines ist klar: Es wird nie mehr so sein, wie es war. Die Zahl der Christen wird weiter abnehmen. Manche Traditionen gehen verloren. Aber Christen werden bei der Neugestaltung des Nahen Ostens, nach dem Ende des Syrien-Kriegs und dem IS, unbedingt gebraucht. Sie werden ökumenischer sein. Wenn einmal ein offener Naher Osten existiert, dann wird es auch wieder alte Nahost-Christen geben, die in ihre Heimat zurückkehren, dort leben und arbeiten. Wichtiger als auf Zahlen und Traditionen zu schauen ist es, den Auftrag von Christen zu sehen: Bildung, Offenheit, Caritas, die Werke der Barmherzigkeit.