„Ich habe den Tod schon hinter mir, denn ich müsste nach menschlichem Ermessen schon dreimal tot sein. Warum sollte ich Angst vor meinem Tod haben?“ – So antwortet Jürgen Moltmann dem Journalisten Eckart Löhr in einem kurzweilig zu lesenden Interviewbändchen, das anlässlich des neunzigsten Geburtstages des reformierten Theologen erschienen ist1, und er fährt fort: „Der Sterbeprozess mag unangenehm oder schmerzhaft sein, das weiß ich nicht. Aber, um es mit dem Atheisten Ernst Bloch zu sagen: Ich bin neugierig. Und ich hoffe, ich weiß, was kommt, obwohl es eine große Überraschung sein wird. Insofern denke ich über den Tod hinaus und nicht bis zum Tod.“ (109)
Knapper hätte Moltmann sein gesamtes OEuvre nicht auf den Punkt bringen können. Wie kaum ein anderer Theologe seiner Generation hatte er Mut zur theologischen Spekulation, dachte „über den Tod hinaus“, deutete den Kreuzestod Jesu als innertrinitarisches Ereignis, in welchem Gott nach Gott schreit und Gott an Gott stirbt. Sein katholischer Freund Johann Baptist Metz und Mit- Pionier bei der Entwicklung einer Neuen Politischen Theologie neckte Moltmann gelegentlich mit der Frage: „Jürgen, wie kommt es, dass du das alles weißt?“ Moltmann fragte ungerührt zurück: „Baptist, wie kommt es, dass du das alles nicht weißt?“ Denn man müsse doch einfach sehen, dass beispielsweise das Axiom, wonach Gott den Leiden der Menschen teilnahmslos gegenüberstehe, Gott zu einem unvollkommenen Wesen mache: „Wer aber nicht leiden kann, kann auch nicht lieben.“2
Nicht um ein erspekuliertes vermeintliches Wissen über Gott zu gewinnen, wagte Moltmann so zu denken, sondern um der Hoffnung willen – der Hoffnung für diese von Auschwitz erschütterte Welt. Seine lebensgesättigte „Theologie der Hoffnung“3, mit der er 38-jährig Theologiegeschichte schrieb, veröffentlichte er im Oktober 1964 – jener Zeit, als die Beatles, der Vietnamkrieg und die US-amerikanische Bürgerrechtsbewegung Thema waren, Jean-Paul Sartre den Literaturnobelpreis ablehnte, Willy Brandt SPD-Vorsitzender wurde und Lyndon B. Johnson den „Civil Rights Act“ unterzeichnete, das Bürgerrechtsgesetz zur Aufhebung der Rassentrennung in den Vereinigten Staaten. Diese und andere Informationen ruft Eckart Löhr in seiner Einführung „Jürgen Moltmann – Theologe der Hoffnung“ (11-27) in Erinnerung, mit welcher er dessen Werk kontextualisiert.
Dass die englische Übersetzung „Theology of Hope“ von 1967 – „es ist beinahe so, als hätte diese Zeit, als hätten die Menschen innerhalb und außerhalb der Kirche auf dieses Buch gewartet“ (12) – zur Sensation geriet und Moltmann nach Artikeln in der New York Times, Newsweek oder Los Angeles Times internationale Reputation einbrachte, dürfte vielen heute kaum noch geläufig sein, genauso wie die SPIEGEL-Bemerkung vom Januar 1968: „Moltmann propagiert darin ein umstürzlerisches, gesellschaftsänderndes – wie er sagt: ursprüngliches – Christentum und offeriert damit Christen und Kirchen eine Theologie, die zu aktiven, ja aggressiven Auseinandersetzungen mit der politischen Umwelt ermächtigt und anfeuert.“ (11 f.)
In die Wiege gelegt war diese Aufmerksamkeit dem in einem säkularen Elternhaus Aufgewachsenen gerade nicht – abgesehen davon, dass er das „erste schwarze Schaf meiner aufgeklärten Familie“ (32) war, auch wenn er zuerst Mathematik und Physik studieren wollte, um wie sein Vater Lehrer zu werden. Doch die Erfahrung des Krieges und die drei jährige englische Kriegsgefangenschaft (vgl. 15, 69) hatten sich ihm zu stark eingeprägt. Ähnlich wie Metz fragte er sich, warum er, anders als ein neben ihm stehender Freund, 1943 einen Bombenangriff in Hamburg überlebt habe und was der Feuersturm, bei dem 30 000 bis 40 000 Menschen verbrannt sind, bedeute: „Warum bin ich nicht tot wie die anderen? Warum soll ich leben?“ (32)
Dass er mit seiner Frau, Elisabeth Moltmann- Wendel, die er 1949 in Kopenhagen kennenlernte, mehrere Anträge auf Zuzug in die DDR stellte, die aber alle abgelehnt wurden, ist der heutigen Theologengeneration wahrscheinlich genauso wenig bekannt wie die nicht ergriffene Möglichkeit der Auswanderung in die USA (vgl. 45) oder der heimliche Wunsch, Engländer zu werden (vgl. 109). Bekannter ist die theologische Prägung durch Hans Joachim Iwand, über den er Luthers Kreuzestheologie rezipierte, oder die Begegnung mit Ernst Bloch während der Wuppertaler Zeit: „Ich wollte Ernst Blochs Prinzip Hoffnung nicht nachahmen“, zitiert ihn Löhr aus dem Vorwort zur Neuauflage der „Theologie der Hoffnung“ von 2005. „Ich wollte es auch nicht ,taufen‘, wie Karl Barth in Basel damals argwöhnte. Ich wollte eine Parallelhandlung in der Theologie auf den theologischen Voraussetzungen von Juden und Christen.“ (17)
Die deutsche Wiedervereinigung ist für Moltmann genauso ein Wunder wie das Ende der Apartheid mit der Präsidentschaft von Nelson Mandela: „Wer nicht auf Wunder hofft und sich überraschen lässt, ist kein Realist.“ Der springende Punkt ist, dass Moltmann die Ereignisse des Jahres 1989 nicht als „Wahnsinn!“ bezeichnet: „Das ist das deutsche Wort für Wunder“ (38). Selbst im Gespräch mit Atheisten machte er die Erfahrung: „Und nach dem ersten Glas Wein haben sie alle theologische Fragen gestellt. Ich habe diese Atheisten, die aus Protest gegen Gott Atheisten waren, geliebt.“ (39)
Aus der Religion ist in den Augen Moltmanns in Deutschland „eine Harmlosigkeit“ (40) geworden – ein Vorwurf, den er beiden großen Kirchen macht: „Der katholischen bis Benedikt XVI. Der jetzige Papst Franziskus ist nicht mehr harmlos.“ (41) Schärfer geht er mit der eigenen Kirche ins Gericht: „Die evangelische Kirche geht nach meiner Überzeugung an ihrer eigenen Harmlosigkeit zugrunde. Ein Glaube, der nichts fordert, tröstet auch nicht.“ (41) Von Helmut Schmidt hätte die Kirche lernen können, dass es keinen deutschen moralischen Imperalismus geben dürfe (vgl. 42). „1968“ hat ihm politisch die Augen geöffnet, nach einer Denunziation war seine „Theologie der Hoffnung“ in der DDR fast zehn Jahre verboten: eine damnatio memoriae in voller Breite!
Amerika und Korea mit dem dort boomenden Christentum, aber auch Minderheitenkirchen in Afrika imponieren Moltmann (vgl. 49-52). Korea und Nicaragua, wo er eine Universität aufbauen half, liebt er sogar, den Islam sieht er differenziert („Das Problem ist Saudi-Arabien“: 53-55), ökologische Fragen treiben ihn um wie „mein[en] Freund Leonardo Boff“ (58), Moltmann wirbt auch für die Würde von Tieren. Auf den Einwand des Patripassianismus von Karl Rahner SJ geht er ebenso ein (vgl. 67 f.) wie auf Bloch und Nietzsche. Helmut Schmidts Bemerkung, mit der Bergpredigt könne man keinen Staat regieren (vgl. 76), reizt ihn immer noch zum Widerspruch. Die Bologna-Reform und die Verschulung der Universitäten finden das eindeutige Verdikt des Tübinger Professors: „Ja, es gibt keine Vorlesungen mehr, es gibt nur noch Kurse. Da muss man sich einschreiben und Punkte machen.“ (76 f.) Im Gefolge Barths und Tillichs befindet er: „Wenn die Theologie nur eine Funktion der Universität ist, verwandelt sie sich in Religionswissenschaft.“ (77)
Nicht sehr rosig sieht Moltmann den Zustand der Ökumene; ihr fehlten Persönlich keiten wie Philip Potter oder Konrad Raiser. Die Arbeitsgemeinschaft der beiden Tübinger Fakultäten sei mit den jeweiligen Nachfolgern „zugrunde gegangen. Päpste zitieren nur Päpste und Katholiken zitieren nur katholische Theologen und Protestanten nur protestantische Theologen. Es ist ein Rückzug auf die eigene verblichene Identität. Das ist traurig und ich hoffe, dass es noch mal zu einem ökumenischen Aufbruch kommt, aber der kommt sicher nicht aus Europa oder Amerika, sondern aus den Minderheitenkirchen der Dritten Welt.“ (108)
In den „Stimmen der Zeit“ veröffentlichte Jürgen Moltmann fünf Beiträge, zuletzt zusammen mit seiner Frau einen Dialogvortrag über die Auferstehung des Fleisches auf dem 60. Jahrestreffen der Catholic Theological Society of America in Saint Louis, Missouri4. Zeitlebens war Jürgen Moltmann wissbegierig und neugierig. Die Neugierde ist ihm bis heute geblieben. Sie hat ihn unzählige Reisen unternehmen lassen, lebenslang, eine davon, nach El Salvador, ist schon in „Erfahrungen theologischen Denkens“ von 1999 erwähnt (neu aufgelegt in der Werkausgabe). 1994 ist er, der Befreiungstheologie und Jon Sobrino SJ (über die Zeitschrift „Concilium“) verbunden, an die Jesuitenuniversität UCA in San Salvador gereist („meine Pilgerfahrt“ 5), wo im November 1989 sechs Jesuiten und zwei in ihrer Kommunität tätige Frauen von einem Armeekommando ermordet worden waren. Im Blut einer der völlig verstümmelten Leichen, der von Juan Ramon Moreno SJ, lag das Buch: „El Dios Crucificado“, die spanische Übersetzung von „Der gekreuzigte Gott“ – auch im entsprechenden Kapitel des autobiografischen Buchs „Weiter Raum“6 geschildert.
Man muss kein großer Prophet sein: Jürgen Moltmanns Werk wird Bestand haben, nicht nur als eine unüberhörbare Stimme der Theologie des 20. Jahrhunderts, sondern weit darüber hinaus. Er ist einer der meistübersetzten deutschen Theologen der Gegenwart; für die Theologie im angelsächsischen Raum sind etliche seiner Bücher wichtige Referenzwerke, ebenso in Lateinamerika und Asien. Und junge Theologen der ex-jugoslawischen Länder finden in seinem „Gekreuzigten Gott“ wichtige Inspirationen für theologische Neuanfänge nach den Kriegen der 1990er-Jahre.
Im deutschsprachigen Raum war der runde Geburtstag für die Stuttgarter Zeitung Anlass zum Interview mit dem Hochbetagten; das Schwäbische Tagblatt übersah den Tag nicht, der Frankfurter Allgemeinen Zeitung war er immerhin einen Balken wert7. Der EKDVorsitzende, Landesbischof Heinrich Bedford- Strohm, würdigte sein Lebenswerk mit einem Brief und hielt auf einem von der Bremischen Evangelischen Kirche veranstalteten „Fest der Freundschaft“ vom 15. bis 17. April die Laudatio8.
Zum Weiterdenken mit Jürgen Moltmann dürfte schließlich auch eine neunbändige, kostengünstige Werkausgabe sorgen, die das Gütersloher Verlagshaus zum Neunzigsten dankenswerterweise herausgebracht hat – ein Monument des Suchens und Denkens eines großen, streitbaren Theologen, der immer auch über den konfessionellen Tellerrand geschaut hat9. Die allerletzten Sätze im Gespräch mit Eckart Löhr wirken fast schon wie ein selbst verfasster Nachruf. Sie sind indirekt ein Bekenntnis: „Ich habe gelebt, 90 Jahre, dafür bin ich dankbar und ich könnte jederzeit abtreten. Ich bin bereit.“ (109)