Wenn wir von „Mutterliebe“ sprechen, meinen wir üblicherweise etwas anderes als die Liebe einer konkreten Mutter zu ihrem Kind. Denn „Mutterliebe“ ist ein Topos, ein spezifisches kulturelles Deutungsmuster, das nicht nur idealisiert und romantisiert wird (etwa in der Werbung), sondern auch normativ aufgeladen ist – d. h. es ist wertend und fordernd. Und es ist auch durchaus ambivalent – denn die „gute Mutter“ birgt in sich immer auch das Gegenbild: den „Schatten der Liebe“ (Mergner et al. 1989, 20), die „schlechte“ Mutter, die „böse“ Hexe, die Stiefmutter des Märchens, die ungerecht und lieblos ist, die ihre Kinder tötet und verschlingt oder kocht und dem Vater vorsetzt (wie im Märchen „Machandelboom“). Die Beschwörung der „guten“ Mutterliebe ist also auch Angstabwehr gegen die Gefahren, die die Abhängigkeit von anderen mit sich bringt.
Auch der Ausdruck „Mütterlichkeit“ als Kennzeichnung einer spezifischen Haltung oder „Fähigkeit“, bzw. „mütterlich“ als qualifizierende Beschreibung einer Handlung, einer Geste der Zuwendung, ist nicht daran gebunden, ob die ein als „mütterlich“ klassifiziertes Verhalten zeigende Person tatsächlich eine Mutter ist. Der Ausdruck ist überpersönlich und beschreibt eher ein helfend-sorgendes Handeln, das auch einen Anteil von Altruismus einschließt.
Beide Wörter haben aber neben normativen und klassifizierenden Aspekten auch eine psychologische Dimension, die ihrerseits vielschichtig und ambivalent ist. Ich werde im Folgenden aus drei unterschiedlichen Perspektiven auf den Begriff und seinen Bedeutungsumfang blicken und seine begriffsgeschichtliche, seine gesellschaftliche und seine individuell-psychologische Dimension beleuchten. Dabei interessiert mich insbesondere auch die Verbindung zwischen Mütterlichkeit und der gesellschaftlichen Position von Frauen.
Wovon ist also die Rede, wenn es um Mütterlichkeit geht – und was hat diese mit Frauen und Männern oder gar einer spezifischen „Fähigkeit“ oder „Eignung“ zu tun? Blicken wir zuerst in die Geschichte. Mütterlichkeit als beschreibbare und positiv bewertete Haltung setzt erstens voraus, dass es einen Begriff von Kindlichkeit gibt und die Vorstellung einer speziellen Beziehung zwischen Mutter und Kind; und zweitens, dass diese Beziehung in spezifischer Weise bewertet wird.
Diese Formulierung verweist nicht zuletzt auch darauf, dass der Topos „Mutterliebe“, wie jedes Sprachbild, immer nur im jeweiligen kulturellen und historischen Kontext verstanden werden kann – er ist veränderlich und wird von vielen Faktoren beeinflusst: von der Gesellschaftsordnung, der Staats- und Rechtsform einer Gesellschaft, von der Religion und von dem jeweils herrschenden Menschenbild mit seinen Geschlechtervorstellungen. Aber als zentraler Baustein von Gesellschaftsund Geschlechterbildern behält er eine große persistente Wirkung, auch wenn die gesellschaftlichen Bedingungen sich ändern. Meine Überlegungen konzentrieren sich folglich auf den deutschsprachigen Raum seit der Entstehung der Bürgerlichen Gesellschaft. Gesellschaften, die etwa den Wert einer Frau an die Tatsache ihrer Sohnes-Mutterschaft binden (vgl. Lacoste-Dujardin 1990), oder solche, in denen die Vaterschaft keine Rolle spielt, entwickeln sicherlich andere Vorstellungen von „Mütterlichkeit“ als die unsrige. Universell ist nur die Tatsache, dass alle Gesellschaften Formen der Sorge hervorbringen, die auf die Bedürftigkeit und Angewiesenheit von Kindern antworten.
Geschichtliche Hintergründe
Wie wir aus historischen Quellen wissen, ist die Vorstellung einer Einzigartigkeit der Mutter-Kind-Beziehung eine historisch recht junge Erfindung – ja, der Ausdruck „Erfindung“ ist durchaus gerechtfertigt, wie sich zeigen wird. Bis ins 18. Jahrhundert hinein war die übliche Lebensform in Europa das sogenannte „Ganze Haus“, der Haushalt der Eheleute, der auch diverse andere Verwandte und Gesindeleute umfasste, und dessen Oberhaupt der Vater war, dem „weib und kind, knecht und magd, vieh und futter“ unterstanden (Koselleck 2006, 470). Es gab folglich keine Vorstellung einer Klein- und Kernfamilie aus Vater, Mutter und leiblichen Kindern, auch nicht in der Rechtsprechung. Reinhard Koselleck schreibt sogar, dass es in der deutschen Sprache noch nicht einmal ein Wort für „Familie“ gegeben habe (ebd. 469). Erst die Veränderungen, die durch Aufklärung, Industrialisierung und die Herausbildung der bürgerlichen Gesellschaft in Gang gesetzt wurden, machten eine Veränderung der Rechtsprechung notwendig. Entsprechend erwartete man auch weder eine spezifische Liebe der Eltern zum Kind, noch umgekehrt.
Neugeborene Kinder wurden bis ins 17. und 18. Jahrhundert hinein üblicherweise einer Amme übergeben, oftmals sogar in Pflege außerhalb des Hauses (Badinter 1981). Ein Grund dafür mag in der Annahme gelegen haben, so Brigitte Niestroj, dass die Muttermilch die Gebärfähigkeit der stillenden Frau beeinträchtigen würde – angesichts der langen Stillzeiten hätte das Stillen die mögliche Kinderzahl stark eingeschränkt. Dies jedoch war angesichts der Abhängigkeit älterer Menschen von der Versorgung durch ihre Kinder und der hohen Kindersterblichkeit ein soziales Risiko (Niestroj 1985, 43).
Schon diese Praxis ließ die Vorstellung einer spezifischen Art von Mutterliebe nicht entstehen. Philipp von Novara (1195-1265), Chronist des 13. Jahrhunderts, macht folglich gar keine relevante Unterscheidung zwischen der Liebe eines Kindes zur Mutter oder zu anderen versorgenden Menschen, wenn er schreibt, es gebe drei Arten der menschlichen Liebe: die des Kindes zu derjenigen Frau, deren Milch es trinkt und die es folglich nährt; zweitens zu denjenigen Menschen, die es umgeben und freundlich zu ihm sind; und drittens die Liebe der Erwachsenen zu den Kindern (vgl. Niestroj 1985, 39). Auf vielen bildlichen Darstellungen geselligen Lebens aus dem 17. und 18. Jahrhundert sind Ammen und Kinderfrauen abgebildet, die Säuglinge und Kleinkinder versorgen und beaufsichtigen.
Bis hierher wäre es völlig unangemessen, von einer speziellen, kulturell und gesellschaftlich bewerteten Form der „Mutterliebe“ der Mutter zum Kind oder des Kindes zur Mutter zu sprechen. Dies ändert sich erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts, als sich eine „Revolution der Einstellungen“ (Badinter 1981, 113) vollzieht. Auch dieser Wandel hat nicht in erster Linie mit der „Entdeckung“ des Gefühls der Liebe zum Kind zu tun, sondern mit der historisch notwendig gewordenen Selbstvergewisserung der sich neu konstituierenden bürgerlichen Gesellschaft, und damit, dass Kinder stärker als allgemeine gesellschaftlich-ökonomische Ressource gesehen wurden, in die „vernünftig“ investiert werden müsse. Diese Vorstellung passte zugleich sehr gut zu der starken Tendenz der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft, die Frauen auf den häuslichen Raum des Privaten zu beschränken. Es erscheinen nun unzählige Ratgeber, die Müttern erläutern, wie sie „richtig“ mit ihren Kindern umgehen sollten – darin dominiert nicht die Vorstellung von Liebe, sondern von Disziplin und Disziplinierung. Mutterschaft und Mütterlichkeit werden zu einer gesellschaftlichen Pflicht, die der Kontrolle der Gesellschaft unterliegt, denn „die Disziplinierung der Kinder bedarf der Disziplinierung der Mütter“ (Eden 1989, 35).
Selbst das Sprechenlernen wird zu einer Pflichtaufgabe im Sinne der sich neu formierenden Gesellschaft: So werden die Mütter angehalten, „die Wörter so auszusprechen, wie die Sprache will, dass sie allgemein ausgesprochen werden sollen“, denn die Sprache sei „zugleich das Nationalmittel, alle verschiedenen Mundarten nach und nach zu verdrängen und eine ganz reine Aussprache an deren Stelle allenthalben zu verbreiten“ (so der Ratgeber von Heinrich Stephani aus dem Jahr 1802, zit. nach: Kittler 1995, 46). Es ist nicht die liebende, sondern die „unterweisende Mutter“ (ebd. 36), die hier erfunden wird. So heißt es in einem bekannten Ratgeber als Erläuterung zu einem dort abgedruckten Bild einer Mutter, die ihre Kinder lehrt: Zeigen Sie Ihren Kindern „das Bild vor, wenn sie das Lesen bei Ihnen erlernt haben, um sie im Gespräche darauf zu führen, wie lieb diese Kinder ihre Mutter hatten, weil sie die Mühe über sich nahm, ihnen das Lesen zu lehren; und wie gern diese Mutter ihre Kinder unterrichtete, weil diese es fühlten, dass sie ihr dieses Unterrichtes wegen doppelte Liebe schuldig waren“ (zit. nach: ebd. 65). Auf den Begriff der „Schuldigkeit“ wird noch einzugehen sein.
Gerade die Liebe und ihr möglicher Entzug sollen in der entstehenden Pädagogik als Mittel zur Erzwingung von Wohlverhalten des Kindes genutzt werden. Zwar wird die Elternbeziehung hier schon als etwas „Besonderes“ dargestellt, aber zugleich erscheint sie als ein Zwangsverhältnis, das Kind und Mutter gleichermaßen in ein System von Pflicht, Schuld und Strafe einbindet. Erst ein weiterer revolutionärer Schub führt um die Mitte des 19. Jahrhunderts dazu, dass die Betonung der Pflicht und Aufgabe der Mütter, Kinder zu bekommen, zu erziehen und zu lehren, umschlägt in die Vorstellung, dass dies ihre von der Gesellschaft erwartete Rolle sei, für die sie von der Natur auf ganz besondere Weise ausgestattet worden sei – die „Aufgabe“ der Mutter schlägt um in eine „Charakterdefinition“ (Schütze 1991, 23). So heißt es etwa bei Pestalozzi:
„Ich möchte sagen: die Mutter ist befähigt, und zwar von ihrem Schöpfer selbst befähigt, die wichtigste Triebkraft in der Entwicklung des Kindes zu werden. Der glühendste Wunsch für sein Wohlergehen ist schon in ihr Herz eingepflanzt […] die sanfteste und zugleich unerschrockenste Kraft in der ganzen Naturordnung“ (zit. nach: Speck 2014, 41).
Nun erst lässt sich von einem Konzept von „Mutterliebe“ sprechen, das in ein geschlossenes Begründungssystem eingebettet ist.
Diese historische Phase, die sogenannte „Sattelzeit“ vor und nach der Wende zum 19. Jahrhundert, ist auch für die Ausformulierung der Verhältnisse der Geschlechter zueinander und zu Gesellschaft und Staat höchst interessant und folgenreich. Gerade weil sich die Gesellschaft in einem sehr grundlegenden Umbruch befand, mussten sich die Staats- und Gesellschaftstheorien mit der Ordnung der Geschlechterverhältnisse befassen – kein zeitgenössischer Philosoph oder Staatstheoretiker, für den das nicht ein zentrales Thema gewesen wäre.
Für unsere Fragestellung ist vor allem interessant, wie die ungleiche Position von Frauen gegenüber Männern begründet wurde. So leicht, wie in der vorvergangenen Zeit, die mit Konvention und Gewohnheit argumentierte, konnten es sich die Philosophen und Pädagogen des 19. Jahrhunderts nicht mehr machen. Philosophen betonen denn auch durchweg, dass die Geschlechter gleichwertig seien, und sie leiten die unterschiedliche Rechtslage von Frauen nicht schlicht aus der Natur ab, sondern aus den Wirkungen, die die gesellschaftliche Position von Frauen auf die Entwicklung ihres Geistes hat. Dabei werden jedoch zwei gegensätzliche, alternative Räume, ja Lebensformen erzeugt (die sogenannten „separate spheres“), die als vergeschlechtlichte jeweils Männern und Frauen zugeordnet werden. So schreibt Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831), der Geist der Familie und des göttlichen Gesetzes werde durch die Frau repräsentiert, der Geist des Staates und des menschlichen Gesetzes durch den Mann. Der Unterschied der Geschlechter ist hier also nicht als natürliche Unterscheidung definiert, sondern als sittliche; beide sind und bleiben aufeinander bezogen, dennoch sind die Positionen strikt und grundsätzlich voneinander getrennt (Bockenheimer 2012).
Auch Friedrich Schleiermacher (1768-1834) betont immer wieder, dass nicht „ein Geschlecht besser oder schlechter als das andere“ sei (Schleiermacher 1820/1996, 935), aber der (letztlich doch in der Geschlechtsnatur begründete) Unterschied zwischen Aufnehmen (Empfängnis) und aktiver Aneignung (Zeugung) führt in seiner Argumentation letztlich doch dazu, dass der weibliche Geist als empfindsam und spekulativ charakterisiert wird. Während die Männer „zur Gemeinschaft geboren“ sind und sich in Kontakt und Kooperation (und Konkurrenz) mit den anderen Männern entwickeln, bleiben die Frauen immer und notwendigerweise auf ihr Gefühl beschränkt, und ihre Wirksamkeit begrenzt sich „auf das einzelne, das in ihrem Kreise liegt“ (Schleiermacher 1917/1967, 57).
Die zeitgenössischen Pädagogen sind weniger vorsichtig und differenziert. Zwar gehen auch sie davon aus, dass die Geschlechter beide einen Wert haben, doch argumentieren sie sehr viel unbefangener mit vermeintlichen natürlichen Gegebenheiten: Angefangen von Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) über die Philanthropen bis zur Geisteswissenschaftlichen Pädagogik wird Frauen die Verantwortung für die kleinen Kinder und die Mädchen zugeordnet und diese scheinbar logisch aus Natur und Schöpfung abgeleitet. Verstärkt wird diese Tendenz durch die romantischen Dichter, die die Selbstlosigkeit, die Aufopferung der Mutter und ihre bedingungslose Liebe überhöhen:
„Das Mutterglück macht überreich / Ob hoch, ob nieder, das ist gleich / Es ist die Lieb’, die immer gibt / Die ohne jede Grenze liebt / Die selbstlos Gut und Leben schenkt / Und nimmer an sich selber denkt“ (Konrad Dreher, zit. nach: Mergner et al. 1989, 42).
Nur vor diesem Hintergrund, der Forderung nach Selbstlosigkeit, konnte der Ausdruck „Rabenmutter“ entstehen, der jede außerfamiliale, die Verfügbarkeit in Frage stellende Orientierung von Müttern als egoistisch erscheinen lässt.
Die dabei durchaus mitschwingenden Ambivalenzen werden jedoch verborgen. So heißt es etwa in Clemens Brentanos Gedicht „O Mutter halte Dein Kindlein warm“: „So lallt zu dir ein frommes Herz / Und nimmer lernt es sprechen“ – das heißt, es bleibt in Abhängigkeit gebunden an die Mutter. Auch im Volksliedgut und in den Märchen ist die Ambivalenz von Halten und Festhalten sehr deutlich: So kehrt „Hänschen klein“ eben nach Hause zurück, weil die Mutter „weinet“, und nicht, weil es der Welt noch nicht gewachsen ist. Die angstmachende Seite der Mutter zieht sich dezent durch viele Märchen und Geschichten, doch die Pädagogik und der allgemeine Diskurs des 19. Jahrhunderts betonen nur die romantisch-ideale Seite der Mutterliebe, die sie zugleich von den Müttern fordern. Da die derart überhöhten Anforderungen an die Selbstlosigkeit und uneingeschränkte Liebe der Mutter notwendigerweise den Eindruck von Unzulänglichkeit der je einzelnen Mutter und bei den Müttern dro hende Gefühle des Versagens nach sich ziehen, wird die „Schuld der Mütter“ von da an zu einem zentralen Topos in Pädagogik und Psychologie.
Vor diesem Hintergrund etabliert sich im 19. Jahrhundert die Vorstellung, dass Frauen, weil sich ihr Leben im Haus abspielt, andere Beziehungsqualitäten ausbilden würden als Männer, und das wiederum führt zu der auch heute verbreiteten, fast selbstverständlichen Vorstellung, dass Frauen einfühlsamer und empathischer seien als Männer. Die empirische sozialpsychologische Forschung hat das schon lange widerlegt und konnte zeigen, dass die Empathiefähigkeit von der sozialen Situation abhängt, in der ein Ereignis stattfindet, und dass die Selbstzuschreibung, mehr oder weniger empathisch zu sein, das Ergebnis entscheidend beeinflusst (Fine 2012, 60 ff.). Wir glauben aber unverdrossen trotzdem daran – was verdeutlicht, dass es eben kulturgeprägte Erwartungen sind, die unsere Auffassung leiten.
Ein letzter zentraler Aspekt des bürgerlichen Konzepts von Mütterlichkeit ist die Desexualisierung der Mutter: Die sinnliche erotische Liebe verträgt sich mit der Mutterliebe hier nicht. Klaus Theweleit hat dies anhand der Freikorps-Literatur des frühen 19. Jahrhunderts entfaltet, als extreme Entgegensetzung der „weißen“ und der „roten“ Frau, der „reinen“ und sittlichen (potenziellen) Mutter, die ihrem Mann gehört, und der „wilden“, selbstständigen Frau (Theweleit 1980). Aber auch im gutbürgerlichen Kontext ist die Trennung von sexueller Frau (der Hure) und reiner bürgerlicher potenzieller Mutter zentral für die gesellschaftliche Ordnung, wie die Diskussionen um die erste Frauenbewegung in der Kaiserzeit oder den „Bund für Mutterschutz“ um die Jahrhundertwende zeigen (vgl. Frederiksen 1981). Dahinter steht letzten Endes das Bemühen um die Kontrolle der weiblichen Sexualität – und spätestens seit Rousseau ist das Gedeihen des Staates an die Sittsamkeit der Frauen gebunden (so wird es im 5. Buch des „Émile“ ausgeführt).
Mütterlichkeit als Arbeit und Auftrag
Wenn wir nun die für unsere Frage wichtigen Begriffe nebeneinanderstellen, ergibt sich ein sehr interessantes Bild: Wir haben Pflicht und Schuld auf der einen Seite sowie bedingungslose Liebe auf der anderen, und dazu die Ambivalenz von Halten und Festhalten. Aus diesen Versatzstücken speisen sich die Muster von „Mutterliebe“ und Mütterlichkeit – und es lässt sich schon unschwer erkennen, dass die Ambivalenz zwischen Mutter und Kind zugleich diejenige zwischen der Gesellschaft und den Frauen widerspiegelt.
Frauen des 19. Jahrhunderts sind, hart ausgedrückt, Gefangene des Konzepts der Mutterliebe. Pädagogen argumentieren durchweg damit, dass die Frauen die Freuden von Mutterschaft und Mutterliebe, die in der Hingabe an das Kind bestehen, als Ersatz für ihre Teilhabe an der gesellschaftlichen Öffentlichkeit akzeptieren sollen und fordern als Preis den freiwilligen Verzicht der Frauen auf Bildung und Selbstständigkeit. Gut nachlesen lässt sich dies in dem Ratgeber des Philanthropen Joachim Heinrich Campe „Väterlicher Rath für meine Tochter“ (1796/1997). In einem Zwiegespräch mit der Tochter werden die Argumente unmissverständlich dargelegt: Die Gesellschaft versagt dir Bildung und bürgerschaftliche Teilhabe, also gib dich mit der „zwar an sich sehr wichtigen, aber von allen Seiten beschränkten und wenig bemerkbaren häuslichen Wirksamkeit“ (ebd. 29) zufrieden. Kein Wunder, dass bürgerliche Frauen das Ideal der Mutterliebe bereitwillig aufnahmen, schien es doch fast die einzige Möglichkeit zu sein, ihrer Existenz Würde und einen gewissen Wert zu verleihen.
Als sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Sozialarbeit als Professionsfeld etablierte, setzten deren Protagonistinnen mit dem Begriff der „Geistigen Mütterlichkeit“ die Vorstellungen von der Naturgegebenheit weiblicher Mutterliebe und Mütterlichkeit bereits professionspolitisch ein. Vorangegangen waren schon erste Anfänge zum Aufbau einer professionalisierten Kinderbetreuung – vor allem durch Theodor Fliedner (1800-1864), den Begründer der christlichen Kinderschul-Bewegung und 1836 Gründer des ersten Diakonissen-Mutterhauses, und durch Friedrich Fröbel (1782-1852), den Begründer der Kleinkindpädagogik, auf den auch die professionelle Ausbildung von Erzieherinnen zurückzuführen ist.
Hier ergab sich nun eine historisch interessante und folgenreiche Verbindung zur gemäßigten bürgerlichen Frauenbewegung, nicht zuletzt durch Henriette Schrader- Breymann (1827-1899), Fröbels Nichte, die seine Arbeit fortsetzte. Dieser Teil der Frauenbewegung ging nämlich ebenfalls von einer naturgegebenen spezifischen „geistigen“ Mütterlichkeit der Frauen aus und verwendete dies als Argument dafür, Frauen den Zugang zur höheren Schule, zum Studium und dem Lehrerberuf zu gestatten, weil Frauen gewissermaßen „anlagebedingt“ für pädagogische Tätigkeiten und das schulische Lehren (insbesondere der Mädchen) geeignet seien. Der Zugang zu Bildung wurde also mit einer naturalisierenden Festlegung auf eine spezifische Beziehungsform erkauft, die unter der Bezeichnung „Geistige Mütterlichkeit“ insbesondere die Fähigkeit zum Unterrichten in höheren Mädchenschulen plausibilisieren und damit bürgerlichen unverheirateten Frauen eine eigenständige anerkannte Existenz ermöglichen sollte. Damit war aber auch eine spezifische „Passung“ zwischen lehrenden Frauen und lernenden Mädchen gesetzt – Mütter und Mädchen bleiben aufeinander verwiesen und voneinander abhängig. Der Eintritt der Frauen in die akademische (Berufs-) Welt geschieht also um den Preis der Akzeptanz gerade jener Zuschreibung, die dazu gedient hatte, sie davon und von der Öffentlichkeit insgesamt auszuschließen.
Mütterlichkeit als Beziehungsideal
Kommen wir nun zur psychologischen Perspektive – und da stellt sich alles völlig anders dar. Denn in dieser Theorieperspektive liegt gerade in der Unzulänglichkeit der Mutter das Potenzial für die Selbstständigkeit des Kindes. Von dem Psychoanalytiker Donald W. Winnicott stammt der Ausdruck, ein Kind brauche eine „genügend gute“ Mutter. Diese Formulierung enthält einen zentralen Aspekt der psychoanalytischen Auffassung von Mütterlichkeit: Keine Mutter kann dem idealistisch-romantischen Bild der Mutterliebe entsprechen. Eine Mutter, die sich an diesem Ideal messen wollte, die immer selbstlos, immer freundlich und immer da sein wollte, müsste notwendig scheitern – und hier liegt auch die Quelle mütterlicher Schuldgefühle: Wenn die Mutter versucht, jenes Ideal zu erfüllen, wird sie unvermeidlich als unzulänglich erscheinen und zugleich zum Untergang der psychischen Autonomie des Kindes beitragen. Denn was ist die Aufgabe, vor der das kleine Kind steht? Ein selbstständiger Mensch zu werden! Und was ist für diese Aufgabe das Wichtigste? Die Möglichkeit zu haben, sich von einem anderen zu unterscheiden, abzugrenzen, den eigenen Willen auszuprobieren, das eigene Denken zu entwickeln.
Die Liebe einer Mutter, so noch einmal Winnicott, „ist eine recht nüchterne Angelegenheit. Sie besteht aus Besitzlust, Gier, sogar aus einem Element des Hasses, Großmut, Machtgefühl und ebenso Demut. Aber Sentimentalität hat in ihr keinen Platz und ist Müttern zuwider“ (Winnicott 1980, 13). Winnicott betont aber zugleich, dass die existenzielle Abhängigkeit des Säuglings und des kleinen Kindes immer auch etwas Beängstigendes hat. Die Furcht vor Abhängigkeit wird umso größer sein, je mehr die Mutter dazu tendiert, für ihre dem Kind entgegengebrachte Zuwendung Gehorsam oder Dankbarkeit zu fordern und so aus der Mutterliebe ein „Geschäft“ zu machen. Denn Mütter bzw. Eltern verbinden ja immer auch je eigene Fantasien mit ihrem Kind, wie sie es sehen und wie es werden soll. Wenn sie, durchaus in Liebe, „das Beste“ für ihr Kind wollen, so ist dies stets von eigenen Wünschen affiziert – so formuliert der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan (1901-1981), diese Erwartung der Eltern sei stets „das Wohl des anderen nach dem Bild des meinen“ (Lacan 1959/1996, 227). Das Kind wird also in jedem Fall einen „Verrat“ begehen müssen und in Differenz treten zu jenen elterlichen Wünschen, wenn es eine innere Unabhängigkeit erlangen will.
Nun zeigt sich, dass im idealisierten, romantisierten Bild der Mutterliebe eine Vermischung stattgefunden hat – nicht zuletzt mit christlichen Elementen, mit dem Wunsch, vollständig aufgehoben zu sein, was immer man tue, einem Wunsch, den der Gläubige an seinen Gott adressiert. Aber das ist nicht die Aufgabe der Mutter – sie, als sterbliches soziales Wesen, muss gerade die Trennung ermöglichen, um dem Kind einen Ansatzpunkt für selbstständige Entwicklung zu bieten. Dazu gehört die Sozialität – der Zugang zu anderen Menschen mit anderen Meinungen, Verhaltensweisen und Wünschen – sowie die Fähigkeit, sich auszudrücken. Und die wächst nur dann, wenn auf der Basis eines sicheren Grundgefühls Unterscheidungen gemacht, das heißt auch: Abweichungen ausgedrückt werden können und dürfen. Nun zeigt sich, was in Brentanos Gedichtzeile verborgen liegt: die Mutterliebe, die das Kind in einer undurchdringlichen Dyade bindet, lässt es nicht zu einem sprechenden Wesen werden: „So lallt zu dir ein frommes Herz / Und nimmer lernt es sprechen“, heißt: Nimmer wird dieses Kind selbstständig und eigenwillig denken können.
Die Psychoanalytikerin Julia Kristeva zieht hier eine bemerkenswerte Parallele zur Bibel mit ihren Reinheits- und Opfergeboten und fasst dabei die Notwendigkeit, in ein sprachliches Universum einzutreten, noch grundsätzlicher. Die Reinheitsgebote, schreibt sie, bilden einen Code der Differenzen, der dafür sorgen soll, dass die Elemente nicht miteinander vermengt werden. Der Inbegriff der Konfusion, die aus Vermengung nicht zusammengehöriger Elemente entsteht, ist der Inzest: „Du sollst das Böcklein nicht kochen in der Milch seiner Mutter“ (Ex 23, 19). Diese Botschaft liest sie dann, übertragen auf die Mutter: „Damit du nicht tötest, musst du dich von deiner Mutter trennen. Der Sinn ist es, der das Begehren garantiert und den Todeswunsch vor seiner Zuspitzung bewahrt. Du sollst deinen Hass in das Denken verschieben, du sollst eine Logik erarbeiten zum Schutz und als Schranke vor dem Morden“ (Kristeva 1994, 138).
Die Sicherheit des Kindes, über die Fähigkeit zu selbstständigem Denken und Handeln zu verfügen, wäre so gesehen die Basis für die Sozialität von Gesellschaften. Dies schließt aber ein, dass die ja tatsächlich gegebene Abhängigkeit des Kindes nicht in eine romantisch verklärte emotionale Abhängigkeit umschlagen darf – es war die Vermutung früher feministischer Theorien, dass die intellektuelle Unselbstständigkeit von Frauen, die zu ihrer gesellschaftlichen Abhängigkeit beitrug, nicht zuletzt auch hier ihre emotionalen Wurzeln hat, auch wenn das bedrückend klingen mag.
Schlussüberlegungen
Was das romantische und nicht selten kitschige Bild der grenzenlosen Mutterliebe uns suggeriert, ist also gerade das Gegenteil von dem, was ein Kind auf dem Weg zu einem selbstständigen sozialen Wesen braucht. Mütterlichkeit muss (und darf) sich deshalb deutlich davon distanzieren. Das heißt natürlich nicht, dass wohl die meisten Mütter ihre Kinder nicht tatsächlich mehr und anders lieben als andere Menschen. Aber das trifft auch für die Väter zu, und das ist auch gut so. Natürlich enthalten Mutter- und Vaterliebe neben Fürsorge, Verantwortungsgefühl und Achtung auch ein sozusagen „irrationales“ Element, einen Überschuss aus Hinwendung, Rührung und Verantwortung – aber gerade dieser Teil der Liebe ist eine Gabe, die nicht berechnet werden darf, weil sie sonst zu einem Geschäft verkommen und dadurch vergiftet würde. Das eigene Kind als etwas „ganz Besonderes“ zu sehen und zu lieben, kann nicht gefordert oder auch nur im strengen Sinne „erwartet“ werden – auch wenn wohl jeder Mensch den Wunsch danach hat, auf diese Weise geliebt zu werden. Selbst die Bibel fordert nicht die Liebe zwischen den Generationen. Sie fordert vom Kind, dass es seine Eltern „ehren“ solle, von der Mutter ist hier nicht die Rede.
Die helfende Hand der Eltern, ihre liebevolle Zuwendung und auch die Portion Selbstlosigkeit, die es ihnen ermöglicht, die Einschränkungen, die das Leben mit kleinen Kindern mit sich bringt, zu ertragen – sie bilden die Basis für die emotionale Sicherheit des Kindes und somit für die Sozialität jeder Gemeinschaft und Gesellschaft. Als „Elterlichkeit“ werden sie von den meisten Eltern selbstverständlich und auch gerne übernommen und gelebt – aber als gesellschaftliche Verantwortung werden sie nur wenig wahrgenommen, Staat und Gesellschaft überlassen sie weitestgehend den Eltern (und das heißt überwiegend: den Müttern). Nicht zuletzt weil Alleinerziehende zu den ärmsten Bevölkerungsgruppen gehören, leben in Deutschland wesentlich mehr Kinder in relativer Armut als in anderen vergleichbar wohlhabenden europäischen Ländern. Wenn Staat und Gesellschaft realisieren würden, dass auch sie eine soziale Verantwortung für „mütterliche Zuwendung“ zu Kindern haben, wäre das für Mütter und Kinder ein großer Gewinn.