Wuchtig war die architektonische Sprache des Baukomplexes. Jedes Mal, wenn der Weg zum römischen Stadtteil Trastevere daran vorbeiführte, wälzte sich mir ein drückendes Gefühl auf die Brust. Die Inschrift „Regina Coeli“, welche die jubelnden Lieder für die Himmelskönigin aus der Kindheit weckte, wollte so gar nicht zu diesem finsteren Bau passen. Keine Ruhe ließ mir dieses Gebäude an der Via della Lungara, bis jemand nähere Auskunft geben konnte. Hinter den Mauern von „Regina Coeli“ befand sich Roms zentrales Gefängnis. Sein Name erinnerte an das Kloster der Unbeschuhten Karmelitinnen, das hier ursprünglich gestanden hatte, bevor der italienische Staat 1873 den Umbau zu einem Gefängnis vornahm. Und jetzt stockte mir der Atem, denn wie ein Blitz durchfuhr mich die Erinnerung an eine Lektüre. Eine Szene vor allem hatte sich mir damals eingebrannt: Während der Zeit der Besatzung Roms im Zweiten Weltkrieg hatte eine Frau heimlich Einlass in dieses Gefängnis gefunden, um ihren Mann, einen Widerstandskämpfer, zu suchen, der von den Faschisten verhaftet worden war. Er hatte die Folter nicht überlebt. Sie aber wollte den Toten ein letztes Mal sehen. Später schrieb sie über diese Begegnung das Gedicht „Memoria“, eine stoische Totenklage.
Diese Frau, die zuerst schrie und weinte, als sie die Nachricht erhalten hatte, begab sich mit dem Mut einer Antigone ins Gefängnis. Denn hätte man sie dort erkannt, wäre sie nicht mehr herausgekommen. Sie war damals, im Februar 1944, achtundzwanzig Jahre alt und lebte mit ihren drei kleinen Kindern im römischen Kloster der Ursulinen, wo man ihr ein Versteck angeboten hatte. Ihr Name: Natalia Ginzburg-Levi. Sie sollte später als eine der bedeutendsten Autorinnen Italiens der Nachkriegszeit gelten, Erzählungen, Romane, Essays und Theaterstücke veröffentlichen und als Übersetzerin Texte der Weltliteratur vermitteln.
Der Tod ihres Mannes, Leone Ginzburg (1909-1944), setzte eine Zäsur: Nichts war danach mehr wie zuvor, und dennoch floss der Strom des Lebens weiter und trug Natalia Ginzburg zu neuen Ufern. Sie heiratete ein zweites Mal und wurde kurz vor ihrem Tod sogar Urgroßmutter. „Das ist das Leben, nicht die Bücher“, sagte sie, als sie das Baby in den Armen hielt und es gar nicht mehr hergeben wollte. Eine bedenkenswerte Erkenntnis am Ende einer Biografie, welche dieser Frau Glück und Schmerz in reichem Maß bescherte. Die Bücher hatten ihr Leben bestimmt, Lesen und Schreiben den Rhythmus vorgegeben, die Gestalten der Literatur sie seit ihrer Jugend begleitet: Flaubert, Tschechow, Tolstoi, Dostojewski, Proust, Duras, Maupassant. Und nun dieser Satz!
Giuseppe Levi, der Vater
Das Datum der Geburt, der 14. Juli 1916, ist vielsagend: Es ist der Tag des Sturms auf die Pariser Bastille, und das Mädchen, das fünfte Kind seiner Eltern, kommt an der Via della Libertà in Palermo zur Welt. Man möchte nur zu gern in diesen Fakten die Vorzeichen eines rebellischen, unabhängigen Geistes erkennen. Tatsächlich hat Natalia Ginzburg ihren Weg eigenständig und beharrlich verfolgt, ihre Meinungen stets unbekümmert um jene der anderen geäußert. Die Mutter, Lidia Tanzi (1878-1957), stammte aus einer sozialistisch engagierten Mailänder Anwaltsfamilie, hatte ein Medizinstudium begonnen, dieses aber wegen der Heirat (1901) nicht beendet. Ihr Mann Giuseppe Levi (1872-1965), groß gewachsen und rothaarig, kam aus einer jüdischen Triestiner Bankiersfamilie, wollte aber von Geldgeschäften partout nichts wissen. Er lehrte an der Universität von Palermo und rückte später zu einem der bedeutendsten Vertreter innerhalb seines Forschungsgebiets, der Anatomie und Histologie, auf. Da er vom Pioniergeist beseelt war, hatte er früh Deutschland, Holland und Indien kennengelernt und auf Spitzbergen in den Schädeln von Walfischen nach den zerebrospinalen Ganglien gesucht, sie aber nicht gefunden. Bis in seine späten Lebensjahre war er ein gefragter Referent auf internationalen Kongressen.
Aus Levis Schule gingen drei Nobelpreisträger hervor: Renato Dulbecco, Salvador Luria und Rita Levi-Montalcini (1909-2012). Diese Medizinnobelpreisträgerin, die den Nervenwachstumsfaktor (NGF) entdeckt hatte, war in jeder Hinsicht eine eindrückliche Dame. Noch an ihrem hundertsten Geburtstag hielt sie eine Rede frei aus dem Gedächtnis und suchte, wie jeden Tag, ihr Forschungslabor auf. Die Beziehung zu ihrem einstigen Mentor, Giuseppe Levi, war von einer starken Bindung getragen. Diese wuchs in der Zeit des Exils während des Zweiten Weltkriegs heran, da beide ihre Forschungen an der Universität Lüttich weiter betrieben. Denn Levi hatte nach dem Erlass der Rassengesetze (1938) seinen Turiner Lehrstuhl verloren, und der jungen Medizinerin war als Jüdin eine akademische Position verweigert worden. Der Einmarsch der Deutschen in Belgien zwang jedoch beide zur heimlichen Rückkehr nach Italien. Rita Levi-Montalcini richtete darauf in ihrem Schlafzimmer ein Labor ein, um ihre Forschungen fortsetzen zu können. Ein Buchhändler der Turiner Altstadt, in dessen Geschäft ein auffallend großes Porträtbild der Nobelpreisträgerin hing, erzählte mir vor Jahren, dass Rita Levi-Montalcini den krebskranken Giuseppe Levi bis hin zum Sterben begleitet habe.
Dieser originelle Mann war für die Angehörigen zu Hause allerdings nicht leicht erträglich. Impulsiv und cholerisch veranlagt, konnte er wegen einer Kleinigkeit in vulkanischen Zorn ausbrechen. Er schimpfte mit seiner Frau und den Kindern („Nichts als Simpeleien habt ihr im Kopf!“), die nicht zuhörten, wenn er während
des Essens von Gewebeveränderungen berichtete, die er in seinem Laboratorium konstatiert hatte. Kaum wagte die kleine Natalia das Wort an ihn zu richten. Aber die starke Vaterfigur brach sie nicht, sondern formte ihre spätere geistige Statur. Musik hasste Giuseppe Levi, kulinarische Freuden verschmähte dieser Spartaner. In den Ferien, welche die Familie stets im Piemont verbrachte, befahl er frühmorgens um vier Uhr den Aufbruch zu langen Märschen. Er ging voraus, Lidia folgte ihm ergeben mit ihrem Spazierstöckchen nach.
1919 erhielt Giuseppe Levi einen Ruf an die Universität von Turin. Die Familie folgte ihm ungern in den Norden. Die ersten Jahre in der piemontesischen Hauptstadt gestalteten sich schwierig, denn Levis knappes Gehalt reichte in der kümmerlichen Nachkriegszeit nicht für die Familie aus, in der fünf Kinder heranwuchsen: Paola, Alberto, Mario, Gino und die Jüngste, Natalia. Lidia weinte dem schönen Palermo so manche Träne nach, Giuseppe ließ ungezügelt seine schlechte Laune los, und die Kälte des Turiner Winters behagte auch den Kindern nicht.
Reichtum an Geschichten
Die kleine Natalia, die sich zwar nicht an Palermo erinnern konnte, spürte die miese Stimmung und schrieb ihren ersten Zweizeiler, der von der Familie als Beweis dichterischer Begabung begrüßt wurde:
„Palermino, Palermino,
sei più bello che Torino.“
Ohnehin verfassten die Mutter und die älteren Geschwister dauernd Verse voller Ulk, die den Zorn des Vaters weckten. Lidia, die einst eine Oper komponiert hatte, sang schon beim Frühstück die „Lohengrin-Arie“ - „Nie sollst du mich befragen!“ - und schwelgte in Hunderten von Erzählungen aus dem Bekanntenkreis, die meist keine spektakulären Handlungen aufwiesen, sondern sich an Aussprüche, Alltagsbeobachtungen und -szenen hielten. Diese Schilderungen waren eine Fundgrube für Natalia Ginzburgs künftiges literarisches Schaffen und gaben die Richtung vor: Nicht großartige Ereignisse sollten ihre Stoffe prägen, sondern Begebenheiten aus dem täglichen Leben, die sie ohne schmückendes Beiwerk einführte. Darin fühlte sie sich einem ihrer Lehrmeister, Anton Tschechow, verpflichtet und zudem jener Strömung des „Neoverismo“, die nicht nur das literarische, sondern auch das filmische Schaffen Italiens nach 1945 bestimmte.
Die Genauigkeit und spröde Sachlichkeit, die Natalia Ginzburg leiteten, rührten aus dem geistigen Erbe ihres naturwissenschaftlich orientierten Vaters (wie auch ihr impulsives Temperament). Sein spartanischer Habitus ging ebenfalls auf die Tochter über: Auf den Fotos fällt ihre schlichte Garderobe auf, die sie selbst an festlichen Anlässen wie Preisverleihungen trug - und dies im Land der führenden Modeschöpfer. Mit ihrem markant geformten Gesicht und dem Kurzhaarschnitt war sie eine einprägsame Erscheinung. Die Mutter dagegen vermittelte den Reichtum an Geschichten und die Welt der Emotionen. Daher hatten sich beide Eltern, so unterschiedlich sie in ihrer Mentalität erscheinen mochten, am Begabungspotenzial ihrer jüngsten Tochter beteiligt. Wenn der Vater die Familie schalt, weil diese sich in den Bergferien langweilte, und ihr das fehlende Innenleben vorhielt, so hatte er keine Ahnung, was im Kopf der kleinen Natalia vorging, wo sich unablässig die Geisterchen der Fantasie tummelten. Beständig schrieb sie, hasste jedoch alle Hausarbeiten, war unordentlich, zeigte sich sehr ungeschickt in praktischen Belangen, sodass sie eine „Plage“ war, wie die älteste Schwester Paola meinte.
In den ersten Jahren wurde Natalia Privatunterricht verordnet, da der Vater in der öffentlichen Schule eine Brutstätte für Bakterien und Viren witterte. Mit elf kam sie aufs Gymnasium und spürte ihr Anderssein. So gerne wäre sie, wie ihre Mitschülerinnen, katholisch gewesen, so gerne hätte sie an den Veranstaltungen der „Piccole italiane“, einer faschistischen Mädchenorganisation, teilgenommen! Sie galt als mittelmäßige Schülerin, die nur mit den Aufsätzen brillierte. Im Reich ihrer lebhaften Fantasie sah sich Natalia unablässig von einem „aufsässigen Volk winziger schwarzer Zwerge“ umzingelt:
„Sie waren bald meine Untergebenen, bald meine Komplizen bei Regierungsverschwörungen, bald meine hinterlistigen Verfolger. Ich nannte sie ‚die Wir‘. Sie ärgerten mich, sie brachten mich zum Weinen, Flüstern, Diskutieren, aber vor allem zum Lachen, wenn sie mich mit ihrem ohrenbetäubenden Geschrei bestürmten. Aus Gründen, die ich mir nicht erklären konnte, durfte ihre Existenz niemandem enthüllt werden.“ 1
„Lessico famigliare“ - ein Coup
Schon als Kind hatte Natalia typische Aussprüche ihrer Familie gesammelt und in einem Heft notiert, um sie später für ihr Hauptwerk „Lessico famigliare“ zu verwenden. So wählte sie ein Verfahren, das auch Thomas Mann in den „Buddenbrooks“ und Tschechow in den Dramen angewandt hatten. 1963 veröffentlichte sie ihren autobiografisch geprägten Roman „Lessico famigliare“2, für den sie den Premio Strega erhielt - die höchste literarische Auszeichnung Italiens. Sie entwirft in diesem Buch ein realistisches, aber niemals entlarvendes Bild ihres Vaters. Man kann sich unschwer vorstellen, dass sich mancher Leser aus den universitären Kreisen auf dieses Buch gestürzt hat, doch voyeuristische Neigungen wurden nicht befriedigt. Das Buch war neben dem Roman „Die Gärten der Finzi-Contini“ (1962) des gleichaltrigen Giorgio Bassani (1916-2000) der Bestseller jener Zeit. Der überraschende Begriff „Lexikon“ illustriert das Bestreben der Autorin nach Versachlichung, auch wenn die lexikalische Struktur wegfällt: Es fehlen Suchbegriffe als Überschriften zu den einzelnen Erörterungen, ebenso Querverweise. Doch dieser lockere Umgang mit dem Begriff „Lexikon“ erscheint nicht als Mangel, bietet doch dieses Buch nebst den Kindheitsszenen eine Fülle von Informationen zur politischen und kulturellen Situation Italiens in der Zwischenkriegszeit.
Zentral bleibt für Natalia Ginzburg die Familie, die in der italienischen Gesellschaft seit jeher das primäre Gefüge darstellt, während der Staat eine zweitrangige Rolle einnimmt. Denn in allen politischen Turbulenzen ist meist nur noch auf dieses Privatissimum Verlass. Die Autorin hat in weiteren Werken die Familie als Keimzelle umkreist. Bereits in ihrem 1952 erschienenen Roman „Tutti i nostri ieri“3 erzählt sie die Geschichte zweier Familien der Bourgeoisie in den 1930er-Jahren vor dem Hintergrund politischer Ereignisse. Und noch in einem Werk ihrer Spätzeit, dem historischen Roman „La famiglia Manzoni“4 von 1983, bleibt sie dem Thema treu. Ein Jahrzehnt zuvor hat sie in „Caro Michele“5 das dichte Beziehungsgeflecht an Hand von Briefen einzelner Familienmitglieder an den abwesenden Protagonisten aufgezeigt. Die Form des Briefromans wählt sie auch im 1984 publizierten Buch „Die Stadt und das Haus“6. Immer mehr dringt eine dunkle Erkenntnis durch:
„Die Wirklichkeit ist chaotisch, nebelhaft, wirr und unentzifferbar geworden. Schon immer hatte ich beim Schreiben das Gefühl, zerbrochene Spiegel in der Hand zu halten, doch jedesmal hoffte ich, die Scherben zusammensetzen zu können. Diesmal hoffte ich nichts mehr.“7
Im kleinen Roman „Schütze“8 aus dem Jahr 1957 entfaltet sie Spielarten der von ihr hochgeschätzten Ironie. Zunächst wartet sie mit dem Personal der kleinbürgerlichen Familie auf (Pudel, Kind und Dienstmädchen), lässt dann aber ihre Geschichte, die voller Komik steckt, in eine Provinzposse mit kriminalistischem Einschlag münden: Eine kunstbegeisterte, aber naive Signora, die eine Galerie eröffnen möchte, fällt auf eine Betrügerin herein, sodass die hochfliegenden Träume platzen. Am Ende nichts als Wehmut. Auch der Roman „Die Stimmen des Abends“9 von 1961, der den Aufstieg und Niedergang einer reichen piemontesischen Industriellenfamilie schildert, greift ihr zentrales Thema auf. Der Schriftstellerkollege Italo Calvino, der vorab das Manuskript gelesen hatte, rühmte ihr „Gespür für Familiengeschichten und ihre Verflechtung“10.
Den Dingen auf den Grund gehen
Turbulenzen gab es in Natalia Ginzburgs Herkunftsfamilie mehr als genug. Die jüngste Tochter lebte nicht nur unter dem Albdruck der väterlichen Zornausbrüche, sondern auch unter jenem der Streitereien zwischen den älteren Brüdern, Alberto und Mario:
„Man hörte auf einmal in ihrem Zimmer den Lärm von umgeworfenen Stühlen und Schlägen an die Wände, dann wilde und ohrenzerreissende Schreie. Alberto und Mario waren damals schon große und sehr starke Jungen, die, wenn sie sich zu schlagen begannen, sich übel zurichteten und mit blutenden Nasen, geschwollenen Lippen und zerrissenen Kleidern aus diesen Händeln hervorgingen. Beppino, komm, sie bringen sich um! rief meine Mutter erschrocken.“11
Der Vater, von Lidia zärtlich „Beppino“ genannt, griff ebenso heftig ein. Szenen spielten sich ab, als ob sie für einzelne Familien-Episoden in Federico Fellinis Film „Amarcord“ (1973) das Muster abgegeben hätten. Der Anblick der Kämpfenden aber erschreckte die kleine Natalia. Aus diesen frühen Eindrücken formte sich bei ihr ein facettenreiches, niemals idealistisch überhöhtes Bild des Kosmos Familie, dem sie in ihren Werken die vielfältigsten Aspekte entlocken sollte - bis hin zur Zerstörung dieser gesellschaftlichen Einheit.
Noch heute staunt man über die Kompromisslosigkeit ihres Buchs „So ist es gewesen“12, das sie 1947 als Einunddreißigjährige veröffentlicht hat. In Ich-Form gesteht eine junge Frau gleich zu Beginn des schmalen Romans, dass sie ihren Mann erschossen hat. Die Autorin antizipiert das Ende ihrer Geschichte und wählt damit einen Erzählmodus, der auch in Gabriel García Márquez’ Roman „Chronik eines angekündigten Todes“ anzutreffen ist. Dieser erzählerische Trick beeinträchtigt keineswegs die Spannung - im Gegenteil! Denn natürlich will der Leser sofort wissen, was der verbrecherischen Handlung vorausgegangen ist. Die junge Frau erzählt nach der fulminanten Eröffnung vom Schwinden ihrer Liebe zum weitaus älteren Alberto, ihrer Verzweiflung und ihrer Eifersucht auf die Geliebte des Gatten. Trocken und präzis ist die Sprache. Aber die Ich-Erzählerin geht den verwirrenden Gefühlen auf den Grund, die sie, jung und unerfahren wie sie ist, in der ersten Zeit der Bekanntschaft mit Alberto geplagt haben:
„Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich um einen Mann weinte, und da habe ich gedacht, dass ich ihn wohl liebte, wenn ich so weinte. Und ich habe gedacht, dass ich einwilligen würde, wenn er mich fragte, ob ich ihn heiraten wollte, und dass wir dann immer zusammen sein würden und ich zu jeder Stunde und in jeder Minute wüsste, wo er wäre. Doch als ich dachte, dass wir dann auch Liebe miteinander machen würden, schauderte mich, und daraufhin sagte ich mir, dass ich vielleicht doch nicht verliebt war, und verstand gar nichts mehr.“13
Alberto hingegen spricht kategorisch nicht über seine Gefühle. Er richtet sich im Schweigen und Verschweigen ein. So aber „wird er niemals wissen können, was am Grunde des Meeres ist“14. Denn er ist „ein kleiner Mann, der nicht den Mut hat, den Dingen auf den Grund zu gehen“15, wie seine Frau ihm vorwirft. Er verbietet ihr, dass sie Fragen an ihn stellt, welche seine Affäre betreffen. Wenn er weggeht, schließt er sein Zimmer ab. Sie weiß aber, dass in der Schublade seines Schreibtischs ein Revolver liegt, falls er sich erschießen oder einen anderen erschießen wolle, wie er erklärt hat. Drei Jahre nach der Geburt ihres einzigen Kindes wird sie ihren Mann, diesen modernen Blaubart-Typus, mit einem Schuss in die Augen töten.
Eine Liebe in Zeiten des Schreckens
Natalia Ginzburg selbst bedeutete die eigene Familie viel. 1938 hatte sie den aus Odessa stammenden Slawisten Leone Ginzburg geheiratet. Er, der Freund ihres älteren Bruders Mario, hieß in der Familie Levi „der Russe“, war erklärter Antifaschist und engagierte sich in der Widerstandsbewegung „Giustizia e Libertà“. Heiter und ausgeglichen war er, frei von Launen und Wutausbrüchen: ein offensichtlicher Kontrast zu Natalias Vater. Drei Kinder gingen aus der Verbindung hervor: Carlo (* 1939), der Historiker16, Andrea (* 1940), der Ökonom, und Alessandra (* 1943), die Psychoanalytikerin. Die Bekanntschaft von Natalia und Leone setzte in einer schwierigen Zeit ein. Im Jahr ihrer Heirat, 1938, erließ Mussolini die Rassengesetze, und deren Auswirkungen waren innerhalb der Familie Levi unmittelbar zu spüren. Zwar hatte Leone Ginzburg 1932 eine Dozentur für russische Literatur an der Universität von Turin erhalten, verlor sie aber wieder, weil er sich wie Natalias Vater weigerte, den faschistischen Amtseid zu leisten.
Natalias Brüder Alberto, Mario und Gino engagierten sich mit Leone im antifaschistischen Untergrund, knüpften Verbindungen mit exilierten Widerstandskämpfern in Paris, reisten oft plötzlich weg - im Gepäck verbotene Schriften. Die Bedrohung war allgegenwärtig, es knisterte im Hause Levi. Als die Brüder 1934 und 1935 festgenommen wurden und die Polizei eine Hausdurchsuchung vornahm, musste der Vater aufs Präsidium mitgehen. Kurz darauf wurde auch Leone verhaftet. Er kam im März 1936 wieder frei und arbeitete erneut im Turiner Verlag Giulio Einaudi, zu dessen Gründungsmitgliedern er zählte und dessen Programm er maßgeblich beeinflusste. Politik war seine Leidenschaft, und als Herausgeber kritischer Schriften exponierte er sich im faschistischen Italien. Ihm und Natalia wurden nach dem Erlass der Rassengesetze die Pässe entzogen.
Am 10. Juni 1940 trat Italien in den Krieg ein. Gemäß einer römischen Tradition, die bis in die Antike zurückreicht, wurden Regimegegner verbannt. So war bereits 1935 der Maler und Schriftsteller Carlo Levi (1902-1975)17, ein Freund von Natalias Brüdern und zudem ein früher Lehrmeister der künftigen Autorin, in die Basilicata verschickt worden, ebenso Cesare Pavese (1908-1950)18 nach Kalabrien. Leone und Natalia mussten im Sommer 1940 mit den beiden kleinen Kindern - der zweite Sohn Andrea war erst einige Monate alt - in das Bergdorf Pizzoli (Provinz L’Aquila) in den Abruzzen ziehen. Dort hielten sich nicht nur politische Gegner des Faschismus auf, sondern später auch deutsche und polnische Juden. Die fremde Welt, von bitterer Armut gezeichnet, stand in krassem Gegensatz zum städtischen bürgerlichen Herkunftsmilieu. Natalia Ginzburg fand sich nur langsam zurecht. Ihr Vater allerdings, der sie besuchte, fühlte sich rasch heimisch, erinnerte ihn doch diese Region an Indien, das er in seiner Jugend bereist hatte. Das Geld reichte kaum zum Überleben, denn Leone arbeitete zwar weiterhin für den Verlag Einaudi, erhielt aber nur ein kleines Gehalt. In dieser Situation half Natalias Schwager Adriano Olivetti, der Sohn des Schreibmaschinenkönigs aus Ivrea und Paolas Gatte, mit finanziellen Zuwendungen aus. Die Biografin Maja Pflug zeichnet diese Zeit auf schöne Weise nach:
„Die Tage vergehen in gleichförmigem Rhythmus. Morgens, nach dem Aufstehen, bringt Natalia die Kinder an die frische Luft [...], und gegen Abend macht sie einen Spaziergang mit Leone. Es ist eine Zeit großer Intimität für die beiden. Vielleicht sind sie sich noch nie so nah gewesen, so glücklich, zusammen zu sein.“19
Die Totenklage für Leone
In Pizzoli arbeitet Natalia Ginzburg an der Übersetzung des ersten Bands („Eine Liebe von Swann“) von Marcel Prousts monumentalem OEuvre „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Ebenso entsteht ihr erster Roman, nachdem sie zuvor bereits Gedichte und Erzählungen in literarischen Zeitschriften publiziert hat. Sie will unbedingt dem Rat ihres wichtigsten Mentors, des Schriftstellers und Übersetzers Cesare Pavese, folgen und so trocken und schnörkellos wie nur möglich schreiben. Daher beschränkt sie sich auf kurze Hauptsätze, wählt die direkte Rede und hält konsequent den unprätentiösen Stil ein. Die Geschichten der Frauen von Pizzoli haben ihr den Stoff geliefert, und so erzählt Natalia Ginzburg von der 17-jährigen Delia, die der Enge ihrer armen Provinz entrinnen und in die Stadt gelangen will. Doch über einem kurzlebigen Traum verfehlt sie das Leben. Das Buch „Die Straße in die Stadt“ erschien 1942 wegen der Rassengesetze, die Juden ein Publikationsverbot auferlegten, unter dem Pseudonym Alessandra Tornimparte20. Indessen wurde das Talent der „unbekannten“ Autorin sofort wahrgenommen.
Nach dem Sturz Mussolinis am 25. Juli 1943 reiste Leone unverzüglich nach Rom, um dort im antifaschistischen Untergrund, dem „Partito d’azione“, zu arbeiten. Natalia folgte ihm mit den Kindern auf einer lebensgefährlichen Reise im Oktober 1943 nach. Am 20. November 1943 wurde Leone in einer Druckerei der Widerstandsbewegung verhaftet und ins Gefängnis Regina Coeli überstellt. Dort starb er am 5. Februar 1944 an den Folgen der Folter. Natalia Ginzburg aber schrieb ihre Totenklage:
Memoria
[...] Du hobst das Laken, um sein
Gesicht zu betrachten,
Beugtest dich hinunter, um es mit
gewohnter Geste zu küssen.
Aber es war das letzte Mal. Es war
das gewohnte Gesicht,
Nur ein wenig müder. Und der
Anzug war derselbe wie immer.
Und die Schuhe waren dieselben wie
immer. Und die Hände waren
dieselben,
Die das Brot brachen und den Wein
eingossen.
Noch heute, während die Zeit
verstreicht, hebst du das Laken,
Um sein Gesicht zum letzten Mal zu
betrachten.
Wenn du auf der Straße gehst, ist
niemand neben dir.
Wenn du dich fürchtest, nimmt
niemand deine Hand.
Und die Straße ist nicht deine, die
Stadt ist nicht deine [...]21.
Das lange Gedicht, von dem hier der Mittelteil zitiert wird, endet mit dem Satz: „Und verwüstet ist deine Jugend, erloschen das Feuer, leer das Haus.“ Bis zu ihrem Lebensende packt Natalia jedes Mal, wenn ein Polizist auftaucht, die Angst. Das Trauma der Verfolgung kann sie nie mehr abschütteln.
Vorübergehend hielt sie sich bei ihrer Mutter in Florenz auf, ohne jedoch mit ihr über Leones Ende sprechen zu können. Der Schmerz war versiegelt. Nach der Befreiung Italiens, Juni 1944, zog sie nach Rom zurück. Dort arbeitete sie in der römischen Filiale von Einaudi, später wieder im Haupthaus in Turin. Zwar zweifelte sie, die Selbstkritische, am Nutzen ihrer Tätigkeit, doch war sie im Verlag von Menschen umgeben, die Leone gekannt hatten.
Noch immer gefangen in ihrer Trauer, lernte die Neunundzwanzigjährige 1945 in Rom den Anglisten, Kritiker und Schriftsteller Gabriele Baldini (1919-1969) kennen. Er war vielseitig begabt, hätte eigentlich Dirigent werden wollen, denn Musik war seine Leidenschaft. Er wurde Natalias zweiter Ehemann. Die Heirat fand im Frühling 1950 in Turin statt. Die drei Kinder, welche nach Leones Tod hauptsächlich in der Obhut der Turiner Großeltern aufgewachsen waren, zogen 1952 ebenfalls nach Rom um, sodass die neue Familie komplett war. Mit seiner stürmischen Art sauste Gabriele wie ein Wirbelwind daher. Er hörte den ganzen Tag Musik, was Natalia manchmal in ihrer Schreibarbeit störte, sie aber auch dazu verführte, laut und falsch Arien zu singen. Sie liebe die Musik, aber die Musik nicht sie, pflegte sie zu sagen. Gabriele, der Genießer, führte erlesene Gerichte und Weine im Haushalt ein und eröffnete Natalia und ihren Kindern neue Horizonte: Malerei, Musik, Film. Die Liebe zum Kino gipfelte sogar in einem Auftritt: In Pier Paolo Pasolinis Film „Il vangelo secondo Matteo“ (1964) spielte Gabriele Baldini einen der Apostel, während Natalia Ginzburg die Rolle der Maria von Bethanien übernahm22.
Häufig gab es zwischen dem Paar Auseinandersetzungen, wenn beide temperamentvoll aufeinanderprallten, doch solche Konflikte trübten nicht ihre starke Verbundenheit. Im September 1954 kam die Tochter Susanna auf die Welt. Sie litt an einer Behinderung und war pflegebedürftig, was Natalia Ginzburg im Alter mit großer Sorge erfüllte: Wie sollte es mit Susanna weiter gehen, wenn sie nicht mehr da war? Doch nach dem Tod der Schriftstellerin nahm Alessandra Ginzburg die Halbschwester Susanna zu sich. Dasselbe Schicksal wiederholte sich 1959, als der Sohn Antonio auf die Welt kam und ebenfalls behindert war. Er lebte jedoch nur ein Jahr.
Im Jahr 1959 zog Natalia mit Gabriele nach London. Ihr Mann leitete dort während zwei Jahren das Italienische Kulturinstitut. Die Stadt, die Mentalität, das Klima gefielen ihr gar nicht. Dafür stiegen die Erinnerungen an Turin und das Piemont wieder auf und grundierten überaus lebendig ihren in London geschriebenen Roman „Die Stimmen des Abends“23.
Nur zehn Jahre später, im Sommer 1969, erkrankte Gabriele plötzlich an einer Virushepatitis und starb mit neunundvierzig Jahren. Die römische Wohnung am Campo Marzio, in die das Paar nach dem Londoner Intermezzo gezogen war, versank in Schweigen. Schwer wog die Einsamkeit. Natalia Ginzburg fand im disziplinierten Tagesrhythmus einen gewissen Halt. Beharrlich schrieb sie weiter, veröffentlichte Artikel, Essays, Erzählungen, Komödien und erhielt bedeutende Preise für ihr Schaffen.
Ironie und Abstand
1973, ein Jahrzehnt nach dem Großerfolg des „Lessico famigliare“, publizierte sie wieder einen Roman: „Caro Michele“24, der von einem wachsenden Gefühl der Verunsicherung geprägt war und eine Familie in Auflösung zeigte. Das Buch galt als Spiegel einer Zeit, in der sich die traditionellen Wertvorstellungen gewandelt oder gar verloren hatten. Auch die Erfahrung der Studentenunruhen von 1968 hatte sich niedergeschlagen, hatte doch Natalia Ginzburg die Revolte aufmerksam und kritisch verfolgt. Einer außerliterarischen Herausforderung stellte sie sich 1983: Als unabhängige Linke stand sie auf den Listen der KPI und wurde als Abgeordnete ins Parlament gewählt. Vier Jahre später bestätigte man sie in ihrem Mandat.
Kompromisslos hat Natalia Ginzburg ihren Weg als Autorin verfolgt und unablässig an ihrem eigenen Stil gearbeitet. Schon als Mädchen hatte sie schreiben wollen „wie ein Mann“ und sich vor dem „Geschlabber“ gefürchtet. Sie wollte nicht „klebrig und sentimental“ sein. Von dieser Autorin und ihren Texten geht auch heute noch eine stilbildende Kraft aus. In einem Interview mit der Schriftstellerin und Journalistin Oriana Fallaci (1929-2006) sagte Natalia Ginzburg 1963:
„Den meisten Schriftstellerinnen gelingt es nicht, sich beim Schreiben von ihren Gefühlen loszulösen, sie können sich und die anderen nicht mit Ironie betrachten. Ironie gehört zum Allerwichtigsten auf der Welt, sogar die Liebe ist immer mit Ironie vermischt, sogar das Wissen, aber das scheinen diese Frauen nicht zu begreifen. Sie sind immer feucht von Gefühlen; was Abstand heißt, wissen sie nicht [...]. Eine Frau muss wie eine Frau schreiben, aber mit der Distanz und der Kühle eines Mannes.“25
Im Winter 1990 diagnostizierte der Arzt bei Natalia Ginzburg ein Magengeschwür. Sofort wurde sie operiert. Danach versuchte sie wieder, ihr gewohntes Leben aufzunehmen. Einaudi gab ihr einen Auftrag für die Übersetzung von Maupassants erstem Roman „Une vie“ (1883). Regelmäßig und mit Freude arbeitete sie an der Übertragung. Im Sommer 1991 verschlechterte sich ihr Gesundheitszustand. Sie wusste nun, dass sie bald sterben würde. Die Maupassant-Übersetzung hatte sie abgeschlossen. Die Enkelinnen lasen ihr daraus vor und notierten ihre Korrekturvorschläge26. Am 8. Oktober 1991 starb Natalia Ginzburg in Rom. Mehr als zwanzig Jahre früher, 1970, hatte sie in einem kurzen Prosatext festgehalten:
„[... ] alles, was den Tod angeht, und alles, was Gott angeht, ist sowohl für denjenigen, der glaubt, wie für denjenigen, der nicht glaubt, von wesentlicher Bedeutung, und es gibt keinen Zweifel, dass es die einzige wirklich wesentliche Sache ist, an die wir manchmal denken.“27