„Ein ganzes Jahr lang wird es luthern in Deutschland und der Welt“: So fasste Matthias Drobinski bereits vor Monaten das Reformationsgedenkjahr 2017 zusammen – mit Blick auf den 499. Jahrestag der Veröffentlichung der 95 Thesen Martin Luthers gegen den päpstlichen Ablasshandel („Darf man Luther feiern?“, SZ vom 10. 5. 2016). Inzwischen wurde ein ICE 4 auf den Wittenberger Reformator „getauft“. Zum ersten Mal hat die Deutschen Bahn damit eine Persönlichkeit gewählt. Die 7,5 Zentimeter kleine Playmobilfigur Martin Luther (Erstauflage 34 000 Stück) war nach wenigen Tagen ausverkauft und verdrängte den bisherigen Rekordhalter Albrecht Dürer. Neudeutsch gesprochen: „Luther sells!“
So viel Luther war nie: Bonbons, Kekse oder Socken, Ausstellungen, Filme und Reportagen, Bücher und andere Publikationen, Tagungen und Symposien – Martin Luther ist omnipräsent. Über die eine oder andere Aktion wird natürlich gelächelt, es wird herumgenörgelt oder polemisiert. Dass der Ratsvorsitzende der EKD, der bayerische Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, und der Vorsitzende der DBK, der Münchner Erzbischof Reinhard Kardinal Marx, seit ihrer ökumenischen Pilgerreise nach Israel und Palästina im Oktober 2016 Duzfreunde sind, wurde süffisant kommentiert. Dass sie beim Besuch des Tempelberges ihre Brustkreuze ablegten, wurde wochenlang als „Unterwürfigkeit“ und „Verrat“ denunziert. Gesten und Zeichen werden leicht missverstanden – eine seltsame ökumenische Gereiztheit, teils aggressiv, teils ironisch, macht sich mancherorts breit. Da ist von „Kuschelökumene“ die Rede, von Profillosigkeit und Ausverkauf – nicht nur bei schockierten Piusbrüdern: klare Kante? Sind verbale Grabenk(r)ämpfe und Abgrenzungsmanöver wirklich überwunden? Bitte kein Revival konfessioneller Kontroverstheologie!
Jahrelang liefen in der Evangelischen Kirche Deutschlands, dem Mutterland der Reformation, Vorbereitungen. Eine Luther-Dekade wurde ausgerufen. Landauf landab bewarb Margot Käßmann, ehemals Landesbischöfin und Ratsvorsitzende der EKD, als „Botschafterin für das Reformationsjubiläum 2017“ das Gedenkjahr. In Wittenberg und Berlin findet im Mai der Evangelische Kirchentag statt. Der 31. Oktober wird 2017 deutschlandweit einmalig als gesetzlicher Feiertag begangen werden. Das geplante Luther-Denkmal vor der Berliner Marienkirche polarisiert. Luthers Erbe bleibt umstritten. Global bedeutsam bleibt es trotzdem.
Der akademische Diskurs evangelischerseits, ob man trotz der antisemitischen Hasstiraden des Reformators die Theologie Luthers würdigen dürfe, wirkt auf viele Interessierte ebenso künstlich wie die Diskussionen auf katholischer Seite, ob katholische Christen 2017 angesichts der Kirchentrennung wirklich etwas zu feiern hätten. Zwei Schattenpositionen spielen untergründig mit: „Lutherische Leidenschaft (Susanne Breit-Keßler) muss gegen eine nie offen artikulierte „Rückkehr-Ökumene“ ankommen, die von jenen Katholiken ins Spiel gebracht wird, die weder das Zweite Vatikanische Konzil noch die eindeutige Absage Papst Johannes Pauls II. an diese Form von ökumenischer Weggemeinschaft bejaht haben.
Dass Luther keine neue Kirche wollte, sondern Reformen, dürfte zum Minimalkonsens auf beiden Seiten gehören. Dass die katholische Kirche Luther dankbar sein kann, weil sie sich selber, leider verspätet, durch das Konzil von Trient (1545-1563) auf den Weg der Kirchenreform und Erneuerung begab, findet schon weniger Zustimmung. Papst Franziskus war am 31. Oktober 2016 im schwedischen Lund, dem Gründungsort des Lutherischen Weltbunds vor siebzig Jahren. Papst Benedikt XVI. hatte bei seiner Deutschlandreise im September 2011 das Augustinerkloster in Erfurt besucht und dabei die klassische Lutherfrage „Wie kriege ich einen gnädigen Gott?“ aufgegriffen: „Diese brennende Frage Luthers muss wieder neu und gewiss in neuer Form auch unsere Frage werden, nicht akademisch, sondern real. Ich denke, dass dies der erste Anruf ist, den wir bei der Begegnung mit Martin Luther hören sollten.“
Auch die damalige Feststellung des bayerischen Papstes sollte nicht vergessen werden: „Es war der Fehler des konfessionellen Zeitalters, dass wir weithin nur das Trennende gesehen und gar nicht existentiell wahrgenommen haben, was uns mit den großen Vorgaben der Heiligen Schrift und der altchristlichen Bekenntnisse gemeinsam ist.“ 2017 wird als „gemeinsames Christusfest“ begangen, nicht einfach als Lutherfest – kein Personenkult! Drobinski hat Recht: „Gerade das ist die große Chance des Reformationsgedenkens 2017 – wenn es kein triumphales, sondern ein leidempfindliches Gedenken wird, sich der Schatten bewusst.“
Statt von Mischehe – jahrhundertelang leidvolle pastorale Realität – spricht man heute von konfessionsverbindender Ehe. Es gibt enorme Fortschritte in Sachen Taufe. Die Ämter- oder Abendmahlsfrage und Anderes bleiben heikel. Eine Ökumene der Pragmatik ist weder ehrlich noch zielführend. „Versöhnte Verschiedenheit“ ist jedoch kein Containerbegriff oder eine Zauberformel. Was sie konkret bedeutet, bleibt der ökumenischen Knochenarbeit aufgetragen.
Begegnungen, Gesten, echtes Hinhören, wie es Papst Franziskus etwa in der Evangelischen Christusgemeinde in Rom (November 2015) praktiziert hat, helfen weiter. Das darf nicht unterschätzt werden. Ökumenische Theologie kennt dann wieder andere Regeln und Geschwindigkeiten. Antworten auf der Suche nach der Einheit lassen sich nur im Blick auf ein Dokument finden, das die gemeinsame Grundlage christlichen Glaubens ist: die Bibel. Das Evangelium verpflichtet – beide Seiten. Dazu kommt die kritische Würdigung der eigenen Tradition und der des Anderen. „Wir brauchen eine rezeptive, voneinander lernende Ökumene“, sagt Kardinal Walter Kasper. In ihrem gemeinsamem Wort zum Jahr 2017 betonen EKD und DBK: „Die Heilung der Erinnerungen ist eingebettet in die Geschichte des ökumenischen Lernens und nimmt die wechselseitigen produktiven Erfahrungen in der Diakonie und Caritas auf.“