Wenn Christen ihre Glaubenstradition angesichts einer globalisierten und multireligiösen Kultur neu ausbuchstabieren, hilft weder ein Rückgriff auf einen vorkonziliaren Katholizismus noch auf ein evangelisches Milieu von einst. Fundamentalistische und rechtskonservative Reaktionen scheinen zwar instinktiv naheliegend, sind letztlich jedoch selbstbehauptende und defensive Versuchungen. Aber auch die kirchlichen Aufbruchsbewegungen der 1960er- und 1970er-Jahre, die sich dem Säkularen allzu unkritisch annäherten, sind an einem toten Punkt angelangt. Ihre Glaubenssubstanz ist aufgebraucht und veräußert.
Die Assimilation an die Mehrheitskultur macht das Christentum überflüssig, weil es keine Alternative mehr darstellt. Eine genuin theologische Neubestimmung des Glaubens tut not. Dabei muss christliche Glaubensidentität in An- und Abgrenzung mit dem Anderen des Eigenen erarbeitet werden. Die im Identitätsdiskurs gewonnene Einsicht lehrt, dass jede Identität durch die negierten Alternativen mitkonstituiert wird1. Jede Tradition schafft eine Gegentradition und ist durch sie mitdefiniert. Bemüht man sich nicht um ein positives Verhältnis zur nicht gewählten Alternative, formuliert sich Identität immer auf ihre Kosten. Letztere ist dann Selbstsetzung und immer auch gewalttätig. Formulierung von Wahrheit wird zu Halb- und Unwahrheit, wenn sie den Kontext nicht einbezieht, denn die Alternative ist nur allzu oft nicht das Falsche, sondern eine andere wahre Möglichkeit.
Vergangenheit und Gegenwart
Die Kämpfe zwischen den christlichen Konfessionskirchen seit dem 16. Jahrhundert sind ein sprechendes Beispiel, wie Katholizismus und Reformationskirchen sich auf Kosten des je Anderen konstituiert haben und dabei nicht merkten, wie sehr das Gegenüber die eigene Identität je mitbestimmte. Die römisch-katholische Kirche, tridentinisch geprägt und auf Sakramente konzentriert, ist im gleichen Zeitraum wie die Kirchen der Reformation mit ihrer Konzentration auf die Heilige Schrift entstanden. Ein Blick ins 16. Jahrhundert zeigt zudem, dass die christliche Selbstvergewisserung mit einer Verteufelung des Islam vor den Toren Europas und einer verstärkten Judenfeindlichkeit in Europa einherging. Die Nacharbeit und die Nachwehen der Vertreibung von Juden (1492) und Muslimen (1515) aus Spanien sowie die Abwehr der Türken vor Wien (1529) stehen mit einer römisch-katholischen wie auch reformatorischen Neubesinnung auf das Christliche in Interaktion. Judentum und Islam, aber auch die Menschen der entdeckten neuen Welt, mussten als Negativfolien herhalten2.
Für den christlichen Glauben heute stellt die säkulare Moderne, die aus ihm hervorgegangen ist, diesen Anderen dar. So muss christliche Existenz soziologisch und anthropologisch fundiert sein; ohne Dialog mit der Gegenwartskultur kommt sie nicht aus. Entscheidend aber ist, dass die Formprinzipien des Glaubens erneut prägend werden. Dazu bedarf es des Rückgriffs auf Schrift und Tradition, wie es zum Beispiel in der sogenannten „radikalen Orthodoxie“ geübt wird, vertreten durch John Milbank (* 1952)3. So greift dieser auf die patristische und scholastische Tradition zurück, um wieder einen Freiheitsbegriff in den Blick zu nehmen, der das Individuum nicht nur emanzipatorisch herauslöst, sondern auch auf verantwortete Selbstbindung und Werte hin ausrichtet. Doch nicht nur die säkulare Weltanschauung, auch die beiden anderen monotheistischen Glaubenstraditionen sind „die Anderen“ des christlichen Glaubens. Das Erstarken des Islam in Europa sollte als Chance wahrgenommen werden, sich mit dem Anderen seiner selbst auseinanderzusetzen, hat sich der Islam doch in Abgrenzung zu Christentum und Judentum als eine Reformbewegung entwickelt4. Das Judentum aber ist der konstituierende Präzedenzfall des Anderen, der dem Christentum so nahesteht, dass sich die Kirche oft selbst für das „wahre Israel“ gehalten hat. Als „Judentum für Nicht-Nichtjuden“ wurde christlicher Glaube auch schon bezeichnet5.
So wenden wir uns in diesem Beitrag dem Judentum zu und blicken zunächst auf zwei Protagonisten der Reformation und der katholischen Reform sowie ihr Verhältnis zu den Juden: In einem ersten Abschnitt geht es um Martin Luther und seine Judenschriften, im zweiten um den Spanier Ignatius von Loyola. Im dritten Teil stellen wir das neueste Dokument aus dem Vatikan zum jüdisch-katholischen Verhältnis vor, das am 10. Dezember 2015 veröffentlicht wurde. Zeitgleich haben orthodoxe Rabbiner eine Neueinschätzung des Christentums vorgelegt – ein Novum in der Dialoggeschichte, die abschließend unser Interesse auf sich zieht.
Luthers Judenschriften
Jubiläen bieten stets Gelegenheit, die eigene Identität durch Besinnung auf den Ursprung zu stärken. Sie tragen daher die Versuchung in sich, durch Negativdarstellung des Anderen sich selbst zu profilieren. Beim Gedenken an fünfhundert Jahre Reformation will die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) genau dies verhindern. Sie hat zu einem ökumenischen Erinnern und Feiern eingeladen. Sie stellt sich aber auch den dunklen Seiten von Martin Luther.
So fanden im Jahr 2015 Tagungen statt, die sich mit seinem Antijudaismus und dessen Auswirkungen bis hin zum Nationalsozialismus auseinandersetzten6. Der Blick konzentrierte sich auf die größeren Judenschriften Luthers, auf „Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei“ (1523) und auf „Von den Juden und ihren Lügen“ (1543). Das Klischee eines jungen, judenfreundlichen und eines alten Luther, der die Juden hasst, wie es eine oberflächliche Lektüre nahelegt, hat das 19. und 20. Jahrhundert geprägt. So priesen die emanzipierten deutschen Juden Luther als Vorkämpfer ihrer Gleichberechtigung und stützten sich auch auf seine Frühschrift, während die nationalsozialistischen Antisemiten ihre Judenvernichtung mit Luthers Verfluchung der Juden rechtfertigten. Während die Ersteren Luthers Bibelübersetzung als Annäherung des jüdischen an den deutschen Geist verstanden, sahen die Nationalsozialisten darin eine Jugendsünde Luthers, deren negative Spätfolgen sie durch Judenvernichtung korrigieren wollten.
Die Zweiteilung in einen judenfreundlichen und einen judenfeindlichen Luther kann sich bei genauerem Hinschauen nicht halten. Vielmehr kommt heute die Kontinuität in Luthers Verhältnis zu den Juden mehr und mehr in den Blick: Der Wittenberger Theologieprofessor legt, angefangen bei seinen Psalmenvorlesungen von 1513 bis 1515, die hebräische Bibel ganz auf Christus hin aus. Sie hat für ihn nur als Altes Testament der Christen einen Sinn. So ist er überzeugt, dass sich die Juden zum Christentum bekehren müssen und wirbt in seiner Frühschrift dafür; dass sich die Juden nicht zur verkommenen Papstkirche bekehrt hätten, scheint Luther einleuchtend. Doch nach der Wiederherstellung des reinen Evangeliums und der erneuerten Kirche durch die Reformation, müssten sich die Juden überzeugen lassen. Die Bekehrung der Juden wird für Luther zum Tatbeweis seiner geglückten Glaubensreform. Der Göttinger Historiker Thomas Kaufmann meint zu Recht, dass es Luther kaum um die Juden selbst ging, sondern vielmehr darum, die Judenmission der römischen Kirche zu kritisieren oder theologische Konzepte anderer Reformatoren zurückzuweisen7. Dass der freundlichere Ton im Umgang mit den Juden angesichts dieser enttäuschten Erwartung später in Hass umschlägt, lässt sich psychologisch erklären. Nur ist dies lediglich ein Aspekt seines Gesinnungswandels.
Kontinuität im Denken Luthers
Luther war durch die antijudaistischen Vorurteile seiner Zeit geprägt. Die Darstellung der „Judensau“ an der Tür der Schlosskirche von Wittenberg deutete er als angemessenes Bild für die Juden, die sich mit dem Talmud befassen. Durch das Buch „Der Gantz jüdisch Glaub“ (1530) des Konvertiten Anthonius Margaritha, der jüdische Rituale und Bräuche als gotteslästerliche Verehrung darstellte, fühlte sich Luther in seinen Ansichten bestätigt. So gab er auch Rabbiner Josel von Rosheim, Repräsentant der Elsässer und später der Juden im ganzen Reich, abschlägigen Bescheid, als dieser ihn 1537 bat, er möge sich für das Aufenthaltsrecht von Juden in Kursachsen einsetzen. Luther meinte, Juden treffe das Elend zu Recht, solange sie Jesus lästerten. In seiner Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“ geht er dann weit über den zeitüblichen Antijudaismus hinaus. Er fordert gar dazu auf, die Juden zu vertreiben, ihre Häuser zu plündern, die Synagogen anzuzünden usw.
Wie Micha Brumlik aufgezeigt hat8, geht es Luther dabei um Maßnahmen für die Gebiete, in denen sich die Reformation durchsetzt: Gemäß seiner Zwei-Reiche- Lehre sind die Fürsten für die öffentliche Ordnung zuständig. So sprach er ihnen 1525 die Autorität zu, den Bauernaufstand niederzuschlagen und 1543 die Juden zu vertreiben. Luther argumentiert theologisch, politisch und ökonomisch: Wenn er die Juden als „Fremdlinge“ bezeichnet und sie mit „scharfer Barmherzigkeit“ angegangen werden sollen, sind zudem frühnationalistische Untertöne unüberhörbar. Selbst in einer seiner letzten Predigten im Januar 1546, kurz vor seinem Tod, verfluchte Luther nochmals die Juden in seiner Geburtsstadt Eisleben, wo er Graf Albrecht von Mansfeld unterstützte, der die Juden tatsächlich aus seinem Herrschaftsgebiet vertrieb.
Aufgrund seiner nur christlichen Lesart der Bibel war Luthers Theologie, die Gnade und Gesetz, Glaube und Werk einander gegenüberstellt, bewusst antirömisch formuliert, unbewusst zudem antijüdisch unterfüttert. Seine Heilsvergewisserung, die sich ganz der persönlichen Beziehung des Menschen mit Christus ergibt und die breitere Heilsgeschichte zusammenschrumpfen lässt, neigt ebenso immer schon zu Antijudaismus. Hier gilt es bis heute, achtsam zu sein. Sich von Luthers Judenschriften zu distanzieren, genügt nicht. Vielmehr muss seine ganze Gnadentheologie auf implizite Formulierung auf Kosten des Judentums bedacht werden.
Genau dies unterstreicht denn auch eine offizielle Kundgebung der EKD vom November 2015: „Luther verknüpfte zentrale Einsichten seiner Theologie mit judenfeindlichen Denkmustern.“9 Daher müsse man sich heute in einem neuen Aufbruch „in Theologie und Kirche der Herausforderung (stellen), zentrale theologische Lehren der Reformation neu zu bedenken und dabei nicht in abwertende Stereotype zu Lasten des Judentums zu verfallen. Das betrifft insbesondere die Unterscheidungen ,Gesetz und Evangelium‘, ,Verheißung und Erfüllung‘, ,Glaube und Werke‘ und ,alter und neuer Bund‘.“10 Wie dies zu geschehen hat, ist aber weiterhin Streitpunkt, wie die laufende Auseinandersetzung zwischen Volker Leppin und Dorothea Wendebourg zeigt11.
Dass die Reform des Glaubens nicht mit verstärktem Antijudaismus einhergehen muss, wie dies bei Luther der Fall war, zeigte sich bereits im 16. Jahrhundert: Der Genfer Reformator Johannes Calvin oder Heinrich Bullinger, der Zürcher Nachfolger von Huldrych Zwingli, aber auch Humanisten wie der Süddeutsche Johannes Reuchlin, hatten ein weit toleranteres Verhältnis zu den Juden und distanzierten sich zuweilen auch explizit von Luther.
Ignatius von Loyola und die Juden
Mit der Entdeckung der neuen Welt und dem Rückgriff auf die Antike wurde das Europa des 16. Jahrhunderts in einen umfassenden gesellschaftlichen Umbruch hineingestoßen. Dazu gehörten vielfältige kirchliche Reformbewegungen, von denen einige in die Reformationskirchen münden sollten, während andere verfolgte Glaubensminderheiten blieben und wieder andere di e katholische Reform darstellten. In der Umgestaltung der römisch-katholischen Kirche wuchs dem von Ignatius von Loyola (1491-1556) gegründeten Jesuitenorden eine entscheidende Rolle zu. Daher ist es angemessen, auf Loyolas Verhältnis zu den Juden zu blicken12. Wie Luther rang er um einen erneuerten Glauben und die Reform der Kirche.
Ignatius war im Gegensatz zu Luther nicht in erster Linie Theologe, vielmehr ein durch die mystische Erfahrung geprägter Laie. Nach seiner Bekehrung 1521 suchte er eine so innige Nähe zu Jesus wie nur möglich: Die Worte Jesu schrieb er sich mit roter Tinte ins Notizbuch und brach als Pilger nach Jerusalem auf. Er wollte in der irdischen Heimat Jesu leben und daselbst Muslime bekehren. Seine Aussage, es wäre für ihn eine Gnade, jüdischer Herkunft zu sein, weil er dann Jesus und Maria nicht nur dem Geiste, sondern auch dem Blut nach verwandt wäre13, schockierte seine Zeitgenossen14. Nicht nur verteidigte er Juden und Neuchristen, wenn andere über sie lästerten. 1527 wurde er selbst von der Inquisition judaisierender Tendenzen verdächtigt, d. h. es wurde ihm vorgeworfen, er halte Christen dazu an, den Sabbat zu befolgen15.
Sein überdurchschnittlich positives Verhältnis zu Juden und Conversos erklärt sich aus seiner Situation als Neubekehrter: Er suchte die Nähe zu Jesus und war ganz vom paulinischen Geist ergriffen, für den es in Christus weder Juden noch Griechen gibt (vgl. Gal 3,28). Als asketischer Charismatiker stand er den Alumbrados nahe, wie die mystisch Erleuchteten genannt wurden, die die hierarchische Kirchenstruktur kritisierten oder ganz ablehnten, und hatte religiös und sozial eine Außenseiterposition inne.
Mit dem Theologiestudium in Alcalá de Henares und Paris begann ab 1527 für Ignatius gleichsam der „Gang durch die Institutionen“. Nach vollendetem Studium wurden er und seine Gefährten zunächst als „preti reformati“ und sogar als Lutheraner wahrgenommen. Als der Plan, gemeinsam ins Heilige Land aufzubrechen, gescheitert war, trat Plan B in Kraft: Die Gefährten ließen sich in Rom nieder, und Ignatius tauschte den Blick des gen Himmel fahrenden Jesus auf die Welt vom Ölberg aus, den er vor seiner Rückkehr aus Jerusalem eigens nochmals einfangen hatte, wie er selbst erzählt16, gegen den Blick des Nachfolgers Petri ein. Nun vertraute er sich und den Orden, den er 1540 gründete, dem Papst als Stellvertreter Jesu Christi auf Erden an.
Gegen Juden und Konvertiten
Ignatius sollte sich als Ordensoberer in Italien mit der Bekehrung der Juden zu befassen haben, auf der Iberischen Halbinsel aber, wo die Gesellschaft Jesu besonders rasch wuchs, mit der Frage der Conversos. Gesellschaftlich und kirchenpolitisch war die Judenfrage seit über einem Jahrhundert immer akuter geworden. 1516 errichtete Venedig für Juden das erste Ghetto, und Papst Paul III. (1534-1549) verschärfte die bis dahin relativ lockere Judengesetzgebung im Kirchenstaat. Unter Papst Paul IV., der 1555, allerdings erst ein Jahr vor Ignatius’ Tod, sein Amt antrat, kam es zu einem eigentlichen Bekehrungseifer gegenüber Juden. Ignatius teilte die Bemühungen um Judenmission unter Paul III.17. So wirkte er auf die päpstliche Bulle „Cupientes iudaeos“ von 1542 ein, die es Juden erlauben sollte, beim Übertritt in die Kirche ihren Besitz zu behalten, und ließ ein Jahr darauf mit päpstlichem Segen ein Haus in Rom eröffnen, um Juden in den christlichen Glauben einzuführen. Die Konversion sollte einerseits erleichtert werden, anderseits auf einem fundierten Glauben beruhen. Ignatius war, wie alle Katholiken seiner Zeit, von der Heilsnotwendigkeit der Taufe überzeugt. Antijudaismus oder Gewaltanwendung lagen ihm jedoch fern.
Die Königreiche Spanien und Portugal des 16. Jahrhunderts begnügten sich nicht mit der Judenvertreibung von 1492 bzw. 1496. Nun fühlte man sich von den Conversos bedroht und empfand sie als Emporkömmlinge. Ihre Diskriminierung war omnipräsent, und es erhob sich der Ruf nach einer limpieza de sangre, nach reinem, judenfreiem Blut in Kirchenämtern und Orden18. Gesetze wurden erlassen, die Conversos den Zugang zu Kirchenämtern verboten. Die bedeutenden Orden nahmen ab Mitte des 16. Jahrhunderts keine Neuchristen mehr auf. Dagegen wehrte sich Ignatius mit aller Heftigkeit, weil er dadurch den Glauben an Christus verraten sah, der jede ethnische Herkunft oder soziale Stellung relativiert19.
Diese Pro-Conversos-Haltung hatte zur Folge, dass überdurchschnittlich viele von ihnen in die Gesellschaft Jesu eintraten. Sowohl sein engster Mitarbeiter, sein Sekretär Juan Alonso de Polanco SJ, als auch der zweite Ordensgeneral, Diego Laínez SJ, dem Ignatius seit der Studienzeit in Paris freundschaftlich verbunden war, waren jüdischer Herkunft. In Cordoba wurde 1572 abschätzig über die Jesuitenschule gesagt, es träten nur „Juden“ in sie ein. Der zwischen 1584 und 1589 entstandenen Anti-Conversos-Denkschrift des Jesuiten Benedetto Palmio ist zu entnehmen, dass der Jesuitenorden zuweilen verächtlich „Synagoge der Juden“ genannt wurde. Die Neuchristen prägten den jungen Orden wesentlich, wie interne Auseinandersetzungen zeigen. Auch die eigene kasuistische Ethik- und Rechtstradition der Jesuiten, die sich langsam entwickelte, dürfte durch die Conversos mitbegründet sein. Hatten sich Ignatius, Diego Laínez und der dritte Generalobere Franz Borja noch klar gegen eine limpieza de sangre ausgesprochen, beginnt sich ab 1573 auch unter Jesuiten die Anti-Conversos-Haltung durchzusetzen. 1593 wurden entsprechende Statuten im Orden eingeführt. Obwohl das Verbot, Christen jüdischer Herkunft in den Orden aufzunehmen, umstritten war und 1608 abgeschwächt wurde, blieb es bis 1947 in Kraft20.
Der Orden vergaß seine Ursprungsgeschichte und partizipierte später am üblichen katholischen Antijudaismus. Zur Zeit des modernen Antisemitismus wurde diese Situation tragisch, da die Gesellschaft Jesu ebensolcher Verleumdung und Polemik ausgesetzt war wie die Juden21. Antijesuitische Literatur war zuweilen der antisemitischen zum Verwechseln ähnlich. Obwohl Juden wie Jesuiten als Feinde der nationalistischen Moderne galten, blieben Jesuiten antijüdisch, wie dies zum Beispiel an der Jesuitenzeitschrift „La Civiltà Cattolica“ jener Zeit ablesbar ist: Juden und Jesuiten – ein tragisches Paar! Ein Umdenken auf Jesuitenseite hat erst nach der Shoah stattgefunden. Dass mit Kardinal Augustin Bea aber ein Jesuit hauptverantwortlich ist für das Entstehen von „Nostra aetate“, der Konzilserklärung, die das Verhältnis der Kirche zum Judentum erneuert hat, dürfte eine glückliche Fügung sein.
Neuverortung des Judentums in der Heilsgeschichte
Fünfzig Jahre nach der Promulgation des Konzilsdokuments „Nostra aetate“ zieht der Päpstliche Rat für die Förderung der Einheit der Christen mit einem neuen Dokument Bilanz: „Denn unwiderruflich sind Gnade und Berufung, die Gott gewährt.“ (Röm 11,29)22. Dabei wird mit Genugtuung festgestellt: „Mit [...] Nostra aetate Nr. 4 bekennt sich die Kirche eindeutig in einem neuen theologischen Rahmen zu den jüdischen Wurzeln des Christentums.“ (Nr. 17) Das Dokument betont,
„dass Christen und Juden unwiderruflich aufeinander angewiesen sind [...] Die Kirche stünde ohne ihre jüdischen Wurzeln in der Gefahr, ihre heilsgeschichtliche Verankerung zu verlieren und erläge damit einer letztlich unhistorischen Gnosis.“ (Nr. 13)
Die im ersten Kapitel skizzierte Wirkungsgeschichte von „Nostra aetate“ 4 gibt einen wertvollen Überblick über die vatikanischen Erklärungen und Begegnungen. Sie zeugen von vielfältigen religiösen Beziehungen zum Judentum.
Natürlich mussten auch immer wieder Irritationen überwunden werden: die Aufregung um die Selig- und die Heiligsprechung von Edith Stein (1987/1998) oder um die Bemühungen zur Seligsprechung von Pius XII., der zur Zeit der Shoah im Amt war. Auch die Neuformulierung der Karfreitagsfürbitte für den außerordentlichen tridentinischen Ritus durch Papst Benedikt XVI. anno 2008 wurde als neue Aufforderung zur Judenmission verstanden und irritiert bis heute. Die jüdische Seite fordert zudem noch immer die vollständige Öffnung der Vatikanischen Archive für die Historiker, welche die Rolle des Vatikans während der nationalsozialistischen Herrschaft untersuchen sollten.
Kritikern des neuen Dokuments ist zudem aufgefallen, dass weder beim Blick zurück noch bei den weiteren aktuellen Fragen eine Theologie des Landes oder das Verhältnis zum Staat Israel auch nur angesprochen wird. Trotz all dieser Punkte sind die Beziehungen zwischen dem Oberrabbinat in Israel, dem International Jewish Committee for Interreligious Consultations (IJCIC) und dem Vatikan sehr freundschaftlich. Nicht nur ein „solides Fundament“ für den Dialog sei gelegt, vielmehr seien Juden und Katholiken einander in den letzten Jahrzehnten „verlässliche Partner“ und „gute Freunde“ geworden (Nr. 2).
Neudeutung auf beiden Seiten
Der neue, von Kurienkardinal Kurt Koch verantwortete Text besteht aus 49 Artikeln und will für heute weitere „Reflexionen zu theologischen Fragestellungen in den katholisch-jüdischen Beziehungen“ vermitteln, wie es im Untertitel heißt. So wird gemäß neuesten historischen Erkenntnissen das mehrere Jahrhunderte andauernde „Auseinandergehen der Wege“ nachgezeichnet, das zur Entstehung von rabbinischem Judentum und antikem Christentum in Form zweier Traditionen geführt hat. Angesichts von Christusereignis und Tempelzerstörung mussten nämlich Christen wie Juden die Hebräische Bibel und die Offenbarungsgeschichte je neu deuten.
Die katholische Seite weist dann eindeutig die Substitutionslehre zurück, gemäß der sich die Kirche bis zum Konzil als „wahres Israel“ verstand, das im Heilsplan Gottes an die Stelle des Judentums getreten sei (Nr. 17). Vielmehr wird an Aussagen von Papst Johannes Paul II. angeknüpft, dass Juden und Christen in einer konstitutiven Verschränkung zueinander stünden. Die Beziehung der Kirche zum Judentum sei nicht einfach interreligiös, sondern stelle ein Verhältnis sui generis dar, wie das zweite Kapitel ausführlich darlegt. So ist christliche Identität von Gott her an den Anderen gebunden. Diese dialogische Verschränkung gehört zur christlichen Wahrheit und hat nach dem vatikanischen Dokument paradigmatischen Charakter, wenn es religionstheologische Überlegungen anfügt:
„Das Verhältnis zum Judentum kann in dieser Hinsicht als Katalysator zur Verhältnisbestimmung zu den anderen Weltreligionen betrachtet werden. Aus theologischer Sicht jedoch hat der Dialog mit dem Judentum einen völlig anderen Charakter und liegt im Vergleich mit anderen Weltreligionen auf einer anderen Ebene.“ (Nr. 19 f.)
Das Dokument behandelt weiter verschiedene theologische Fragen: das Verhältnis von Offenbarung in der Geschichte und in den Heiligen Texten, aber auch die Beziehung zwischen Altem und Neuem Testament. Die zentrale Thematik des Textes besteht aber darin, wie der Glaube, dass alle Menschen durch Christus Heil erlangen, mit dem Glauben an die Erwählung Israels zusammengehe. Die Lehre vom „ungekündigten Bund“ zwischen Gott und Israel wird mit dem Bund in Christus und auch dem Abrahambund verknüpft, der Juden und Christen verbindet (vgl. Nr. 33). Wie schon Abrahams Berufung ein Segen für alle Völker sei, so sei auch Christi Heilswerk universal. Wie durch den erstgenannten Bund, so ist auch durch den zweitgenannten der besondere Bund von Gott mit den Juden nicht aufgehoben. Judentum und Christentum stellten je legitime Wege der Auslegung der Bibel dar, wie dies bereits ein Dokument der Päpstlichen Bibelkommission 2000 festhielt23. Damit würden aber nicht „zwei Heilswege“ nebeneinander bestehen, einer mit Christus und einer ohne Christus, wird gleich drei Mal explizit betont (Nr. 25, 35, 37). Ihr Verhältnis wird umkreist, und daraus resultiert dasselbe Fazit wie in Röm 9-11:
„Dass die Juden Anteil an Gottes Heil haben, steht theologisch außer Frage, doch wie dies ohne explizites Christusbekenntnis möglich sein kann, ist und bleibt ein abgrundtiefes Geheimnis Gottes.“ (Nr. 36)
Gegen eine Besessenheit von Idealen
Wie der Blick in die Geschichte schon gezeigt hat, taucht die Frage der Judenmission gerade bei christlichen Reformbemühungen immer wieder auf. Sie ist unmittelbar mit dem universalen Heilsanspruch in Jesus Christus verbunden. In den USA wie auch in Deutschland hat sie in den letzten zehn Jahren zu heftigen Diskussionen geführt. Im Anschluss an eine Auslegung von Röm 9-11 kann das Nein der Juden zu Christus positiv gedeutet werden, weil es die Christianisierung der Heiden überhaupt erst möglich macht24.
Das Dokument unterstreicht in dieser äußerst sensiblen Frage, dass der traditionelle Taufbefehl die Menschen aller Völker durch Christus zum Gott der Bibel bringen will. Die Juden aber sind bereits bei Gott. Die katholische Kirche betreibe daher keine institutionelle Judenmission, jeder einzelne Christ habe jedoch auch vor Juden seinen Glauben zu bezeugen, stets mit Taktgefühl angesichts der gewaltvollen Geschichte zwischen Juden und Christen (vgl. Nr. 42):
„Die Kirche ist von daher verpflichtet, den Evangelisierungsauftrag gegenüber Juden, die an den einen und einzigen Gott glauben, in einer anderen Weise als gegenüber Menschen mit anderen Religionen und weltanschaulichen Überzeugungen zu sehen.“ (Nr. 40)
Wie dieser Auftrag aussehen könnte, wird leider nicht weiter ausgeführt. Es wird darauf hingewiesen, dass sich die Kirche seit Anbeginn aus Nicht-Juden und Juden zusammengesetzt habe (vgl. Nr. 15). Zum ersten Mal scheinen damit in einem Dialogdokument des Vatikans die sogenannten Judenchristen auf. Ein Minenfeld wird angesprochen. Erfreulich ist, dass sich das kirchliche Dokument differenziert in diese so sensible Frage hineinwagt, auch wenn die Theologie noch nach Lösungen suchen muss. Dazu diente ein Kolloquium in der Pfingstwoche 2016 am interreligiösen „Woolf- Institute“ im britischen Cambridge, bei dem davor gewarnt wurde, dass ein fast besessenes Insistieren der Christen auf der Frage der Judenmission für den Dialog genauso schädlich sei wie die jüdischerseits ebenso besessene Fokussierung auf die Frage von Land und Staat Israel.
Orthodoxe Rabbiner wertschätzen die katholische Kirche
Der Delegation unter der Leitung von Kardinal Koch saß in Cambridge eine jüdische Delegation gegenüber, zu der die beiden Rabbiner David Rosen aus Jerusalem und Joshua Ahrens aus Düsseldorf gehörten. Beide sind Initiatoren und Mitunterzeichner eines ersten Dokuments von orthodoxen Rabbinern aus Israel, Europa und den USA, das die theologische Erneuerung in Bezug auf das Judentum seit „Nostra aetate“ anerkennt und zugleich auch einen revidierten Blick auf die Christen wirft. Es wurde am 3. Dezember 2015, nur eine Woche vor dem vatikanischen Schreiben und mit Wissen darum, veröffentlicht25.
Eine orthodoxe Erklärung stellt ein Novum in der Geschichte des jüdischchristlichen Dialogs dar, denn 1964 – mitten in der Entstehungsphase von „Nostra aetate“ – empfahl Rabbiner Josef Dov Soloveitchik dem „Rabbinical Council of America“, zwar mit den Katholiken in sozialen und gesellschaftlichen Bereichen zusammenzuarbeiten, einen Dialog über theologische Fragen jedoch zu vermeiden. So wurden auf jeden Fall seine Rede und sein Aufsatz „Confrontation“ interpretiert, der zu seinem klassischen Vermächtnis geworden ist26.
Angesichts von Soloveitchiks Autorität waren orthodoxe Juden im Dialog mit den Christen zurückhaltend bis ablehnend. Das bisher wichtigste Dokument von jüdischen Gelehrten zum Dialog mit den Christen stammte denn auch aus Reformkreisen: „Dabru Emet“ aus dem Jahr 2000 versuchte in acht Thesen, Errungenschaften des bilateralen Gesprächs und auch Gemeinsamkeiten von Juden und Christen zu formulieren27. Obwohl von zahlreichen Gelehrten unterzeichnet, wurde es auf jüdischer Seite schlecht aufgenommen, da schon die erste These, Juden und Christen würden denselben Gott anbeten, bestritten wird, was angesichts des christlichen Trinitätsglaubens auch verständlich ist. Auf christlicher Seite hingegen wurde „Dabru Emet“ sehr begrüßt28.
Die Initiative zum neuen orthodoxen Dokument wurde nach einer jüdisch-katholischen Konferenz zum 50-Jahr-Jubiläum von „Nostra aetate“ ergriffen, die durch die Bewegung des Neokatechumenalen Wegs im Mai 2015 in Galiläa organisiert worden war. Sie ging von Rabbinern im Umkreis von Rabbiner Schlomo Riskin aus, der in Efrat bei Bethlehem ein jüdisch-christliches Dialogzentrum führt, wobei es die Ironie der Geschichte will, dass Riskin selbst seine Ordination einst von Soloveitchik erhalten hatte. Das theologisch gehaltene Statement will nicht nur Gemeinsamkeiten von Juden und Christen formulieren. Es wertet aus traditioneller und halachischer Perspektive das Christentum neu. Ihm wird aus der halachischen Tradition heraus mit Wertschätzung begegnet und eine Bedeutung in der Geschichte zugemessen. Damit steht es in analoger Perspektive zum neuen vatikanischen Dokument von 2015, das auch nicht Konsens sucht, sondern die katholische Glaubenslehre so formuliert, dass sie in sich kohärent ist, aber nicht auf Kosten des Judentums vertieft wird. Diese unterscheidende Angrenzung bei der Formulierung des je eigenen Glaubens zeugt von der Reife, die der jüdisch-christliche Dialog in den letzten Jahren erlangt hat.
Lebendiger Dialog
Das sieben Paragrafen starke Dokument trägt den Titel „Den Willen unseres Vaters im Himmel tun: Hin zu einer Partnerschaft zwischen Juden und Christen“. Es versteht sich als eine Antwort auf das Dialogangebot der Christen: „Wir möchten den Willen unseres Vaters im Himmel tun, indem wir die uns angebotene Hand unserer christlichen Brüder und Schwestern ergreifen“, heißt es in der Einleitung. Soloveitchik konnte seinerzeit noch nicht wissen, ob das Dialogangebot echt war. Nun aber können konkrete Veränderungen genannt werden: einerseits die Buße und Abkehr der Kirche vom Antijudaismus, die mit dem starken jüdischen Wort „teschuva“ bezeichnet werden kann, und anderseits ihr positives theologisches Verständnis des Judentums. Erstere hat in der Bitte um Vergebung im Zuge der Millenniumsfeiern von Papst Johannes Paul II. und im Dokument „Wir erinnern“ (1998) einen offiziellen Ausdruck gefunden, letztere in der Lehre vom „ungekündigten Bund“ und vom Verzicht auf offizielle Judenmission:
„Jetzt, da die katholische Kirche den ewigen Bund zwischen G-t und Israel anerkannt hat, können wir Juden die fortwährende konstruktive Gültigkeit des Christentums als Partner in der Welterlösung anerkennen, ohne jede Angst, dass dies zu missionarischen Zwecken missbraucht werden könnte.“ (Nr. 3)
Die bis anhin 58 unterzeichnenden Rabbiner sehen somit die Voraussetzung dafür gegeben, „partnerschaftlich“ zusammen mit Christen und in je eigener Berufung, Abbild Gottes zu sein, an der Verbesserung der Welt zu arbeiten und so Erlösung zu bringen (Nr. 6 f.). Auf diese Partnerschaft angesichts ähnlicher Berufung und Engagiertheit für das Wohl der Menschheit läuft der ganze Text hinaus, denn schon einleitend wird erklärt: „Juden und Christen müssen als Partner zusammenarbeiten, um den moralischen Herausforderungen unserer Zeit zu begegnen.“ Dazu liefert die jüdisch-orthodoxe Seite eine positive Sicht des Christentums, die alte Polemik und Vorurteile hinter sich lässt.
Diesem Anliegen sind die Abschnitte drei bis fünf gewidmet: Moses Maimonides und Jehuda Halevi, wie auch Rabbiner der Neuzeit werden zitiert, die im Christentum eine monotheistische Religion sehen, welche Nicht-Juden zum Gott Israels geführt habe (vgl. Nr. 3). Die Aneignung der hebräischen Bibel durch das Christentum wird nicht mehr als Usurpation eingestuft, und die Christen werden wegen des Trinitätsglaubens nicht mehr zu den Götzenverehrern gezählt:
„Rabbi Moses Rivkis (Be‘er Hagoleh) [...] schrieb, dass ‚die Weisen nur auf die Götzendiener ihrer Zeit Bezug nahmen, die nicht an die Schöpfung der Welt glaubten, den Exodus, an Gottes Wundertaten und an das von Gott gegebene Gesetz. Im Gegensatz dazu glauben die Menschen, unter die wir verstreut sind, an all diese Grundfakten der Religion‘.“ (Nr. 5)
Selbstverständlich anerkennt das Dokument weder Jesus als Christus noch den durch ihn gestifteten neuen Bund des Neuen Testaments. Aus rabbinischer Perspektive wird aber anerkannt, dass die Entstehung des Christentums göttlicher Vorsehung entspricht und Christen zum noachidischen Bund gehören, d. h. nach den ethischen Grundsätzen leben, die für Nicht-Juden vorgeschrieben sind (vgl. Nr. 6).
Dieses orthodoxe Dokument ist ein mutiger und äußerst wertvoller Schritt in der Normalisierung jüdisch-christlicher Beziehungen. Es zeugt von Zusammenarbeit auf Augenhöhe und stellt ein Heraustreten aus der Opferrolle dar, ohne die Shoah und die schreckliche Verfolgungsgeschichte durch Christen zu vergessen. Die orthodoxe „Europäische Rabbinerkonferenz“ hat allerdings dazu aufgerufen, „Den Willen unseres Vaters im Himmel zu tun“ nicht zu unterzeichnen. Dahinter scheinen weniger inhaltliche als vielmehr politische Interessen zu stecken. Auf alle Fälle hat sie ein eigenes Dokument angekündigt. Wenn es im Verlauf dieses Jahres erscheinen sollte, wird es ein weiterer Beitrag zur wechselvollen Geschichte des jüdisch-christlichen Dialogs sein. Der jüdisch-katholische Dialog lebt.