„Religion scheint das einzige Mittel zu sein, das dem Menschen gegeben wurde, Gewalt – soziale und politische – einzudämmen und ihr nicht Gegengewalt, sondern eine andere Macht entgegenzusetzen.“1
Spätestens seitdem die Attentäter vom 11. September 2001 beanspruchten, im Namen des Islam zu handeln2, steht diese Religion unter dem Verdacht einer besonderen Neigung zur Gewalt. Weltweit haben sich in den zurückliegenden Jahren zahlreiche Kongresse und wissenschaftliche Publikationen dieser Vermutung gewidmet – mit teils sehr unterschiedlichen Ergebnissen.
Doch nicht nur der Islam wird verdächtigt, Gewalt zu legitimieren. In seinem Buch „Die mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus“ (2003) hat der Heidelberger Ägyptologe Jan Assmann die seither viel diskutierte These formuliert, wonach den monotheistischen Religionen insgesamt ein exklusiver Wahrheitsanspruch inhärent ist. Ihm gegenüber muss jede Abweichung als Irrtum oder Lüge erscheinen, die es – wenn nötig, gewaltsam – auszumerzen gilt3. Noch weiter reicht die Ansicht, ausnahmslos alle Religionen schürten Konflikte und legitimierten Gewalt4. Vor diesem Hintergrund kann es nicht überraschen, dass inzwischen auch das Verhältnis des Christentums zur Gewalt auf dem Prüfstand steht.
Das Christentum – eine Religion der Gewalt?
Bereits 1986 war der erste von zehn Bänden einer „Kriminalgeschichte des Christentums“ erschienen. Die darin von Karlheinz Deschner aufgelisteten Verfehlungen von Christen erregten weniger deshalb Aufsehen, weil sie zuvor unbekannt waren. Provokant erschien vielmehr seine These, wonach Christen in den zwei Jahrtausenden der Kirchengeschichte das im Neuen Testament begründete Ideal und Selbstverständnis des Christentums als einer Religion der Liebe und des Friedens nicht nur gelegentlich und ausnahmsweise, sondern ständig verfehlt hatten. Denn Christen hätten nicht nur im Rahmen der Kreuzzüge, der Inquisition oder der Hexenverfolgungen Gewalt ausgeübt, sondern auch in zahllosen weniger spektakulären Zusammenhängen.
An Deschners monumentale „Kriminalgeschichte“ erinnert das 2015 erschienene Buch von Philippe Buc: „Heiliger Krieg. Gewalt im Namen des Christentums“5. Der derzeit in Wien lehrende französische Historiker schlägt darin bisweilen atemberaubende Bögen von frühchristlichen Märtyrern über die Kreuzzüge bis hin zum Terror der „Rote-Armee-Fraktion“ und zu George W. Bush. Mit Blick auf die zweitausendjährige Geschichte des Christentums will er unter anderem zeigen, wie sehr sich aggressive Aktionen westlicher Staaten „dem Einfluss tiefsitzender christlicher Ideen von Freiheit, Reinheit, Universalismus, Märtyrertum und Geschichte verdanken, die noch bis vor kurzem in Westeuropa vorherrschend waren“6. Hilfreich für das Verständnis des ebenso kenntnisreichen wie herausfordernden Buches ist eine Präzisierung, die Buc in einem Interview vorgenommen hat: „Meine Fragestellung ist nicht, ob das Christentum Gewalt verursacht, sondern eher, wie das Christentum die Formen der Gewalt prägt.“7
Dabei geht es Buc auch um christliche Konzepte, die „den Weg in die Moderne überstanden haben, indem sie sich in Ideen und Ideologien verwandelten, die ohne das Übernatürliche und Gott auskamen, aber vergleichbare Strukturen beibehielten“. Mit Blick auf die Frage, wie solche Säkularisate heutige Formen von Gewalt prägen, kommt Buc nicht umhin, dem Christentum eine dualistische bzw. manichäistische Weltsicht zu unterstellen, wonach die Wirklichkeit in Gut und Böse unterschieden ist.
Tatsächlich wurden in der Geschichte des Christentums zur Legitimation von Gewalt vorrangig solche biblische Texte rezipiert, die dualistische Tendenzen aufweisen. Bis in die jüngste Vergangenheit wurden das Johannesevangelium und mehr noch die Offenbarung des Johannes immer wieder dahingehend beansprucht, kriegerisches Vorgehen oder Gewalt gegen politische Feinde und Andersgläubige zu rechtfertigen. Im apokalyptischen Kampf gegen den Satan oder das „Reich des Bösen“ schien – und scheint – nahezu jedes Mittel erlaubt.
Zweifellos kennt das NT eine Metaphorik des Kampfes – etwa wenn es um die Standhaftigkeit im Glauben geht. Und nicht zu bestreiten sind Tendenzen in frühchristlichen Märtyrerakten, die jeweiligen Peiniger herabzusetzen, sie bisweilen gar zu dämonisieren. Buc scheint aber den paränetischen Charakter der einschlägigen Texte ebenso zu übersehen, wie er die allegorischen Auslegungen beispielsweise des Buches Josua durch die Kirchenväter gegen deren Intention als Anstiftung zur Gewalt interpretiert.
Kritische Anmerkungen wie diese setzen sich freilich rasch dem Verdacht aus, christliche Apologetik betreiben zu wollen. Umgekehrt fällt es schon auf, dass Buc die Forschungen des international renommierten Münsteraner Kirchenhistorikers Arnold Angenendt zum Verhältnis von Christentum und Gewalt nirgendwo erwähnt. Angenendt bemüht sich in seiner voluminösen Monografie „Toleranz und Gewalt“8 unter anderem darum, gewaltsame Vorgänge in der Geschichte des Christentums historisch zu kontextualisieren. Mit Blick auf die Inquisition und auf die Hexenverfolgungen der Frühen Neuzeit gelangt er so zu überraschenden Einsichten, die oft gängige Klischees widerlegen. Im Gegensatz zu Buc betont Angenendt die deeskalierenden und pazifizierenden Traditionen des Christentums. Ist das nun historische Redlichkeit oder apologetische Verschleierung?
Erstaunlicherweise greift Buc auch die neuere Diskussion um die Beziehung zwischen Monotheismus und Gewalt, die Assmann 2003 mit seinem Mose-Buch ausgelöst hat, nicht auf. Dabei hätte er in Assmann wohl einen entschiedenen Befürworter seiner Dualismus-Theorie gefunden. Denn anders als die polytheistischen Religionen der altorientalischen Welt, so Assmann, erheben die biblischen Schriften mit dem Absolutheitsanspruch des einen und einzigen Gottes einen exklusiven Wahrheitsanspruch. Älter noch als der „Monotheismus der Wahrheit“ ist der „Monotheismus der Treue“. Beides wird nach biblischem Zeugnis immer wieder gewaltsam durchgesetzt. Wenngleich dabei nicht unbedingt historische Ereignisse überliefert werden, so bestimmen diese Geschichten doch die Identität Israels, indem sie seine Vergangenheit in Abgrenzung zu anderen Völkern konstruieren.
Allerdings halten nicht wenige Kritiker Assmanns Argumentation für fragwürdig9. Zwar lässt sich nicht leugnen, dass monotheistische Religionen die Geschichte ihrer Durchsetzung in Texten erinnern, die von Gewalt zeugen. Doch bleibt umstritten, unter welchen Bedingungen die Sprache der Gewalt in Taten umschlägt. Und selbst dann, wenn sich eine Religion im Besitz der einen Wahrheit wähnt, folgt daraus nicht zwangsläufig, dass sie allen anderen Religionen jegliche Wahrheitserkenntnis oder Heilsbedeutung absprechen muss. Ein Ethos universaler Gewaltfreiheit widerspräche sich selbst, suchte es sich gewaltsam Geltung zu verschaffen. Religionen schüren Intoleranz und religiöse Gewalt nicht schon durch ihren Universalismus, sondern erst dann, wenn sie zu Exklusivismus und Expansionismus tendieren. Beides folgt aber nicht notwendig aus dem Universalismus von Religionen, sondern leitet sich von den jeweils vertretenen religiösen Überzeugungen her.
Ambivalenz des Religiösen?
Zwar wird man nicht bestreiten können, dass im Namen von Religionen unzählige Kriege geführt, Völker versklavt und Zivilisationen ausgelöscht wurden. Allerdings ist ebenso wahr, dass religiöse Überzeugungen auch ein Friedenspotenzial bergen können. Bisweilen charakterisieren Religionswissenschaftler, Soziologen und Politologen die Beziehung zwischen Religion und Gewalt deshalb als „ambivalent“ oder als „janusköpfig“: Einmal wirken Religionen konfliktverschärfend, dann wieder wirken sie konfliktlösend. Offenbar lässt sich auf der Grundlage religiöser Überzeugungen zwischenmenschliche, politische oder gar militärische Gewalt ebenso legitimieren wie kritisieren. Die entscheidende Frage lautet, unter welchen Bedingungen Religionen in welcher Weise wirksam werden.
In historischer Perspektive gewinnen anfänglich eher politische, soziale oder ökonomische Konflikte oft erst dann eine religiöse Dimension, wenn eine der beteiligten Parteien zu unterliegen droht und deshalb weitere strategische Ressourcen zu mobilisieren sucht. Hierzu bieten sich die Religionen deshalb an, weil sie oft eine wesentliche Dimension kollektiver Identität darstellen. Nicht zufällig mehren sich religiös konnotierte Konflikte im Zeitalter der Globalisierung; denn deren Dynamik wird nicht selten als bedrohlich für regionale und partikuläre Identitäten empfunden10. Eine kurzschlüssige Identifikation von politischer Loyalität mit religiöser Zugehörigkeit ist eine häufige Ursache für religiöse Intoleranz und Gewalt gegenüber Angehörigen anderer Religionen, aber auch gegenüber „Abweichlern“ in den eigenen Reihen.
In der Verbindung mit nationalistischen oder chauvinistischen Tendenzen zögern Religionsvertreter bisweilen, die gewaltkritischen Dimensionen ihrer religiösen Traditionen geltend zu machen. Nur allzu oft freilich sind sie dazu auch gar nicht willens. Dabei sind gewaltkritische Potenziale in nahezu allen Religionen aufzuspüren. Denn Religionen verorten den letzten Grund der Wirklichkeit nicht in der Welt, sondern in einer – wie auch immer gefassten – Transzendenz. Dem Absoluten gegenüber erscheint jede immanente Wirklichkeit als vorläufig und relativ. Für das Verhältnis von Religion und Gewalt maßgeblich ist deshalb, wie die Beziehung zwischen dem Transzendenten und dem Immanenten, dem Absoluten und dem Relativen gefasst ist. Soziale, politische und auch religiöse Kompromisse erscheinen überall dort möglich, wo das Relative nicht mit dem Absoluten identifiziert wird. Dann nämlich kann jede menschliche Praxis – und somit auch die Ausübung von Gewalt – unter Bezugnahme auf das Absolute kritisiert werden. Vorläufigkeit und Relativität des Gegebenen eröffnen immer Handlungsalternativen – darunter auch solche, welche die Ausübung von Gewalt erübrigen oder gar verbieten. Wie das einleitende Zitat zeigt, scheint selbst Jan Assmann inzwischen dieser Ansicht zuzuneigen.
Indem die verschiedenen Religionen die Beziehung zwischen dem Absoluten und dem Relativen unterschiedlich bestimmen, setzen sie unterschiedliche Rahmenbedingungen, von denen ausgehend ihre Anhänger zwischenmenschliche Gewalt beurteilen werden. Weil es keineswegs gleichgültig ist, ob sich religiöse Überzeugungen auf einen unpersönlichen Seinsgrund, auf einen himmlischen Kriegshelfer oder auf einen barmherzigen Gott richten, ist die oft zu hörende Behauptung, alle Religionen schürten unterschiedslos Konflikte und legitimierten Gewalt, falsch und irreführend.
Ethos der Gewaltfreiheit
Gleichwohl lässt sich nicht leugnen: Viele Jahrhunderte lang sahen Christen im Beistand Gottes eine Hilfe zum Sieg über ihre Feinde – beginnend mit Konstantin („In diesem Zeichen wirst du siegen!“) über die Kreuzritter („Deus lo vult!“) bis hin zu den deutschen Soldaten beider Weltkriege („Gott mit uns!“). Jahrhundertelang gab es im Christentum auch Gewalt nach innen. Konnte man Angehörigen anderer Religionen unterstellen, sie hätten von der Wahrheit des Christentums noch nicht Kenntnis nehmen können, so galt eben dies für Apostaten, Ketzer und Häretiker gerade nicht. Ihnen billigte beispielsweise Thomas von Aquin weder die Freiheit des Gewissens noch religiöse Toleranz zu, da sie ja um die Wahrheit des christlichen Glaubens wussten. Die blutigen Konsequenzen dieser Auffassung reichen von der Hinrichtung Priscillians in Trier (385 n. Chr.) über die Spanische Inquisition bis hin zu den Hussitenkriegen und den Konfessionskriegen der nachreformatorischen Zeit – auch wenn gerade für letztere oft politische oder gar ökonomische Motive maßgeblich waren.
Zugleich freilich zieht sich durch die Kirchengeschichte auch eine Spur der Friedfertigkeit und der Gewaltfreiheit. Sie verläuft meist weniger spektakulär als jene des Blutes und der Gewalt. Franz von Assisi, Bartolomé de las Casas, Friedrich Spee von Langenfeld SJ oder Dag Hammarskjöld bezeugen diese Spur. An ihre Seite treten viele unbekannte Christen und Christinnen, die ihren Einsatz für den Frieden nicht selten mit dem Leben bezahlten. Für einen entschiedenen Pazifismus standen und stehen die Quäker ein, die Hutterer, die Mennoniten, aber auch die Zeugen Jehovas.
So bleibt der Blick in die Geschichte des Christentums zwiespältig. Dies gilt auch für die Bibel. So ließe sich daran erinnern, dass Israel im Namen seines Gottes Kriege geführt und Schlachten geschlagen hat, dass aber die Propheten zugleich dafür eintraten, dass Israels Gott nicht militärische Stärke, sondern Gottesfurcht und Nächstenliebe will (vgl. Jes 7,9). Mit Blick auf das NT dürfte historisch kaum zu bestreiten sein, dass Jesus zu gewaltfreiem Handeln ermuntert (vgl. Mk 10, 42-45), ja zur Feindesliebe aufgerufen hat (Mt 5,44; Lk 6,27; 35). Sind die herrschenden Verhältnisse durch vielfältige Formen der Gewalt bestimmt, so gilt im Reich Gottes das Ethos einer Gewaltfreiheit, die auf Vergeltung verzichtet: „Ihr habt gehört, dass gesagt wurde: Auge um Auge und Zahn um Zahn. Ich aber sage euch: Leistet dem, der Böses tut, keinen Widerstand! Nein! Wenn dich einer auf die rechte Backe schlägt, dann halte ihm auch die andere hin“, heißt es in der Bergpredigt (Mt 5,38 f.). Aussagen wie diese halten auch dem Säurebad historisch-kritischer Exegese stand; man wird in ihnen durchaus einen Widerhall der „ipsissima vox“ Jesu wahrnehmen dürfen. Doch ebenso wenig wie Johannes der Täufer hat Jesus Soldaten umstandslos verurteilt; den Glauben des Hauptmanns von Kafarnaum würdigt er als vorbildlich (Mt 8,10).
Es ist mit einiger Sicherheit davon auszugehen, dass die ersten Christen ernsthaft darum bemüht waren, Jesu Ethos der Gewaltfreiheit und der Feindesliebe in ihren Gemeinden und auch gegenüber ihrer Umwelt zu verwirklichen. Paulus ermahnt die Christen in Rom:
„Segnet, die euch verfolgen, segnet sie und verflucht sie nicht! […] Vergeltet niemandem Böses mit Bösem, seid allen Menschen gegenüber auf Gutes bedacht! […] Wenn möglich, soweit es in eurer Macht steht: Haltet Frieden mit allen Menschen! Übt nicht selber Rache […] Vielmehr: Wenn dein Feind Hunger hat, gib ihm zu essen; wenn er Durst hat, gib ihm zu trinken“ (Röm 12, 14-20).
Nichtchristliche Historiker bestätigen die in den Augen ihrer Zeitgenossen als provozierend wahrgenommene Ethik der Christen. Sie besuchten keine Gladiatorenspiele und Tierkämpfe; sie beteiligten sich nicht an öffentlichen Kulten und opferten nicht den Staatsgöttern. Die Anfang des 2. Jahrhunderts n. Chr. entstandene „Zwölf-Apostel-Lehre“ schärft Gewaltverzicht und Feindesliebe als verpflichtenden „Weg des Lebens“ für alle Christen ein (Didache 1, 1-2). Folgerichtig sind christliche Soldaten erst ab dem ausgehenden 2. Jahrhundert bezeugt. In der Anfang des 3. Jahrhunderts entstandenen „Traditio Apostolica“ heißt es: „Der Soldat, der unter Befehl steht, soll keinen Menschen töten. Erhält er dazu den Befehl, soll er diesen nicht ausführen, auch soll er keinen Eid leisten. […] Wer die Schwertgewalt hat oder Stadtmagistrat ist, und wer den Purpur trägt, soll seine Stellung aufgeben […]“ (TA 16). In einem Brief des Bischofs Cyprian von Karthago heißt es in der Mitte des 3. Jahrhunderts lakonisch: „Es ist den Christen nicht erlaubt zu töten; sie müssen vielmehr sich töten lassen“ (Ep. I,6).
Die Beispiele ließen sich vermehren. Ganz ohne Zweifel lebten die ersten Christen in der Erwartung der baldigen Wiederkunft Christi. In diesem Bewusstsein war ihr Handeln von dessen Ideal der Gewaltfreiheit geprägt. Erst im 4. Jahrhundert, in der Folge der sogenannten „Konstantinischen Wende“, wandelte sich die Einstellung der Christen mit Blick auf staatliche und militärische Gewalt. Seit den Toleranzedikten von 311 (Galerius) und 313 (Konstantin) ist die Kirche zunehmend mit den staatlichen Herrschaftsstrukturen verflochten. Bereits im Jahr 314 verfügte eine Synode im südgallischen Arles, dass Christen, die in Friedenszeiten ihren Wehrdienst (militare) aufgaben, aus der Kirche auszuschließen seien (Kanon 3). Allerdings blieb Christen der Kriegsdienst (bellare) weiterhin untersagt. Noch in der Mitte des 4. Jahrhunderts bestimmten die „Canones Hippolyti“:
„Es soll kein Christ Soldat werden, es sei denn, er würde dazu gezwungen von einem Offizier, der das Schwert trägt. […] Wer Blut vergossen hat, soll nicht an der heiligen Eucharistie teilnehmen, so lange er sich nicht durch Zeichen seiner Reue, durch Tränen und Seufzer gereinigt hat“ (Kan. 13).
Für die folgenden Jahrhunderte prägend wurde freilich die Auffassung des heiligen Augustinus, wonach Soldaten, aber auch Richter und Henker nicht sündigen, wenn sie in Ausübung ihres Amtes Menschen töten, da sie dann in legitimer Weise handeln:
„Der Soldat, der in Gehorsam gegen die rechtmäßige Gewalt einen Menschen tötet, wird durch kein Gesetz seines Staates zum Mörder erklärt, vielmehr macht er sich, wenn er es nicht tut, der Übertretung und Verachtung des Befehles schuldig“ (CD I,26).
Arrangements mit staatlicher Gewalt
Verhängnisvoll für die Einstellung von Christen zur staatlichen Gewalt wirkte sich eine Stellungnahme Augustins im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit den Donatisten aus. Deren Kirche gehörte im 5. Jahrhundert fast die Hälfte der nordafrikanischen Christen an. Anders als Augustinus erklärten die Donatisten alle Sakramente für ungültig, die von einem Priester gespendet worden waren, der während der letzten Christenverfolgung abgefallen war. Nach dem Scheitern von Unionsverhandlungen stimmte Augustinus nach einigem Zögern den durch die kaiserliche Gesetzgebung vorgesehenen Zwangsmaßnahmen zu, die Donatisten zur Rückkehr in die eine Kirche zu bewegen: „Compelle intrare!“ – „Nötige sie einzutreten!“ Das von Augustinus erstmalig in diesem Sinne verwendete Zitat aus der lukanischen Überlieferung vom großen Gastmahl (vgl. Lk 14,23) hatte für die Ketzerbekämpfung in Mittelalter und Neuzeit verheerende Wirkung. Nicht zufällig präsentiert sich die große Toleranzschrift des Aufklärers Pierre Bayle als ein „Commentaire philosophique sur ces paroles de Jésus-Christ ,Contrains-les d’entrer‘“, als ein „Philosophischer Kommentar zu den Worten Christi ,Nötige sie hereinzukommen‘“ (1687)11.
Augustinus gilt auch als Ahnherr der Theorie des „gerechten Krieges“, wonach es Christen unter bestimmten Bedingungen erlaubt ist, militärische Gewalt anzuwenden, um Unrecht oder Schaden abzuwehren. Um einen Krieg als legitim gelten zu lassen, verlangt diese Theorie nicht nur einen gerechtfertigten Grund und eine legitimierte Autorität, sondern auch die Alternativlosigkeit militärischer Mittel und deren Verhältnismäßigkeit. In einzelnen Bestimmungen und Kriterien wurde sie in Mittelalter und Neuzeit erweitert und differenziert. Grundsätzlich in Frage gestellt wurde sie aber nicht. Weit bis ins 20. Jahrhundert hinein hat sie die Einstellung der meisten Christen zur militärischen Gewalt maßgeblich bestimmt.
Anders als das Römische Imperium verstand Augustinus den Einsatz staatlicher Gewalt pragmatisch. Staatliche Gewalt ist nicht sakralen Ursprungs, sondern hat schlicht der Sicherung von Frieden, Recht und Ordnung zu dienen. Demgegenüber erfolgte im Zusammenhang mit den Kreuzzügen eine Re-Sakralisierung militärischer Gewalt. Zwar führten die Kreuzfahrer ursprünglich keineswegs einen „heiligen Krieg“ gegen Juden und Muslime; vielmehr sind die Kreuzzüge wohl eher als „Pilgerfahrt unter Waffen“ zu deuten. Suchten doch die Kreuzritter vor allem den freien Zugang zu den heiligen Stätten der Bibel zu erstreiten und zu sichern. Schon Zeitgenossen haben die Judenpogrome im Rheinland und die Massaker in den von den Kreuzfahrern eroberten Städten auf ihrem Weg nach Jerusalem als Sünde gebrandmarkt. Und dennoch: Wenngleich nicht der Krieg an sich als heilig angesehen wurde, so wirkte er doch heilbringend auf die Menschen, so der Bochumer Mediävist Nikolas Jaspert12.
In der Mitte des 12. Jahrhunderts zeichnete der heilige Bernhard von Clairvaux das Ideal eines Mönchs-Soldaten, der klösterliche Gelübde ablegt und aus religiösen Motiven kämpft. Das Ideal des Tempelritters blieb jedoch eine kurze Episode in der Geschichte des Christentums. Zwar wirkte es zunächst bei den Ritterorden fort, die sich um die Reconquista der Iberischen Halbinsel oder um die Christianisierung des Baltikums bemühten. Langfristig aber ließ die seit dem Investiturstreit im Hohen Mittelalter etablierte Trennung von regnum und sacerdotium „heilige Kriege“ im Christentum undenkbar werden. Der im 12. Jahrhundert auf Betreiben Bernhards unter dem Leitmotiv „Taufe oder Tod“ gegen die Wenden geführte Kreuzzug wurde nicht traditionsbildend. Beruht doch der Glaube per definitionem auf persönlicher Überzeugung, die als solche nicht erzwungen werden kann. Schon Bernhards Zeitgenossen waren sich dessen bewusst: „Ad fidem nullus est cogendus“, heißt es in einer Kirchenrechts-Sammlung desselben 12. Jahrhunderts13. Freilich: „Glaubenskriege“ oder „Konfessionskriege“ gab es weiterhin – und ihre Zahl sollte bis in die Frühe Neuzeit hinein keineswegs abnehmen.
Erst in der Folge der beiden verheerenden Weltkriege des 20. Jahrhunderts kam es in den großen Kirchen der Christenheit zu einer Besinnung auf die grundsätzliche Problematik militärischer Gewalt, auch dort, wo sie auf den ersten Blick als gerechtfertigt gelten darf. In seiner Enzyklika „Pacem in terris“ sprach sich Papst Johannes XXIII. 1963 unmissverständlich für die Ächtung des Krieges aus; Entsprechendes findet sich im Konzilsdokument „Gaudium et spes“ von 1965 (GS 82)14.
In der christlichen Ökumene wurde die Theorie des „gerechten Krieges“ allmählich durch das Leitbild eines „gerechten Friedens“ abgelöst; dieses Leitbild markiert heute die vorherrschende Perspektive einer Friedensethik im christlichen Kontext15. Nicht zufällig spielte dabei der Rückgriff auf die Wurzeln des Christentums eine maßgebliche Rolle. Christliche Friedensbewegungen wie Pax Christi, die Gemeinschaft von Taizé oder die Gemeinschaft Sant’Egidio bemühen sich heutzutage weltweit um Frieden und Versöhnung. Und nicht zuletzt die Päpste rufen immer wieder zur Überwindung von Hass und Gewalt auf.
Selbstkritik, Empathie und Engagement
Gleichwohl wird immer wieder behauptet, alle Religionen schürten unterschiedslos zivile und militärische Gewalt. Bisweilen ist sogar von einem „christlichen Terrorismus“ die Rede. Betrachtet man die hierunter subsumierten Personen oder Gruppierungen näher, dann ist man zwar versucht, ihnen den Charakter der Christlichkeit abzusprechen. Doch wäre dabei zu bedenken, dass eine entsprechende Argumentation auch mit Blick auf islamistische Gewalt oder dschihadistischen Terror nicht ungewöhnlich ist: „Das hat mit dem Islam nichts zu tun!“ Die damit Angesprochenen werden sich dieses Urteil allerdings gewiss nicht zu eigen machen. Vielmehr werden sie sich weiterhin als die eigentlichen Vertreter der jeweiligen Religionen verstehen. Deshalb führt es nicht weiter, gewalttätigen Gruppen oder Personen, die sich auf den Islam oder das Christentum berufen, eben diese Zugehörigkeit abzusprechen. Zielführender scheint es vielmehr, nach dem „Glutkern“ von Religionen zu fragen: jenem Zentrum also, von dem her ihre Mitglieder sich selbst und die Wirklichkeit im Ganzen verstehen, und von diesem Zentrum her die jeweiligen religiösen Überzeugungen zu beurteilen.
Dabei ist klar, dass jedes religiöse Selbstverständnis geschichtlichen Wandlungen unterliegt. Hieraus resultiert aber keineswegs der Verzicht auf religiöse Identität. Und diese wiederum bestimmt – wenngleich nicht ausschließlich, so doch oft maßgeblich – das Selbstverständnis und das Handeln sich selbst als religiös verstehender Menschen.
Solche normativen Vorgaben in religionsinternen Diskursen, aber auch im Dialog mit Angehörigen anderer Religionen zu identifizieren und selbstkritisch zu reflektieren, scheint mit Blick auf das Verhältnis von Religion und Gewalt zielführender zu sein als jeder Rückgriff auf historische Beispiele, zielführender aber auch als jede exklusive Deutung isolierter Texte. Der Weg ist freilich aufwändig und nicht frei von Rückschlägen. Denn erfahrungsgemäß ist schon Diskursbereitschaft nicht überall in gleichem Maße gegeben – weder religionsintern noch im religionsübergreifenden Dialog. Wenn aber Religionen geschichtliche Größen sind, dann sind unausweichlich auch ihre normativen Implikationen unter veränderten Verhältnissen je neu auszuhandeln – und dies nicht zuletzt mit Blick auf das Verhältnis von Religion und Gewalt. Hier freilich scheint es doch so, dass in den maßgeblichen Texten des Christentums deren gewaltkritische Dimension nur um den Preis einer Verfälschung der ursprünglichen Intention Jesu von Nazareth geleugnet werden kann. Dem Vorwurf, alle Religionen schürten unterschiedslos Gewalt, kann deshalb mit guten Gründen widersprochen werden.
Dies bezeugen im Übrigen nicht nur die zahlreichen Friedensappelle der Päpste, sondern auch ihre Schuldbekenntnisse. Diese nämlich signalisieren die Fähigkeit, sich selbst und die eigene Praxis im Licht der normativen Quellen des christlichen Glaubens immer wieder und je neu in Frage stellen zu lassen. Die Fähigkeit zur kritischen Reflexion über sich selbst und seine Überzeugungen aber dürfte ein wesentlicher Schritt zur Überwindung von Gewalt und zum Frieden sein. Auszubilden sind Haltungen des Einfühlens (empathy) und des Mitleidens (compassion). Dass es hierzu auch institutioneller Rahmenbedingungen bedarf – einer umfassenden Bildung beispielsweise, aber auch gerechter politischer, sozialer und ökonomischer Verhältnisse – steht außer Frage.
Weil sie darin geübt sind, Perspektivenwechsel vorzunehmen, sollten religiöse Menschen – Christen zumal – unmissverständlich und entschieden auf der Seite jener stehen, die Gewalt erleiden oder die zwischenmenschlicher Gewalt entgegenwirken. Und dies gilt im Übrigen nicht nur für Gewalt im öffentlichen Raum, sondern auch im privaten und im familiären Bereich.