Stehen Reformator und „Gegenreformator“ nicht mehr unversöhnlich gegeneinander, wie es das konfessionelle Weltbild lange vorgab? Gibt es deutliche Zeichen versöhnter Verschiedenheit, wie es das ökumenische Leitbild vorschlägt? Im nun zu Ende gehenden Reformationsjahr 2017 steht verständlicherweise Martin Luther (1483–1546) im Vordergrund: sein bewegtes Leben, seine vielfältigen Werke, seine breite Wirkungsgeschichte. Doch keineswegs ist dieser Theologe ein einsamer Gestalter, vielmehr treten in der Frühen Neuzeit zahlreiche Zeitgenossen und Bewegungen hervor, die ebenso prägend waren.
Man denke an die spirituelle Reformbewegung einer „modernen Frömmigkeit“ (devotio moderna) der Verinnerlichung, die Luther und Loyola formte. Auch die europäische Bewegung des Humanismus hat beide Konfessionen gleichermaßen geprägt. In Spanien hatte Kardinal Jiménez de Cisneros († 1517) in Luthers Thesenjahr seine polyglotte Bibel vollendet und die Reformuniversität von Alcalá de Henares gegründet, an der Loyola studierte. Der Humanist Erasmus von Rotterdam († 1536) brachte eine kritische Ausgabe des Neuen Testaments in Griechisch und Latein heraus, die Luther für seine Übersetzungsarbeit nutzte. Aber über die Frage des freien Willens geriet er mit Luther in gelehrten Streit und folgte ihm nicht. Der hochgebildete Philipp Melanchthon († 1560) dagegen schloss sich der Reformation an und drängte auf Reformen in Gesellschaft, Staat und Kirche. Zu Luthers Zeiten entwarf der Domherr und Astronom Nikolaus Kopernikus († 1543) das heliozentrische Weltbild. In der Neuen Welt leitete Bartolomé de las Casas († 1566) eine kopernikanische Wende ein, als er angesichts der Sklaverei dem Begriff und der Sache nach „Menschenrechte“ (derechos humanos) auf den Weg brachte. Auch geniale Künstler wie Raffael und Michelangelo waren Zeitgenossen, und nicht zuletzt Ignatius von Loyola (1491–1556), der Gründer des Jesuitenordens.
Luther, der ältere Sachse, und Loyola, der jüngere Baske, hatten biografisch einiges gemeinsam. Aber leider sind beide Reformer einander nie begegnet, hätten sich aber fließend auf Latein unterhalten können. Der Monat Mai im Jahr 1521 sollte ihr Schicksalsjahr werden, da beide ihre äußere Bewegungsfreiheit verlieren, der eine durch Reichsacht, konfiniert auf der Wartburg; der andere durch Kriegsverwundung als Rekonvaleszent auf seiner Wohnburg Loyola. Doch beide gewinnen eine neue innere Freiheit, sei es durch Erfahrung der göttlichen Gerechtigkeit (Röm 1,17) oder durch Zuflucht bei Gott allein (solo Dios). Beide legen ihre Kleidung ab, Luther den Mönchshabit, Loyola die adelige Kleidung und das Schwert. Beide machen Übungen: Junker Jörg Übersetzungen der Heiligen Schrift, der Pilger Iñigo spirituelle Übersetzungen beim Dienst am Wort. Innere Anfechtungen und äußere 650 Verfolgungen bleiben ihnen nicht erspart, weil beide unter Häresieverdacht gerieten; bei Luther mit den Folgen der Exkommunikation, bei Loyola verliefen mehrere Inquisitionsprozesse im Sande.
Luther und Loyola waren gewiss Reformer, je auf ihre Weise religiöse Virtuosen, die das Sündenbewusstsein durchlebten und existenzielle Gotteserfahrungen machten, äußerlich von Gewitter- oder Kanonenblitzen auf die Spur gebracht. Beide, Doktor Martinus und Magister Ignatius setzten auf die Bildung der Jugend, ob mehr durch die Familie oder die Schule. Beide entwickelten eine urbane Option für die frühneuzeitliche Stadt. Doch gingen beide unterschiedliche Wege der Kirchlichkeit, der eine von apokalyptisch geschärfter Kritik am Papsttum bewegt, der andere durch Fühlen mit der Kirche und Bindung an das Papsttum, trotz dessen unverkennbarer Schwäche. Die stärksten Divergenzen traten wohl im Verhältnis zum Judentum auf. Luthers Positionen bis hin zur theologischen Verwerfung in den Spätschriften sind bekannt; sie spiegeln den Antijudaismus der Zeit wider. Diesen gab es auch in Spanien, wenn man an die Vertreibung der Juden denkt und die prohibitiven Gesetze der „Reinheit des Bluts“ (limpieza de sangre) bei Neuchristen. Doch hier war Loyola strikter Reformer, der keinen Unterschied zwischen Alt- und Neuchristen zuließ. Er war Philosemit und wäre selbst gern jüdischer Abstammung gewesen, weil er dann mit Jesus verwandt gewesen wäre.
Zwischen Luther und Loyola gab es keine unmittelbaren Kontroversen, wohl aber konfessionellen Streit zwischen Lutheranern und Jesuiten, bei dem sich beide Seiten kaum etwas schenkten. Aber noch zu Lebzeiten unserer Helden gab es schon irenische Töne und ökumenische Signale. So entsandte Loyola seinen Weggefährten Peter Faber als ersten Jesuiten nach Deutschland, der sich dort spirituell, pastoral und kirchenpolitisch (Religionsgespräche) für die Reform einsetzen sollte. Seine typische Vorgehensweise war das Gebet für die getrennte Christenheit. So gab er die Geistlichen Übungen (Exerzitien) und hatte die Gewohnheit, für bestimmte Anliegen zu beten: zum Beispiel für die Städte Wittenberg, Moskau, Genf und Konstantinopel, also die Hauptstädte des Protestantismus und der Orthodoxie.
Seit dem Konfessionalisierungsdiskurs gelten fragwürdige konfessionelle Schemata nun als überwunden, wie auch Luthers und Loyolas Anteile an der Moderne differenzierter betrachtet werden können. Der Frühneuzeithistoriker Heinz Schilling kommt in seinem Buch „Martin Luther. Rebell in einer Zeit des Umbruchs“ auf Seite 156 zu dem Urteil: „Auf lange Sicht sollte sich zeigen, dass der von Jesuiten eingeschlagene Weg der inneren Erneuerung nicht weniger erfolgreich und für die konfessionelle Kultur der europäischen Neuzeit prägend war als der von Luther begründete und von anderen Reformatoren, namentlich Calvin, eigenständig mitgeprägte Protestantismus. So lässt sich Ignatius von Loyola, der Gründervater der Jesuiten, der seinen Orden und mit diesem den römischen Reformprozess wie kein zweiter prägte, angesichts seiner weltgeschichtlichen Wirkung als dritter Reformator Luther und Calvin zur Seite stellen.“