Welttag der Armen und globale Strukturen der Sünde

Den Sonntag vor dem Christkönigsfest hat Papst Franziskus zum „Welttag der Armen“ erklärt. Er fällt in diesem Jahr auf den 19. November. Dreißig Jahre zuvor, am 30. Dezember 1987, unterzeichnete Papst Johannes Paul II. „Sollicitudo rei socialis“ (SRS), die nach „Populorum progressio“ (1967) zweite Entwicklungsenzyklika der Kirche. Sozialwissenschaftlich fundiert und theologisch innovativ, analysiert sie die Schatten- und Lichtseiten von Globalisierung. Die „wahre Entwicklung des Menschen und der Gesellschaft“ bemisst sie ähnlich wie „Populorum progressio“ daran, ob sie „dem ganzen Menschen und jedem Menschen“ dient und seiner Würde und Sozialnatur als „Geschöpf und Abbild“ Gottes gerecht wird. Indem sie die „Option und vorrangige Liebe zu den Armen“ (SRS 42) in den Sozialenzykliken heimisch macht und Anstöße zu einer persönlichen und universal-strukturellen „Umkehr“ gibt, erweist sich SRS als „artgerechter“ Vorläufer von „Evangelii gaudium“ (2013) und „Laudato si’“ (2015), den sozial- und umweltethischen Schlüsseltexten von Papst Franziskus.

In der „ganzen Bandbreite“ wirtschaftlicher, sozialer und politischer Aspekte analysiert SRS zunächst den tiefen „Graben zwischen dem sogenannten entwickelten Norden und dem unterentwickelten Süden“ (SRS 14-15). Sie erwähnt Ungleichheiten auch innerhalb der „armen“ und der „reichen“ Länder, konzentriert sich jedoch auf die viel gravierendere globale Kluft. Diese besteht – trotz beachtlicher Entwicklungserfolge in etlichen Ländern und Sektoren – bis heute fort.

Dies lässt sich mit Hilfe von Landesdurchschnittswerten des „Berichts über die menschliche Entwicklung 2016“ des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP 2017 mit Daten von 2015) am Vergleich zwischen dem subsaharischen Burkina Faso, Partnerland der Misereor-Kampagne 2017, und Deutschland illustrieren: Deutsche können auf eine Lebenserwartung von 81 Jahren hoffen, Burkiner auf 59 Jahre. Während erstere einen Produktionswert von 2900 Euro pro Kopf und Monat erwirtschaften, erarbeiten Burkiner bloß ein Dreißigstel, nämlich 96 Euro. Die künftige Entwicklung des afrikanischen Partnerlandes wird dadurch belastet, dass seine Bürger im Schnitt nur eine 1,7 Jahre lange Bildungsphase durchlaufen – Deutsche kommen auf 13 Jahre. Die angedeutete globale, sich künftig fortsetzende Schrägverteilung der Lebenschancen spricht der sozialen Glaubensaussage des Konzilsdokuments „Gaudium et spes“ Hohn, wonach „alle Menschen eine Familie bilden“, denn alle Menschen sind „geschaffen nach dem Bild Gottes […] und alle sind zu einem und demselben Ziel, d. h. zu Gott selbst, berufen.“ (GS 24)

Fortbestehen wird die globale Kluft, solange ihre Ursachen nicht entschlossen bekämpft werden. SRS hat diese „zweifellos komplexen“ Ursachenbündel ausführlich erörtert. Die millionenfache, „unerträgliche Last des Elends“ gehe auf „schwerwiegende Unterlassungen der Entwicklungsländer selbst“, namentlich ihrer korrupten Machthaber, auf ungenügende Hilfen der Industrieländer sowie auf das Wirken „wirtschaftlicher, finanzieller und sozialer Mechanismen“ zurück, „die, obgleich vom Willen des Menschen gelenkt, doch fast automatisch wirken,

Diese „Mechanismen“ deutet SRS theologisch als „Strukturen der Sünde“: Sie sind durch persönliche Sünden – durch „Gier nach Profit und Verlangen nach Macht um jeden Preis“ – entstanden, die sich gegenseitig verstärkt und zu gesellschaftlichen bzw. globalen Strukturen verfestigt haben, welche ihrerseits zu neuen Sünden verleiten. Als dringend reformbedürftige „Strukturen der Sünde“ benennt die Enzyklika „das internationale Handelssystem“, das „Weltwährungs- und -finanzsystem“, die Einseitigkeiten der internationalen Informationsströme und des Technologietransfers, sowie das gemeinwohlunverträgliche Funktionieren internationaler Organisationen“ (43). Ihnen hat Papst Franziskus in „Laudato si’“ den pervers verkoppelten Teufelskreis der globalen Armuts- und Umweltkrise hinzugefügt. Ergänzend ist auf die Befriedigung von Konsumwünschen zu jedem (möglichst billigen oder sehr teuren) Preis zu verweisen, die als Praxis von Kaufenden und Verkaufenden ebenfalls zu „Strukturen der Sünde“ beiträgt.

Befreiung aus – persönlich mitverantworteten, globalen – Strukturen der Sünde ist nur möglich auf dem Weg einer einschneidenden, ganzheitlichen Umkehr. Sie soll beim Kauf und Verbrauch persönlich beginnen, ist aber ohne global wirksame politische Maßnahmen nicht zu haben. Zur Umkehr mahnt Papst Johannes Paul II. in SRS – vor dem Hintergrund der polnischen „Wende“-Erfahrungen und der Ethik von Józef Tischner – mit Hilfe der Kategorie der „Solidarität“. Er definiert sie als „die feste und beständige Entschlossenheit, sich für das ‚Gemeinwohl‘ einzusetzen, das heißt für das Wohl aller und eines jeden“ (38). Der Gesamtzusammenhang verlangt, dass „Solidarität“ hier keine strukturblinde Tugendethik, sondern „Gerechtigkeit“ meint, nämlich die Verpflichtung, Strukturen der Sünde „prophetisch“ offenzulegen (41) und gemeinsam mit anderen aus der Welt zu schaffen. SRS weiterführend, entfaltet „Laudato si’“ (163-240) strategische Stoßrichtungen einer entwicklungspolitisch und ökologisch not-wendenden Umkehr.

Zu ihr tragen Erziehende bei, die Kindern Empathie in fremdes Leid und die Übernahme der Perspektive Anderer beibringen; Journalisten, die ihr Agenda setting um Recherchen aus dem globalen Süden, zumal aus Afrika, erweitern; Wissenschaftler, die sich der globalen Kluft widmen, und Politiker, die sie institutionell bekämpfen; Unternehmer, die auf faire und nachhaltige Lieferketten umstellen; und Verbraucher, die dies honorieren und einen Lebensstil „mit-teilender Genügsamkeit“ erlernen. Die sich so Abmühenden werden Trost und Hilfe vom Auferstandenen erfahren (Mt 28,20). Papst Paul VI. datierte „Populorum progressio“ auf den Ostersonntag 1967.

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