Was will eine Kulturzeitschrift? Intellektuelle Neugierde wecken, fördern, vertiefen – das will eine Kulturzeitschrift. Mit Trends bekannt machen, Themen aufgreifen und Vorgänge aufzeigen. Auf Nachhaltigkeit setzen und damit – erst recht heute – dem schnellen Sager, der flotten Phrase, dem Posting oder Bloggen entgegenwirken, wo es oft nur noch auf Schnelligkeit und Sensation ankommt, Stichwort „Wordrap“. Unter dieser Rücksicht ist eine Kulturzeitschrift altmodisch – und damit schon wieder modern. Das jedenfalls haben Jesuiten und ihre Autoren seit 1871 versucht – Autorinnen kamen erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dazu. Nicht immer ist die Auseinandersetzung gelungen, nicht immer war sie frei von Polemik oder Verletzung. Aber oft haben sich die „Stimmen der Zeit“ auch als Vorreiterin erwiesen, besonders ab Mitte des 20. Jahrhunderts und als es auf das Zweite Vatikanische Konzil zuging.
Der Gründungsbeschluss deutscher Jesuiten erfolgte im September 1864, im März 1865 begannen die „Stimmen aus Maria Laach“ zu erscheinen, in loser Folge zunächst, als „Flugschriften“: mit dem erklärten Ziel, den „Syllabus“ Papst Pius’ IX., seine Enzyklika „Quanta cura“, später dann das Erste Vatikanum(1869/70) zu verteidigen – um jeden Preis, auch um den der intellektuellen Redlichkeit. Ab Juli 1871 erschien das Blatt als Monatszeitschrift. Da die Jesuiten als „Kadertruppe“ des Papstes und damit als „Reichsfeinde“ galten, wurden sie mit dem Jesuitengesetz vom 4. Juli 1872 bekanntlich des Landes verwiesen. Die „Stimmen aus Maria Laach“ mussten den Redaktionssitz in der Eifel verlassen. Tervueren bei Brüssel, Blyenbeck und Exaten in Holland, Luxemburg und schließlich Valkenburg bei Maastricht wurden Stationen der Odyssee – mit dem Titel „aus Maria Laach“ wurde aber weiterhin geistige Präsenz im Kaiserreich markiert. Auch nach dem Ende des Kulturkampfes blieb das Gesetz für Jahrzehnte in Kraft, bis es am 19. April 1917 offiziell aufgehoben wurde.
Schon im Sommer 1914 war die Zeitschrift nach München umgezogen. Seit Oktober 1914 erschien sie unter dem neuen Titel „Stimmen der Zeit“. Zuerst auf Wohnungen in Schwabing verteilt, wurde in der Veterinärstraße unweit der Ludwig- Maximilians-Universität im Herbst 1918 eine Immobilie erworben. Sie blieb bis Februar 1966 der Redaktionssitz. Dann wurde das neue, nach Alfred Delp SJ – dem von den Nationalsozialisten ermordeten Redaktionsmitglied – benannte Schriftstellerhaus in Nymphenburg bezogen, von dem Düsseldorfer Architekten Paul Schneider-Esleben eigens für die Redaktionen der „Stimmen der Zeit“ und „Geist und Leben“ entworfen. Im September 2003 erfolgte der Umzug auf den Campus der ordenseigenen Hochschule für Philosophie in der Kaulbachstraße.
Was sich in den bald hundertfünfzig Jahren an theologischen, philosophischen, kulturellen oder politischen Debatten ereignete, spiegelte sich oft auch in den „Stimmen der Zeit“ wieder. Wenn „Hochland“, „Wort und Wahrheit“ oder andere Zeitschriften Stellung nahmen, Ideen propagierten, Vorgänge kommentierten, bezog unsere Zeitschrift oft eine dezidiert andere Position. Die spitze Feder mancher Redakteure war gefürchtet, einzelne Ressorts übten enormen Einfluss aus, das Urteil eines Peter Lippert SJ oder eines Engelbert Kirschbaum SJ hatte Gewicht. Sich einbringen und mitreden lautete die Devise – auch mit Rezensionen von Büchern übrigens, eine heute leicht unterschätzte Rubrik. Die „Stimmen der Zeit“ wollten einen katholischen Standpunkt zu Gehör bringen – und mussten lernen, dass die Catholica im Plural zu verstehen ist. Geistige wie geistliche Uniformität hat zu keiner Zeit existiert, außer um den Preis von Repressalien. Das letzte Konzil lehrte, sich von dieser Illusion zu verabschieden.
Frühere Untertitel wie „Katholische Monatsschrift für das Geistesleben der Gegenwart“ oder „Monatsschrift für das Geistesleben der Gegenwart“ grenzten aus oder ab. Es ging und geht um das weite Feld von Christentum und Kultur, um Gespräch, das Ringen um Position. Was auch andere europäische Kulturzeitschriften des Ordens wie „La Civiltà Cattolica“, „Études“, „Razón y fe“, „The Month“, oder jüngere Gründungen, wie „Orientierung“, „Choisir“, „Streven“ oder „Signum“ – tun (oder taten), um nur einige aus dem weltweiten jesuitischen Netzwerk zu nennen.
Erich Przywara SJ, Oswald von Nell-Breuning SJ oder Karl Rahner SJ, um im 20. Jahrhundert zu bleiben, schrieben regelmäßig für die „Stimmen der Zeit“. Seit 1957 zur Redaktion gehörend, hat Wolfgang Seibel SJ ihre Geschicke als Chefredakteur und Herausgeber zweiunddreißig Jahre lang, von 1966 bis 1998, geprägt. Zuvor bereits Wegbereiterin des Konzils, wurden die „Stimmen der Zeit“ während seiner Amtsperiode zu einer Plattform für den vom Zweiten Vatikanum gewollten und geförderten Dialog mit der Welt von heute. Sich im intellektuellen Diskurs einzubringen, dabei auch Flagge zu zeigen, wurde zum Leitbild – in „kritischer Loyalität“ zum kirchlichen Lehramt.
Die „Stimmen der Zeit“ waren und sind ein Minderheitenprogramm. Sie bieten nicht nur einer Stimme oder einer Denkrichtung eine Plattform. Gegen die Mentalität geistiger Häppchen-Kultur in „postfaktischer Zeit“ oder von Twitter-Botschaften als heimlichen Konkurrenten bei der Meinungsbildung setzen sie auf Analyse. Und sie wollen etwas bewirken! Das Riskieren von Spannungen oder Konflikten ist dabei unvermeidlich. „Es geht auch anders“ – das war in den letzten Jahren ein unausgesprochenes Motto nach Papst Franziskus: „Weckt die Welt auf! Seid Zeugen eines anderen Handelns!“ Kontrastkultur: anders leben, denken, handeln und schreiben als der Mainstream.
Ein attraktives Layout, ein gehaltvoller Internetauftritt sind heute Herausforderungen. Letztlich geht es darum, „Stimmen“ auszuwählen und zu artikulieren, die zu lesen sich lohnt. Jetzt steht eine gravierende Zäsur an: Die Redaktion wechselt im Januar 2018 von München nach Berlin. Wir wünschen dem neuen Team Erfolg.