Drei Mal hat Antonio Spadaro SJ, Direttore der italienischen Jesuitenzeitschrift „La Civiltà Cattolica“, den US-amerikanischen Regisseur, Drehbuchautor und Filmemacher Martin Scorsese (geb. 1942 in Queens, New York) getroffen: am 3. März 2016 in dessen Haus in New York, am 25. November 2016 in einem Hotel in Rom, wo dieses Interview geführt wurde, und drei Tage später noch einmal in Rom. Das auf Englisch geführte Interview wurde kurz vor Weihnachten auf Italienisch in der CivCatt 126 [2016/IV] no. 3996 [24 dicembre] 565-586) veröffentlicht und auch online gestellt: ‹www.laciviltacattolica.it/articolo/silence-intervista-a-martin-scorsese/›. In mehreren anderen europäischen Kulturzeitschriften des Jesuitenordens erscheinen (Teil-)Übersetzungen des Interviews. Wir veröffentlichen hier eine Kurzfassung – der redaktionelle Vorspann Spadaros wurde weggelassen, weitere Kürzungen sind mit […] markiert. Die Langfassung ist auf der Homepage der „Stimmen der Zeit“ nachzulesen: ‹www.stimmen-der-zeit.de›. (Red.)
Antonio Spadaro SJ: Wie hat sich das Projekt „Silence“ in Ihrem Kopf entwickelt? Ich weiß, dass es ein „Herzblutprojekt“ ist und dass Sie es über Jahre hinweg reifen ließen ... über zwanzig, vielleicht sogar dreißig Jahre...
Martin Scorsese: 1988 stieß ich auf Shūsaku Endōs Roman. Im August 1989 beendete ich die Lektüre im Hochgeschwindigkeitszug von Tokyo nach Kyoto, nachdem die Szenen mit mir als Van Gogh in Akira Kurosawas „Dreams“ (dt.: Träume) gedreht worden waren. Ich kann nicht mehr sagen, ob ich schon damals einen Film darüber drehen wollte. Die Geschichte wirkte auf mich derart tiefgreifend und verstörend, dass ich nicht wusste, ob ich jemals den Versuch wagen könnte, mich dem Stoff filmisch anzunähern. Aber etwas in mir hörte nicht auf zu stacheln: „Du musst es versuchen!“ Um 1990/91 erhielten wir die Rechte. Etwa ein Jahr später versuchten mein Freund und Schriftstellerkollege Jay Cocks und ich einen Entwurf. Aber ehrlich gesagt war ich noch nicht bereit. Dennoch war dies der Beginn eines langen Prozesses, der im Dezember 2006 letztlich zu dem ersten echten Skriptentwurf führte – erst zu diesem Zeitpunkt hatten wir eine Struktur für einen Film entwickelt.
Eine Art Pilgerreise
Während all der Jahre habe ich nie ehrlich daran geglaubt, den Film zu drehen. Es fühlte sich an wie ... eine Anmaßung. Ich wusste nicht, wie ich mit den Leitmotiven umgehen sollte. Hinzu kamen die enormen Schwierigkeiten bei der Umsetzung des Projekts – auch noch, nachdem das Skript fertiggestellt war. Derart viele rechtliche und finanzielle Schwierigkeiten hatten sich über die Jahre angestaut, dass die Situation zunehmend einem Gordischen Knoten glich. Es erforderte viele Menschen und viel Zeit, um die Fäden zu entwirren. Und dann war da noch das Problem mit den Schauspielern. Es gelang mir, Schauspieler zu finden, die mir gefielen und die zugleich Zuschauermagneten waren. Sie stimmten zu, den Film zu drehen. Aber im Lauf der Zeit wurden sie entweder zu alt oder waren keine Zuschauermagneten mehr – oder beides. Ich suchte Schauspieler, die den für den Dreh notwendigen finanziellen Gewinn garantierten, die zugleich aber auch die Rollen spielen wollten. Ein sehr, sehr langer Prozess – neunzehn Jahre, um genau zu sein – mit vielen Rückschlägen und Neuanfängen!
Rückblickend glaube ich, dass dieser lange Gärungsprozess dazu führte, mit der Geschichte zu leben – d. h. das Leben, mein Leben, in ihr entlang zu führen. Um die Ideen des Buches herum. Ich fühlte die Provokation, die von diesen Ideen ausging: Bleibe an den Fragen des Glaubens dran! Wenn ich zurückschaue, sehe ich, wie in meiner Erinnerung alles zu einer Art Pilgerreise zusammenfließt. Genau so fühlt es sich an. Ich habe eine unfassbare Gnade darin empfangen, diesen Film jetzt, zu diesem Zeitpunkt meines Lebens machen zu können.
Wie hat das Verlangen, diesen Film zu drehen, in ihnen gewirkt? War es wie eine ferne Idee, die in der Zukunft verwirklicht werden würde, oder mehr wie eine anhaltende Inspiration für all Ihre Arbeiten in den letzten Jahren?
Nun, wie gesagt: Die Geschichte war mit mir. Ich habe mit ihr gelebt. Sie hat allem, was ich produziert habe, Gestalt gegeben. Sie hat Entscheidungen beeinflusst. Sie hat meinen Zugang zu anderen Ideen und Szenen anderer Filme der letzten Jahre geprägt. Das heißt, auf der einen Seite gab es das Verlangen, den Film tatsächlich zu drehen. Auf der anderen Seite war der Roman Endōs mit seiner Geschichte ein immer gegenwärtiger Ansporn, um über die Fragen des Glaubens nachzudenken; über das Leben und darüber, wie es gelebt wird; über Gnade und darüber, wie sie empfangen wird; und darüber, wie – so denke ich – am Ende das Leben und die Gnade beide eins sind. Dieser Ansporn wiederum gab mir größere Stärke und Klarheit für meinen Versuch, den Film tatsächlich zu produzieren.
An Gott zu glauben und katholisch zu sein sind für Sie zwei verschiedene Dinge. Habe ich das richtig verstanden? Was meinen Sie damit?
Ich interessiere mich dafür, wie Menschen Gott wahrnehmen, oder besser, wie sie die Welt des Ungreifbaren wahrnehmen. Es gibt viele Wege, und welchen wir wählen, hängt von der Kultur ab, der wir zugehören. Mein Weg war und ist der Katholizismus. Nachdem ich jahrelang über andere Dinge nachdachte und mich hier und da ausprobierte, fühle ich mich nun als Katholik vollkommen wohl. Ich glaube an die Grundbotschaften des Katholizismus. Ich bin kein Kirchenlehrer und kein Theologe, der die Trinität verteidigen könnte. Zweifellos interessiere ich mich noch weniger für die politische Dimension der Institution. Aber die Idee der Auferstehung, die Idee der Inkarnation, die machtvolle Botschaft des Mitgefühls und der Liebe – das ist der Schlüssel. Die Sakramente, sofern es einem erlaubt ist, sie zu empfangen, sie zu erleben, helfen dabei, Gott nahezubleiben.
Was ich sage, verlangt natürlich die Anschlussfrage: Bin ich ein praktizierender Katholik? Wenn das bedeutet: „Bist Du ein Kirchgänger?“, lautet die Antwort: „Nein!“ Aber schon früh habe ich erkannt, dass „Praxis“ nicht notwendig bedeutet, zu einer bestimmten Tageszeit an einem geweihten Ort bestimmte Riten durchzuführen. Praxis geschieht „da draußen“, und zwar immer. Eigentlich ist alles, was man tut, ob gut oder schlecht, inklusive der Reflexion darauf, Praxis. Darin liegt eine große Anstrengung, aber ich kenne auch die wohlige Behütetheit und die tiefe Prägung durch den Glauben meiner frühen Jahre – das ist etwas, worauf ich immer wieder zurückkommen kann; aber es ist ein Zurückkommen.
Auf jeden Fall scheint Ihr Film, Ihre Wahl eines Romans wie „Schweigen“ eine Rückkehr zu den Wurzeln der christlichen Spiritualität und katholischen Bildwelt zu sein. In einem gewissen Sinn könnte es ein Film von Georges Bernanos sein. Wie sehen Sie das?
Ich stimme zu, dass der Film zu den Wurzeln christlicher Spiritualität zurückkehrt, aber ich zögere, ihn mit Bernanos zu vergleichen. Letztlich dreht sich alles um Gnade. Gnade begegnet uns unser ganzes Leben lang. Sie erscheint in unerwarteten Momenten. Dies sage ich als jemand, der nie Krieg, Folter oder Fremdherrschaft erleiden musste. Dem gegenüber gibt es natürlich auch jene, die tatsächlich auf die Probe gestellt wurden. Jaques Lusseyran zum Beispiel, der blinde Führer einer französischen Widerstandsbewegung, der nach Buchenwald deportiert wurde und dort den Geist des Widerstandes um seiner Mitgefangenen willen am Leben hielt – übrigens versuchen wir seit vielen Jahren, ausgehend von seinen Memoiren „And There Was Light“ (dt.: Das wiedergefundene Licht), einen Film zu drehen. Ich denke auch an Dietrich Bonhoeffer. Auch Elie Wiesel und Primo Levi konnten einen Weg finden, anderen zu helfen. Ich behaupte nicht, dass ihr Beispiel eine letzte Antwort auf die Frage bietet, wo Gott war, als so viele Millionen Menschen systematisch abgeschlachtet wurden. Aber es gab sie, ihr Leben ist Ausdruck unermesslichen Mutes und Mitgefühls, und wir erinnern uns ihrer als eines Lichtes in der Dunkelheit.
Man kann nicht durch die Brille fremder, sondern nur der eigenen Erfahrung klar sehen. So paradox es klingen mag, der Roman Endōs, eines Japaners, ist mir viel näher als Bernanos es ist. In Endōs Welt sind Zärtlichkeit und Mitgefühl immer präsent. Immer. Sogar wenn seine Charaktere selbst dies gar nicht wissen, so wissen doch wenigstens wir es.
Gott foltert nicht
Wer ist Gott für Sie? Ist er der Strafende und Unberührbare oder die Quelle von Freude und Harmonie? Papst Franziskus nennt Gott „Barmherzigkeit“. Er will jede Vorstellung Gottes als eines Folternden zurückweisen und loswerden. Kann Gott foltern?
Das bringt mich zu Bernanos zurück, konkret zu Robert Bresson und dessen Adaptation von „Tagebuch eines Landpfarrers“. Erstmals sah ich den Film in der Mitte der 1960er-Jahre. Ich war in meinen frühen Zwanzigern und im Begriff, erwachsen zu werden, d. h. über meine kindliche Idee von Katholizismus hinauszugehen. Wie so viele Kinder war ich überwältigt und tief geprägt von der Strenge Gottes. Er wurde uns stets dargestellt als der Gott, der straft, wenn man etwas Böses tut, als der Gott von Blitz und Donner. Genau damit hat sich Joyce in „A Portrait of the Artist as a Young Man“ (dt.: Ein Porträt des Künstlers als junger Mann) beschäftigt. Das Werk hatte zu dieser Zeit einen tiefen Einfluss auf mich.
Die Situation des Landes war damals dramatisch. Der Vietnam-Krieg befand sich in der Eskalation und war gerade als „Heiliger Krieg“ ausgerufen worden. Wie viele andere spürte auch ich eine Art von Verwirrtheit und Verzweiflung, die schlicht da war, als Teil der alltäglichen Realität. Zu dieser Zeit sah ich Bressons Film „Tagebuch eines Landpfarrers“, und er gab mir Hoffnung. Jeder einzelne Charakter leidet, vielleicht mit der Ausnahme des alten Priesters. Jeder einzelne fühlt sich schuldig, und die meisten von ihnen beschuldigen sich gegenseitig. In einer der Szenen sagt der Priester in einem Austausch mit einem seiner Gemeindemitglieder: „Gott foltert nicht. Er will einzig, dass wir barmherzig mit uns selbst sind.“ Das hat mir die Augen geöffnet. Ich hatte einen Schlüssel gefunden. Wenn wir in jenen Momenten, in denen wir das Gefühl haben, dass Gott uns straft und foltert, die Zeit und den Raum nehmen, um darüber zu reflektieren, stellen wir fest, dass wir es sind, die strafen und foltern, dass wir es sind, die unserer eigenen Barmherzigkeit bedürfen. In Paris hatte ich einmal die Gelegenheit, Bresson zu treffen, und ich erzählte ihm, was mir sein Film bedeutet.
Nachdem ich „Raging Bull“ (dt.: Wie ein wilder Stier) fertiggestellt hatte, fiel mir auf, dass wir auf denselben Punkt aufmerksam gemacht hatten – es war das Thema unseres Filmes. Wir haben den Film nicht mit einem bestimmten Thema begonnen. Wir wollten lediglich einen Film über jemanden drehen, der ein gewöhnliches Leben in unserer gewohnten Welt führt. Jake bestraft jeden in seinem Umfeld, aber letztlich straft er sich selbst. Am Ende also, als er in den Spiegel schaut, begreift er, dass er barmherzig mit sich selbst sein muss. Oder, anders gesagt, dass er sich selbst annehmen und mit sich selbst zu leben lernen muss. Dann wird es ihm vielleicht leichter fallen, auch mit den anderen zu leben und sie in deren Wert anzunehmen.
Als ich jung war, hatte ich das außergewöhnliche Glück, einen bemerkenswerten Priester zu haben, Pater Principe. Ich habe unglaublich viel von ihm gelernt; nicht zuletzt, mit mir und anderen barmherzig zu sein. Natürlich hat er manchmal den strengen Moralprediger gespielt, aber sein Lebenszeugnis war ein anderes: Dieser Mann war ein echter Wegweiser. Er konnte sehr entschieden sprechen, aber er hat einen nie zu etwas gezwungen. Er hat den Weg gewiesen, Rat gegeben. Er hat überzeugt. Seine Liebe war beispiellos.
Besessen vom Spirituellen?
Eine Kritik schreibt über „Scorseses Besessenheit von dem Spirituellen“. Würden Sie zustimmen, von der spirituellen Dimension des Lebens „besessen“ zu sein? Marilynne Robinson trifft in ihrem Buch „Absence of Mind“ den Kern ihrer Frage. „Unser naturhaftes Wesen – dass wir, zum Beispiel, auf brilliante Weise schöpferisch und auf ebenso brilliante Weise zerstörerisch sein können – bleibt als unumgängliches Faktum bestehen, selbst dann, wenn wir die Bezeichnung „Primat“ als ausschöpfende Beschreibung unseres Wesens halten. Ja, sie hat Recht. Die Vorstellung, dass alles naturwissenschaftlich beschrieben werden kann, würde ich nicht als lachhaft beschreiben, wohl aber als ziemlich naiv. Wenn wir es wagen, unseren Geist dem großen, überwältigenden Geheimnis anzunähern, dass wir hier sind, dass wir leben und sterben, dann erscheint mir die Vorstellung, den Dingen allein mithilfe der Naturwissenschaft restlos auf den Grund gehen zu können, schlicht abwegig zu sein. Darüber schreibt Robinson in ihren Essays und ihrem Roman. Ihr Konzept von „Geist und Seele“ ist nach meiner Wahrnehmung zutiefst katholisch.
Tatsächlich ist alles, was wir tun, ein Ausdruck von Geist und Seele – das Gute, das wir tun, und der Schaden, den wir anrichten. Es geht allein um den Versuch der Annäherung, ganz allgemein gegenüber unseren Mitmenschen und spezieller gegenüber denen, die wir lieben. Mein ganz persönliches Ringen lag immer darin, mit meiner Eingenommenheit durch meine Arbeit, mit meiner Eingenommenheit durch mein Ego umzugehen, um für die Menschen da sein zu können, die ich liebe. Auf der Leinwand versuche ich, dieses innere Ringen auszudrücken.
Ein zweiter Kampf liegt für mich darin, in der Welt des Bekanntseins und des Ruhmes, des Ehrgeizes und Wettkampfes zu leben. Ich muss zugeben, bis zu einem bestimmten Grad Teil dieser Welt zu sein, und ich habe einige Filme darüber gedreht. Die spirituelle Dimension des Lebens war jedoch immer da. Carl G. Jung hatte eine lateinische Inschrift an der Tür seines Hauses in der Schweiz angebracht: „Vocatus atque non vocatus deus aderit.“ Gerufen oder nicht gerufen, Gott wird kommen. Damit ist alles gesagt. [...]
Die eigene Sterblichkeit – und Selbstannahme
Sie haben behauptet, an der Schwelle der Zerstörung gelebt zu haben, dem Untergang nahe gewesen zu sein. Was bedeutet Rettung für Sie?
Selbstzerstörung birgt einen Schwindel in sich: dass man sich selbst zerstören müsse, um Zerstörung zu verstehen. Plötzlich wird Selbstzerstörung zu einer Art arrogantem Stolz. Aus dem selbstzerstörerischen Moment in meinem Leben bin ich irgendwie wieder herausgekommen. So naiv, wie ich hineingeschlittert bin, so naiv bin ich auch wieder aufgetaucht, scheint mir.
Als Messdiener begleitete ich die Beerdigungen beim samstäglichen Hochamt für das feierliche Totengedenken. Der Vater eines Freundes war Leichenbestatter. Zusehen zu können, wie die ältere Generation, die zur Jahrhundertwende aus Sizilien gekommen war, vor unseren Augen wegstarb, war eine erschütternde Erfahrung für mich. Ich dachte also viel über Sterblichkeit nach – nur nicht über meine eigene. Es kam der Punkt, an dem ich eingestehen musste, mir selbst enorm geschadet zu haben. Dann kam die Zeit, da ich mich davon befreite und der erste Film, den ich danach drehte, war „Raging Bull“.
Ihre Frage hat noch einen zweiten Aspekt, über den wir zuvor im Zusammenhang mit meinem neuen Film bereits gesprochen haben: Wie kann man sich selbst annehmen, mit sich selbst zu leben lernen, vielleicht eine positive Kraft im Leben anderer Menschen werden? Von diesem Gedanken ausgehend, können wir eine Definition von Rettung erschließen. Doch letztlich geht es uns um die Menschen, die wir lieben: die eigene Familie, die Freunde, die Lieben. Ihnen gegenüber versucht jeder, so gut, so vernünftig, so mitfühlend wie möglich zu sein.
Dieser Spur folgend, können wir noch etwas anderes lernen. In „Ride the High Country“ (dt.: Sacramento) von Sam Peckinpah gibt es eine Szene, in der Edgar Buchanan, ein betrunkener Minister, den von Mariette Hartley gespielten Charakter heiratet und dabei sagt: „Es gibt etwas, das Du über die Ehe wissen solltest – Menschen verändern sich.“ Dasselbe gilt für jede Art von Beziehung, von Zusammenarbeit. Menschen, die du sehr gut kennst und mit denen du eine lange Zeit zusammengearbeitet hast, entwickeln im Laufe der Zeit andere Bedürfnisse, andere Prioritäten – und es ist an dir, dies wahrzunehmen und damit umzugehen. Du akzeptierst, wer sie sind und wie sie sich verändert haben, du nährst, was davon wachsen soll. Manchmal musst du auch anerkennen, dass jemand seinen eigenen Weg gehen muss. Es gab eine Zeit, zu der ich dies für einen Verrat hielt. Aber dann begriff ich, dass es keiner ist. Es war nur eine Veränderung.
„Rettung“ ist ein interessantes Konzept. Man kann ihr nie begegnen. Weiß man im Moment seines Todes, sofern man bei Bewusstsein ist, ob man ein Geretteter ist? Wie könnte man es wissen? Zu Lebzeiten kann man es erst recht nicht wissen. Das Einzige, was man tun kann, ist ein so anständiges Leben wie möglich zu führen. Wer fällt, muss aufstehen und es erneut versuchen – ein Klischee, aber zugleich so wahr. Das Leben ist für mich eine Berg- und Talfahrt, durchzogen von Begeisterung und Dunkelheit. Der Zweifel wird zur Selbstinfragestellung. Niemand kann das umgehen. Denn, nochmals: Du musst dich selbst annehmen. Selbstannahme ist ein fortlaufender Prozess.
[...]
Berufung und Stolz
Welcher Charakter aus Endōs Roman „Schweigen“ und ihrem gleichnamigen Film hat sie am meisten gepackt? Warum?
Als ich jünger war, wollte ich einen Film darüber drehen, wie es ist, ein Priester zu sein. Ich selbst wollte in die Fußstapfen Pater Principes treten und Priester werden. Ich besuchte ein vorbereitendes Priesterseminar, schied aber im ersten Jahr aus. Im Alter von fünfzehn Jahren verstand ich, dass eine Berufung etwas sehr besonderes ist und dass man sie nicht erzwingen kann, nur weil man in die Fußstapfen seines Idols treten möchte. Man muss einen echten Ruf haben.
Hat man aber einen Ruf, wie kann man dann mit seinem Stolz umgehen? Wer in der Lage ist, einem Ritual vorzustehen, in dem Transsubstantiation geschieht, muss tatsächlich sehr besonders sein. Es braucht aber noch etwas anderes. Neben dieser bestimmten Gabe und Fähigkeit muss ein Priester immer zuerst an seine Gemeindemitglieder denken. Die Frage ist also: Wie kann ein Priester sein Ego überschreiten? Seinen Stolz? Darüber wollte ich einen Film drehen. Irgendwann begriff ich, dass ich mit „Schweigen“ diesen Film sechzig Jahre später endlich gedreht hatte. Rodrigues beschäftigt sich mit eben dieser Frage.
Der faszinierendste und packendste Charakter aber ist meiner Ansicht nach Kichijiro. Manchmal dachte ich mir während der Dreharbeiten: „Vielleicht ist er ein zweiter Jesus“. Bei Matthäus sagt Jesus: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ Manchmal begegnet man Menschen auf der Straße, die einen abstoßen – das ist Jesus! Kichijiro offenbart ständig seine Schwäche und richtet permanent Schaden gegenüber sich selbst und vielen anderen an, sogar gegenüber seiner Familie. Aber wer ist am Ende an Rodrigues‘ Seite? Kichijiro. Er war, wie sich herausstellt, Kichijiros bedeutendster Lehrer. Sein Mentor. Sein Guru, sozusagen. Das ist der Grund, warum Rodrigues ihm am Ende dankt.
Mit Blick auf meine eigenen Filme wurde freilich bemerkt, dass Kichijiro als Johnny Boy in „Mean Streets“ (dt.: Hexenkessel) auftaucht. Charlie, gespielt von Harvey Keitel, muss seinen Stolz überwinden. Er begreift, dass Spiritualität und Glaubenspraxis nicht auf das physische Kirchengebäude beschränkt sind, sondern sich draußen auf der Straße bewähren müssen. Niemand kann seine Buße selbst bestimmten. Charlie denkt, dass er es könne, aber die wahre Buße geschieht zu einer Zeit und aus einer Richtung, wie man sie am wenigsten erwartet. Aus diesem Grund faszinieren mich Johnny Boy und Kichijiro. Sie sind der Schauplatz von Zerstörung und Erlösung. Diesen Einsichten liegen viele Beobachtungen aus meiner Kindheit zugrunde, gespeist vor allem durch die Beziehung zwischen meinem Vater, dessen Name Charlie war, und seinem Bruder Joe.
Sind Pater Rodrigues und Pater Ferreira zwei Seiten derselben Münze oder sind sie zwei unterschiedene, miteinander unvergleichbare Münzen?
Wir wissen nichts über den Glauben des historischen Pater Ferreira, aber in Endōs Roman scheint es, als verliere er ihn. Eine andere Lesart liegt in der These, dass er über die Scham, seinen Glauben verraten zu haben, nicht mehr hinwegkam, selbst wenn er es tat um anderen das Leben zu retten.
Rodrigues hingegen verrät seinen Glauben und gewinnt ihn genau dadurch wieder zurück. Darin liegt das Paradox. Um es ganz einfach zu formulieren: Rodrigues hört, wie Jesus zu ihm spricht, Ferreira nicht – das ist der Unterschied. […]
Das wahre Antlitz Christi
„Schweigen“ scheint die Geschichte einer tiefen Enthüllung des Antlitzes Christi zu sein. Der Christus, der uns dabei vor Augen geführt wird, scheint von Rodrigues zu erbitten, um der Rettung anderer Menschen willen von ihm mit Füßen getreten zu werden – denn dazu sei er in die Welt gekommen ... Wie sehen Sie das Antlitz Christi? Ist es, wie Endō beschreibt, ein solches „Fumie“, ein „Tretbild“, das mit Füßen getreten werden soll? Oder ist es vielmehr der majestätisch herrschende Christus?
Mein Antlitz Christi ist jenes, das El Greco malte. In ihm scheint das Mitgefühl viel deutlicher durch als etwa in dem von Piero della Francesca. Das Antlitz Christi war mir in jungen Jahren stets Trost und Freude.
Einmal abgesehen von „The Last Temptation of Christ“: Welcher Film liefert ihrer Meinung nach das beste Porträt des wahren Antlitzes Christi?
Der beste Film über Christus ist meiner Meinung nach Pasolinis „Vangelo secondo Matteo“ (dt.: Das 1. Evangelium – Matthäus). Als ich jung war wollte ich eine zeitgenössische Version der Geschichte Christi drehen, verortet in den Häusern und Straßen von Downtown New York. Als ich aber Pasolinis Film sah, wurde mir klar, dass er mir zuvor gekommen war.
„Eine Gewissheit, dass nichts passieren würde“
Gab es eine Situation in ihrem Leben, in der sie gespürt haben, dass Gott nahe ist, auch wenn er still bleibt?
In meinen frühen Jahren als Messdiener hatte ich zweifellos einen Sinn für das Heilige. In „Schweigen“ versuche ich dies durch die Szene mit der Messe auf dem Bauernhof in Goto zu vermitteln. Ich erinnere mich jedenfalls, wie ich nach der Messe auf die Straße ging und mich fragte: Wie kann das Leben einfach so weitergehen? Warum hat sich nichts verwandelt? Warum ist die Welt nicht infiziert vom Leib und vom Blut Christi? Dies ist die Weise, wie ich die Gegenwart Gottes in meinen sehr frühen Jahren erlebte.
1983 suchte ich in Israel nach Drehorten für „Last Temptation“. In einem kleinen einmotorigen Flugzeug bereiste ich das Land. Ich hasse das Fliegen, vor allem in kleinen Flugzeugen. Ich klammerte mich also an den kleinen religiösen Gegenständen fest, die meine Mutter mir Jahre zuvor geschenkt hatte. Ich war erstarrt vor Anspannung. Zwischen Tel Aviv, Galiläa, Bethesda und Elat flog ich hin und her. Irgendwann führte man mich in die Kirche vom Heiligen Grab. Mein Produzent Robert Chartoff, der kürzlich verstorben ist, war mit dabei. Ich stand am Grab Christi, kniete nieder, sprach ein Gebet. Als ich heraustrat, fragte mich Bob, ob ich mich verändert fühlte. Ich verneinte, aber ich war schlicht überwältigt von der Geografie des Ortes und all den religiösen Orden, die einen Anspruch auf den Ort erhoben. Als es Zeit war, zurück nach Tel Aviv zu fliegen, betrat ich das Flugzeug und war erneut erstarrt vor Anspannung. Ich umklammerte diese Devotionalien meiner Mutter in meinen Händen. Aber plötzlich, als wir so dahinflogen, bemerkte ich, dass ich sie nicht mehr brauchte. Alles, was ich fühlte, war eine Art allumfassender Liebe und eine Gewissheit, dass nichts passieren würde. Es war unfassbar. Ich bin glücklich genug, diese Erfahrung einmal in meinem Leben gemacht zu haben.
Und dann ist da noch die Geburt meiner Tochter Francesca. Sie kam per Kaiserschnitt auf die Welt. Ich war dabei und schaute allem zu. Auf einmal aber musste ich den Raum verlassen. Ich wurde in einen anderen Raum geführt und konnte das Geschehen durch ein rechteckiges Fenster verfolgen. Ich sah hastiges, ja rasendes Treiben, bis schließlich etwas zum Vorschein kam, das auf mich wie ein lebloser Körper wirkte. Die Krankenschwester kam weinend heraus und sagte nur: „Sie wird es schaffen.“ Und dann umarmte sie mich. Ich wusste überhaupt nicht, ob sie meine Frau oder das Baby meinte. Dann kam der Arzt heraus, lehnte sich gegen die Wand, rutschte bis zur Hocke an ihr herunter und sagte, am Boden kauernd: „Man kann Pläne über Pläne schmieden, doch dann kommen diese zwanzig Sekunden reinen Terrors. Aber wir haben es geschafft.“ Fast wären ihnen beide verlorengegangen. Das nächste, woran ich mich erinnere, ist dieses kleine Bündel in meinen Händen. Ich blickte in ihr Gesicht, und sie öffnete ihre Augen. Und mit einem Mal war alles verwandelt.
In Marilynne Robinsons Roman „Gilead“, den ich während der Dreharbeiten zu „Stille“ las, gibt es eine Szene, an die ich mich nun erinnere. Der sterbende Minister beschreibt das Wunder, das er empfand, als er zum ersten Mal in das Gesicht seiner Tochter blickte. „Jetzt, da ich im Begriff bin, diese Welt zu verlassen“, sagt er, „verstehe ich, dass es nichts wundersameres gibt als das menschliche Gesicht. Es gibt eine Verbindung zur Inkarnation. Wer einmal ein kleines Kind erblickt und in seinen Händen geborgen hat, spürt die Verpflichtung. Jedes menschliche Gesicht ist ein Anruf. Man kommt nicht umhin, seine Einzigartigkeit, seinen Mut, seine Einsamkeit zu spüren. Am meisten gilt das für das Gesicht eines Kleinkindes. Ich halte diesen Anblick für eine Art Vision, nicht minder mystisch als jede andere“. Aus eigener Erfahrung kann ich bestätigen, dass dies absolut wahr ist.
Ist Mitgefühl ein Instinkt oder Liebe?
Der Kern ist, denke ich, die Selbstverleugnung. In „Mean Streets“ tappt Charlie in die Falle, seine Sorge für Johnny als Buße um seiner Erlösung und seinem eigenen spirituellen Nutzen willen missbrauchen zu wollen. Damit sind wir wieder bei der Frage nach dem guten Priester, der sein Ego zurückstellt. Wenn man diesen Sprung wagt, gibt es nur noch Bedürftigkeit – die Bedürftigkeit des Anderen – und alles Kopfzerbrechen über selbstgewählte Buße und die genaue Definition von Mitgefühl verschwinden. Sie werden bedeutungslos.
Gewalt und die Profanität des Lebens
Die Geschichte von „Schweigen“ ist reich an physischer und psychischer Gewalt. Worum geht es bei der Darstellung von Gewalt? Ihre Filme sind voll davon. Und was ist das Spezifische an der Gewalt in „Schweigen“?
Um Ihre vorherige Frage wieder aufzugreifen: Ich bin besessen vom Spirituellen. Ich bin besessen von der Frage, wer wir sind. Um sich einer Antwort anzunähern, müssen wir sorgfältig auf uns selbst schauen, auf das Gute und das Böse. Können wir das Gute so nähren, dass in der fernen Zukunft menschlicher Evolution das Böse aufhören wird zu existieren? Im Hier und Jetzt aber gibt es Gewalt. Wir begehen sie. Es ist wichtig, dies zu sagen. Niemand soll denken, dass es nur die Anderen sind, die Gewalt begehen: „Diese gewalttätigen Leute dort! Nein, ich könnte so etwas nie tun!“ Natürlich könntest du! Wir dürfen das nicht leugnen. Es gibt Menschen, die über ihre eigene Gewalttätigkeit erschrecken. Andere ergötzen sich an ihr. Gewalt ist in der Tat eine Form des Selbstausdrucks, unter verzweifelten Umständen, und alles andere als lustig.
Manche sagen, dass „Good Fellas“ (dt.: GoodFellas – Drei Jahrzehnte in der Mafia) lustig sei. Die Menschen sind vielleicht lustig, die Gewalt aber ist es nicht. Viele verstehen einfach nicht, was Gewalt ist, weil sie aus Kulturen oder besser Subkulturen kommen, die weit entfernt sind von Gewalt. Ich aber bin in einem Kontext aufgewachsen, in dem sie Teil des alltäglichen Lebens war und sehr nah an mich heranrückte.
In den frühen 1970er-Jahren erlebten wir das Ende der Vietnam-Ära und des gesitteten Anstands des alten Hollywoods. „Bonnie and Clyde“ (dt.: Bonnie und Clyde) und dann vor allem „The Wild Bunch“ (dt.: The Wild Bunch – Sie kannten kein Gesetz) sprengten den Horizont. Dies war die Sorte Film, die uns erreichte, wenn auch nicht unbedingt auf angenehme Weise. Gewalt ist für mich Teil des Menschseins. Der Humor in meinen Filmen rührt von den Menschen und ihrer Vernunft bzw. deren Ermangelung her. Gewalt und die Profanität des Lebens; weltliche Gesinnung, um es höflich auszudrücken; Profanität und Obszönität – all dies existiert und ist folglich Teil der menschlichen Natur. Das bedeutet nicht, dass wir inhärent obszön und profan sind – aber als menschliche Wesen haben wir die Möglichkeit dazu. Es ist keine schöne Möglichkeit, aber es ist eine.
Für Sie sind Filme wie Gemälde. In Ihrem Film haben die Fotografie und die Bilder einen herausragenden Wert. Wie kann Fotografie helfen, Geist sichtbar zu machen?
Durch das Bild erschafft man eine Atmosphäre. Man begibt sich in eine Lebenswelt, in der das Anderssein spürbar wird. Es gibt Bilder, Ideen und Gefühle, die man aus dem Film herausdestilliert, Ungreifbares, was durch Worte nicht ausgedrückt werden kann. Wenn man beim Schneiden des Films ein Bild mit einem anderen verbindet, erhält man im Geist ein vollkommen andersartiges drittes Bild – eine Empfindung, einen Eindruck, eine Idee. Sache der Fotografie ist es, eine Lebenswelt zu erschaffen. Aber das ist nur der erste Schritt. Erst im Zusammenfügen der Bilder wird der Film packend und sprechend. Das ist Sache des Filmschnitts, der eigentlichen Handlung des Filmmachens.
„Ich musste meinen eigenen Weg finden“
Wo haben Sie „Stille“ gedreht? In Taiwan, wie ich höre. Warum haben Sie genau diesen Ort gewählt?
Es hat mich Jahre gekostet, „Schweigen“ zu drehen, aus verschiedenen Gründen. Wir haben uns eine ganze Reihe an Orten auf der ganzen Welt angeschaut, bevor wir uns für Taiwan entschieden. Wir begannen mit den realen Orten in Japan, an denen Shūsaku Endōs Roman spielt: Nagasaki, Sotome, die heißen Quellen von Unzen. Letztlich konnten wir dort nicht drehen, weil es verboten teuer gewesen wäre. Neben Japan besuchte mein Production Designer Dante Ferretti Neuseeland, Vancouver, Nordkalifornien und schließlich Taiwan mit seinen außergewöhnlichen Landschaften und Küsten, die buchstäblich unberührt sind und äußerlich den Schauplätzen des Romans sehr nahe sind. Uns war sofort klar, dass dies der Ort war, wo wir den Film drehen könnten.
War Ihr Film zumindest teilweise von anderen Filmen inspiriert? Wenn ja, welche?
Ehrlich gesagt, war ich ganz auf mich gestellt. Ich musste meinen eigenen Weg finden. Grundsätzlich haben viele Filme einen Einfluss auf mich ausgeübt. Viele asiatische. Viele europäische. Viele amerikanische. Ich lebe mit ihnen. Sie sind mit mir. Es handelt sich also nicht nur um diesen oder jenen vereinzelten Film. Zu manchen von ihnen bin ich viele Male zurückgekehrt – zum Beispiel zu „The Searchers“ (dt.: Der Schwarze Falke), „Vertigo“ (dt.: Vertigo – aus dem Reich der Toten), oder „8½“ (dt.: Achteinhalb). Ebenso die Filme Rossellinis – „Open City“ (dt.: Rom, offene Stadt), „Paisan“ (dt.: Paisà) und „Voyage to Italy“ (dt.: Liebe ist stärker). „Ordet“ (dt.: Das Wort) hingegen habe ich nur ein einziges Mal gesehen. Er ist so rein, so schön, so schockierend. Jeder Moment birgt einen spirituellen Übergang, eine spirituelle Verwandlung. Keines dieser Werke ist bloße Unterhaltung.
Gibt es einen Ihrer Filme, den Sie neben „Schweigen“ halten würden, um einen Vergleich anzustellen? Entweder, weil sie sich so ähneln oder weil sie das Gegenteil bedeuten?
Vermutlich ist „Raging Bull“ ähnlich. Genauso „Mean Streets“. Und vielleicht ist „The Departed“ (dt.: Departed – Unter Feinden) das Gegenteil von „Schweigen“. Bill Monaghans Skript reizte mich, weil es aus der Perspektive des in Boston angesiedelten irischen Katholizismus geschrieben war. „The Departed“ endet am moralischen Nullpunkt. Es kann nur noch bergauf gehen. Welche Opfer die Charaktere darbringen, vor allem Billy, gespielt von Leonardo Di Caprio! Roger Ebert sagte einmal, es sei, als könne man Billy im Beichtstuhl zuhören: „Ich wusste, dass es böse war, Pater, aber ich konnte einfach nicht anders. Ich war in einer Sackgasse. Ich wusste, dass es falsch war, aber was hätte ich tun sollen?“ Der Film hatte für mich viel mit dem 11. September zu tun, weil er versuchte, unsere Kultur und unsere Lebensweise im Licht dieses Ereignisses neu zu betrachten. Mir schien damals, dass wir von diesem Punkt aus einen moralischen Neubeginn wagen mussten. Wir haben es verpasst. In „Raging Bull“ ist Jake unaufhörlich in Schwierigkeiten. Egal wo er ist: Im Ring, im Fitnessstudio, auf der Straße, im Schlafzimmer, im Wohnzimmer ... Überall bestraft er fortwährend sich selbst und alle anderen. So wie Kichijiro. Der Unterschied ist nur, dass Kichijiro keine Wahl hat, während Jake auch anders könnte.
Gab es im Verlauf der Filmvorbereitung eine Situation oder ein Ereignis, das Sie in besonderer Weise zum Nachdenken gebracht hat?
Nun, wie gesagt, ich habe lange mit der Darstellung gelebt, den Film oft zur Seite gelegt und verschoben. Auf diese Weise drückte sich mein Nachdenken aus.
Hatten Sie Gefährten im Glauben, von denen Sie bei Ihren Nachforschungen und beim Dreh Unterstützung erfahren haben?
Da ist zuallererst Erzbischof Paul Moore von der Episcopal Church St. John the Divine in New York, der mir in den Achtzigern den Roman zu lesen gab. Wir führten ihm „Last Temptation“ vor, nicht wissend, wie seine Reaktion ausfallen würde. Er und ich hatten eine gute Diskussion nach dem Film. Gerade als er sich verabschiedete, sagte er mir, dass er mir ein Buch geben wolle – es war „Schweigen“.
Pater James Martin SJ war enorm wichtig für uns. Er arbeitete mit Andrew Garfield an seinen Geistlichen Übungen (Exerzitien). Während der Dreharbeiten hatten wir die Unterstützung und Ermutigung mehrerer Priester in Taipei. Viele von ihnen dienten beim Dreh als Berater, um sicherzustellen, dass Andrew und Adam die Sakramente authentisch spenden. Darunter sind Pater Jerry Martinson SJ (Kuangchi Program Service), Pater Alberto Nunez Ortiz SJ (den wir über die Fu Jen Universität fanden) sowie Erzbischof Paul Russell und Pater Ivan Santus von der Nuntiatur in Taipei.
Wir hatten zahlreiche Geschichtsexperten, darunter zwei Jesuiten, die sehr hilfreich bei den Nachforschungen für den Film waren: David Collins SJ, der als Historiker an der Georgetown University arbeitet, und Shinzo Kawamura SJ von der Sophia University in Tokio.
Van C. Gessel, ein aus Japan stammender Professor für Sprachen an der Brigham Young University, hat einen Großteil der Werke Shūsaku Endōs ins Englische übersetzt. Er war eine großartige Unterstützung für unsere Arbeit und die direkte Brücke zu Endō. Bereits 2011 sind wir erstmals mit ihm in Kontakt getreten.
Als ich 2009 das Museum für die 26 Märtyrer in Nagasaki besuchte, traf ich Renzo De Luca SJ. Er hat uns die „Madonna vom Schnee“ bereitgestellt, die im Film auftaucht. Bereits davor hatte mein Beauftragter für die Nachforschungen sich mit Antoni Ucerler SJ getroffen.
Unsere zwei wichtigsten Berater in historischen Fragen sind beide katholisch aufgewachsen und seit 2011 in die Arbeiten am Film eingebunden. Jurgis Elisonas ist eine Autorität in der Erforschung des frühmodernen Japans und hat umfangreiche Schriften über die historischen Figuren Ferreiras verfasst. Liam Brockey ist ein Historiker, der über die Missionare des 17. Jahrhunderts und deren Präsenz in Asien geschrieben hat. Er ist augenblicklich der Präsident der American Catholic Historical Association.
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Mit dieser Liste von Namen, Freunden, Orten beschloss ich mein Interview. Bevor ich nach Seoul zurückflog, traf ich Martin Scorsese und seine Frau Helen noch einmal am 28. November. Er fragte mich: „Morgen treffe ich die Jesuiten für eine Vorführung meines Films. Was kann ich ihnen erzählen?“ Ich schlage ihm vor, über die Erfahrungen zu sprechen, die hinter dem Film stehen, über seine Gefühle, die ihn begleitet haben, über den tiefen Brunnen, aus dem er den Film geborgen hat. Auch ich habe aus diesem selben Brunnen schöpfen dürfen, als ich seinen Worten in unserem Gespräch lauschte.
(Aus dem Englischen übertragen von Moritz Kuhlmann SJ.)