„Der Romancier weiß durchaus, wie ausgewachsen, ja heruntergekommen, ja zweideutig sein Wirtsschild ist, unter dem er die Gäste zu sich einlädt, aber er weiß auch, dass der Roman gerade dadurch seine Universalität ausdrückt, indem er sich, ähnlich wie die Sprache selbst, für alles hergibt.“1
Diese Aussage von Stefan Andres aus dem Jahre 1963 steht im Kontext der Auseinandersetzung um die sogenannte engagierte Literatur, die insbesondere von kirchlichen Kreisen gefordert wurde; eine Auseinandersetzung, in der Stefan Andres sich von einer weltanschaulich so gut gemeinten, letztlich aber nur moralisch-allegorisch verbrämten Erbauungs- und Propagandaliteratur absetzte und demgegenüber die Seite des „absichtslosen Spiels“2 (224) verteidigte.
Freilich machte er auch deutlich, dass für das „menschlichste aller Menschenwerke: die Kunst“3 nicht auf die vier Kardinaltugenden verzichtet werden könne, die er wie folgt beschrieb:
„Ohne den Sinn für das Maß [...] ist das Werk überhaupt nicht vorstellbar; ohne Weisheit geschieht kein richtiger Blick in die Welt; ohne Stärke des Herzens wird dieser Blick nicht ertragen und ohne Gerechtigkeit vollends wird der Zufall zur Herrschaft aufgerufen.“4
Natürlich wollen wir nicht eine neue „Sendung des Dichters“ heraufbeschwören, die die Literatur in ethische oder dogmatische Kategorien einmauert. Und doch sind die hier zitierten Kardinaltugenden bestens geeignet, die Auswahl von Ralf Rothmann für den Stefan Andres-Preis zu begründen.
Der Sinn für das Maß
Das Maß zeigt sich in den Texten von Ralf Rothmann unter anderem daran, dass das Erzählte aus der Anschauung entstanden ist. In dem Roman „Stier“ gibt ein Arzt dem jungen Pfleger mit literarischen Neigungen den Rat, in eine Großstadt zu ziehen:
Das „wird Sie jedenfalls davor bewahren, Schöngeist zu werden. Nur, dass Sie dort das Abitur nachmachen und Germanistik, Literaturwissenschaften oder dergleichen studieren wollen: Lassen Sie das. Schreiben lernen Sie nicht in Universitäten; dann schon eher auf der Ladefläche eines Lasters, der durch Mexikos Steinwüsten brettert. Denn die Gedichte oder das, was Sie einmal verfassen werden, Geschichten oder Stücke: Die sind immer schon da. Nur Sie befinden sich noch woanders. Denken Sie daran, Sie haben keine Kraft. Wie jeder Mensch sind sie eine Kraft.“5
Wenn ich also die eigene Anschauung als konstitutiv für die Texte Ralf Rothmanns beschreibe, so will ich damit nicht behaupten, sie hätten alle einen autobiografischen Hintergrund. So sind etwa die autobiografischen Versicherungen des Erzählers in dem Roman „Im Frühling sterben“ in einem fiktionalen Rahmen zu lesen. Hier antwortet der Vater lakonisch auf die Bitte nach nochmaliger Erzählung des im Krieg Erlebten: „Wozu denn noch? Hab ich’s Dir nicht erzählt? Du bist der Schriftsteller.“ 6 Doch der Autor gibt im Interview mit „Psychologie heute“ preis, dass nicht dem Vater diese tragische Geschichte eines Soldaten, der den Befehl zur Exekution seines Freundes erhält, widerfahren ist.
Dennoch ist der Vater real, der wie viele seiner Generation durch Krieg und Bergbau tiefe Narben erhalten hat und über seine Geschichte mit dem Schrecken schweigt7. Dennoch ist die ständig rauchende Mutter real, die ihre Fingernägel, da abgesplittert, schon wieder lackiert, um sich in ein neues Vergnügen zu stürzen. Und dennoch sind die Heranwachsenden, die zwischen sexuellem Drängen und körperlicher Scham schwanken, ebenso real wie die Gestalten Ecki oder de Loo, die sich, voller Sehnsucht nach Leben, verspekuliert haben und aus der Spur gefallen sind, zusammen mit ihren „ollen“ Kumpels, aus dem Ruhrpott oder aus Berlin bevorzugt.
Schauplätze und Mobiliar, Figuren und ihr Sound – all dies ist gesättigt von der Anschauung, von dem persönlichen Maß. Da gibt es keine Exkursionen in fremde Galaxien oder exotische Trips (es sei denn LSD), da gibt es keine über die Zeitgeschichte hinausreichenden Rückgriffe, sondern ausschließlich den Stoff der erlebten und erinnerten Zeit, und der kann nicht ausgewichen werden.
Die Gerechtigkeit
Die Gerechtigkeit ist dabei nicht als moralische Kategorie innerhalb des Plots misszuverstehen. Vielmehr kommt sie in den Texten von Ralf Rothmann in einer Darstellung zum Tragen, die durchdrungen ist von der Haltung, jedem, seinen Erfahrungen und seinem grundlegenden Daseinsrecht erzählerische Achtung zu zollen, seien die Typen auch noch so verpeilt, verschwitzt und versoffen, noch so stumpf, verschlagen und brutal.
Und das ist das Verstörende in den Texten von Ralf Rothmann, es fließt viel Blut, keine Schrecklichkeit ausgelassen. Ob der kleine Bruder den Vogel im Käfig aufhängt und anschließend – gewissermaßen zur Sicherheit – ins Eisfach schmeißt8 oder die in ihrem Zynismus nicht zu übertreffenden SS-Offiziere die als Kollaborateure diffamierten ungarischen Bauern so an den Strick hängen, dass, wer nicht mehr auf dem Hocker stehen kann, elend erstickt oder sich das Genick bricht9 – für mich, die sich mir jede Schilderung in ein Bild im Kopf übersetzt, das bleibt, eine echte Zumutung! Wie Beatrice von Matt in ihrer Rezension des Romans „Im Frühling sterben“ schrieb:
„Rothmann geht da an die Grenze des Erträglichen, und beinahe fürchtet man, beim Lesen selbst beschädigt zu werden. Doch was dürfte der Autor auslassen?“10
Eindringlich und genau beschreibt er das Grauenvolle, beklemmend, die Abscheu spiegelt sich in den Figuren, wird aber nicht durch Benennung eines Gefühls gebannt.
Der richtige Blick in die Welt
Als Drittes nennt Stefan Andres die Tugend der Klugheit, oder besser sollten wir es in der Sprache von Andres sagen: den richtigen Blick in die Welt. Natürlich ist das Erzählen einer erlebten Welt nicht einfach mimetisch; vielmehr ist es bei Ralf Rothmann filmisch, präzise in Ton, Beleuchtung und Farbe. Elementarisiert. Die Themen existentiell: Vatersuche, Erwachsenwerden, Entgrenzung durch Sexualität, Mutterliebe und -enttäuschung, und immer wieder Abschied und Tod, Schuld über die Generationen hinweg.
Dafür entwickelt Rothmann eindringliche Bilder, figurative Szenen: Der kleine Junge (Juli), der anstelle der stehlenden Nachbargang ertappt wird, wie er seinerseits den Vater beim Ehebruch ertappt – eine Sünde, die er stellvertretend beichten möchte11; der Bruder (Traska), der Übermacht und Übergriffigkeit der Mutter nicht aushält und in epileptische Anfälle flüchtet, die ihn erst recht zugrunde richten12; die Männer, die ihre Häuser, den Stolz ihrer Arbeit, durch das Graben der Kohlestollen, langsam aber sicher zum Einsturz bringen13; die alte, gebrechliche Malerin, die alles unternimmt, einem sehr hoch hängenden Bild den letzten Farbtupfer zu geben und die nach Zuhilfenahme von Leitern, Tischen und Besenstielen einen „Lidschlag vor der Leinwand“ aufhört14; die junge Frau, die im Café am Montparnasse einen Fremden darauf anspricht, ihn aus ihren Träumen zu kennen und die Antwort erhält: „Ja, ich erinnere mich“15; oder der Sohn (Walter), der in die Front läuft, um das Grab seines Vaters zu suchen, gerührt von der Erinnerung an die Schläge, die dieser ihm verpasst hat16.
Und da ist auch Fiete, der immer wieder träumt, dass er exekutiert wird, und erfährt, dass sein Vater sich mehrmals das Grab schaufeln musste – in der Angst vor seiner Exekution:
„Und einmal, als ich meine Träume erwähnte, sagte er mir, dass es ein Gedächtnis der Zellen in unserem Körper gibt, auch der Samen- und Eizellen also, und das wird vererbt. Seelisch oder körperlich verwundet zu werden, macht was mit den Nachkommen. Die Kränkungen, die Schläge oder die Kugeln, die dich treffen, verletzen auch deine ungeborenen Kinder, sozusagen. Und später, wie liebevoll behütet sie auch heranwachsen mögen, haben sie panische Angst davor, gekränkt, geschlagen oder erschossen zu werden. Jedenfalls im Unterbewusstsein, in den Träumen. Eigentlich logisch, oder?“17
Doch sind es nicht nur die Ängste, es ist vor allem die Schuld, die als Gepäck die Zeit von einer Generation auf die andere überdauert.
Die Stärke des Herzens
Hier sind wir bei einer Dimension angelangt, die die vierte Kardinaltugend mit Händen greifen lässt: dem Mut, der Stärke des Herzens, den realistischen Blick in die Welt zu ertragen. Zeichen einer anderen Welt, nicht zuletzt Zitate aus der Bibel, begründen diese Dimension:
„Wenn du den Acker bebauen wirst, soll er dir hinfort seinen Ertrag nicht geben. Unstet und flüchtig sollst du sein auf Erden.“18
Die Verfluchung des Brudermörders Kain im Buch Genesis (4,12) ist es, die der Vater, vom Krieg heimgekehrt, in dem Roman „Im Frühling sterben“ mit dem Fingernagel in die Bibel einritzt. Und diesem Fluch entspricht das dem Propheten Ezechiel entnommene Motto des Romans: „Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne stumpf geworden.“ Schlägt man dort jedoch im 18. Kapitel nach, dann kann man sich die Augen reiben, denn gerade da steht zu lesen:
„ [...] keiner von Euch soll mehr dieses Sprichwort gebrauchen. [...] Nur wer sündigt, soll sterben. Ein Sohn soll nicht die Schuld seines Vaters tragen und ein Vater nicht die Schuld seines Sohnes.“ (Ez 18,2 f. u. 20)
Und im Roman „Milch und Kohle“ liest die in der Küche mit unlackierten Fingernägeln sitzende Mutter die Stelle vom leidenden Gottesknecht vor:
„,Der Prophet Jesaja. Hör mal... [...] Fürwahr er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der von Gott geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre. [...] Aber er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt.‘ Und sie fragt: „ist das wahr, Simon? Sind wir geheilt?“19
Kleine Einsprengsel sind es nur, die dennoch ein Interpretationsmuster geben, die plötzlich die staubige und schmutzige Welt ganz anders beleuchten und die um eines kreisen: um Erlösung. Oder wie es der Hebräerbrief (4,10 f.) in Entsprechung zu Kains Verfluchung formuliert: „in jenes Land der Ruhe zu kommen“. Oder wie es in dem Gedicht „Psalm Meier“ heißt: „Lobe den Herrn, bis du am Boden liegst / und nichts mehr tragen kannst. Bis Du erfährst, / was uns trägt.“20
„Staub bist Du und zum Staub musst du zurück“ (Gen 3,19), so lautet der Fluch, mit dem das Paradies verschlossen wird. Ursula Merz hat bei ihrer Laudatio auf Ralf Rothmann anlässlich der Verleihung des Max-Frisch-Preises darauf hingewiesen, dass seine Romane wie ein „umgekehrtes Firmament“ wirken und der Staub eine wichtige Rolle spielt: „Rußschichten und Staubwolken, Mücken- und Fliegenschwärme, die bei bestimmtem Licht Staubwolken ähneln – es gibt kaum einen Text Ralf Rothmanns ohne diese Attribute“21, und, so will ich anfügen, es gibt kaum einen Roman, in dem nicht eine Figur stirbt. Im „Lob der Stille“ hat Ralf Rothmann diese wunderbaren Sätze geschrieben:
„Es gibt mindestens zwei Lebensbereiche: den alltäglichen und den geheimnisvollen, und da, wo sie sich überschneiden, entstehen Zeichen, entsteht Poesie; im poetischen Satz ist die Welt für einen kurzen Augenblick am rechten Fleck, und der kennt keine Dualität und damit keine Entfremdung. Darum ist Poesie die Grundverfassung, der Elementarzustand unseres Lebens, der Bereich, in dem sein Herz schlägt und nicht der flache Puls der Prinzipien.“22
Möglicherweise sind die Liebe und das Sterben die Situationen par excellence, in denen sich diese beiden Bereiche überschneiden.
Ein Spagat zwischen Realismus und lyrischer Vergegenwärtigung einer anderen Welt
An zwei anrührende Szenen, in denen sich zwei Lebensbereiche überschneiden, will ich erinnern – Goldfäden unter dem Staub, wenn man so will –, und vielleicht auch nur deshalb als Goldfäden zu sehen, weil es den vielen Staub gibt.
In dem Roman „Im Frühling sterben“ findet Walter nach dem Krieg Elisabeth wieder, er spricht und schweigt über das, was er im Krieg „zu viel“ gesehen hat, über Kinder, die sie bekommen könnten, und fragt sie nach einem neuen gemeinsamen Leben im Ruhrpott:
„Aus dem Gastraum hörte man keine Musik mehr, keine Stimmen. Auch das Tellerklappern in der Küche war verstummt, und Elisabeth löschte die Lampe, wobei der Schalter kaum hörbar knisterte. Jetzt war es nur einen Lidschlag lang dunkel, und sie schmiegte sich an ihn; er legte eine Hand auf ihre Schulterblätter. Man konnte den Mond zwar nicht sehen durch das Fenster, doch sein Licht färbte den Rauch blau und zitterte auf den Möbelkanten und den Facetten des Spiegels wie der Reflex einer Sehnsucht, die man vor Erschöpfung fast vergessen hatte. Und dann sagte sie leise: ‚Ja.‘“23
Simon de Loo, dessen äußerlichen Abstieg der Roman „Hitze“ erzählt, taucht am Ende als Penner bei seinem Freund Klaputzsek auf, um in einer Winternacht auf der Straße zu sterben:
„Plötzlich ein feines, von fernher kommendes Geräusch, rätselhaft deutlich [...]. Er wagte kaum zu atmen. Das hatte er noch nie gehört, und er öffnete den Mund, starrte in die Nacht. Unsagbar sanft wechselte es die Tonlagen in immer neuen, leichten Akkorden und sträubte, er fühlte es unter den Kleidern, die Härchen auf seinen Armen, hatte es doch bei allem Schwung und aller zärtlichen Heiterkeit auch etwas Unheimliches. Wie der Ernst von Engeln. – Dabei war es nichts als Wind [...]“24
Der poetischen Kraft des Werkes von Ralf Rothmann, der Prosa wie der Gedichte, gelingt ein ungeheurer Spagat zwischen dem Realismus des ganz banalen und alltäglichen Lebens und der fast lyrischen Vergegenwärtigung eindringlicher Erfahrungen einer anderen Welt. Und das ist, um nun zum Schluss auf Stefan Andres zurückzukommen, die „Sendung des Dichters“ und die Handschrift Ralf Rothmanns, wie ich ergänze:
„[...] daß er in seinem Werk die verborgene Ordnung der Dinge bloßlegt (und wieder leicht mit Sand bestreut!); daß er den Geist der Sprache beschwört und mit ihm zusammen vor das Unscheinbare, Zerfallene, Unansehnliche oder auch Allzugroße, Niebedachte, Entlegene, Märchenhafte dieser Welt hintritt und es leise oder mit furchtbarer Stimme über die Schwelle herüberruft [...]“25.
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Für den Druck leicht überarbeitete Laudatio anlässlich der Verleihung des Stefan-Andres- Preises am 29. Oktober 2016 in Rom.