Gewaltlosigkeit durch Reflexion?Religiös motivierte Gewalt und Rationalität

Joachim Valentin, Professor für Christliche Religions- und Kulturtheorie an der Universität Frankfurt am Main und Direktor des katholischen Kultur- und Begegnungszentrums „Haus am Dom“, stellt die These auf: Je mehr Reflexion, Theologie, Rationalität und Aufklärung in einer Religion, desto weniger Gewalt. Judentum und Islam werden besonders berücksichtigt.

Ein Text, dessen Titel ein Fragezeichen enthält, macht Hoffnung auf eine möglichst eindeutige Antwort. Wie angenehm wäre das vor allem in Bezug auf den Islam, der Europa so sehr zu schaffen macht. Die Antwort könnte etwa so lauten: Nach solider historischer und systematischer Reflexion finden wir, dass zwischen dem Reflexionsgrad einer Religion einerseits und den in ihrem Namen begangenen Gewalttaten andererseits ein direkt proportionales Verhältnis besteht.
Je mehr Reflexion, Theologie, Rationalität, Aufklärung in einer Religion, desto weniger Gewalt. Gewaltanfällige, angeblich also vor allem die monotheistischen Religionen, und hier vor allem der Islam, müssten also nur eine nachholende Entwicklung vollziehen. Eine Bewegung analog der christlichen: Aufklärung, vernunftgemäße Kritik an den Heiligen Texten des Koran, den die Bibel schließlich schon hinter sich hat, Entflechtung von staatlichen und religiösen Institutionen, das Säurebad eines weit reichenden Laizismus, also auch die Abwendung einer Mehrzahl der Menschen von den religiösen Traditionen, ein Verschwinden der Religion aus dem öffentlichen Raum möglichst inklusive. Das Argument hat in einer streng systematischen Reflexion sicher einiges für sich.

Religionshistorische Ernüchterung

Wenn man allerdings auf die Historie schaut, stellen sich einige Probleme. Zuerst einmal gilt grundsätzlich, dass wir nie zweimal in den gleichen Fluss steigen: Die Entwicklung des islamischen Glaubens in seinem Verhältnis zur Vernunft hat, sowohl in den heiligen Schriften als auch in Bezug auf die Wirkungsgeschichte einer islamischen Theologie, eine deutlich andere Entwicklung genommen, als wir dies aus der christlichen Tradition kennen. Vor allem aber sind die Zeitspannen, die wir hier zu betrachten haben, nicht dazu angetan, eine Entwicklung dieser Art in der nötigen Breite und vor allem Schnelligkeit in den nächsten Jahren erwarten zu lassen – selbst wenn wir die Möglichkeit einer nachholenden Entwicklung theologischer Reflexion für den Islam optimistisch annehmen wollen.
Zurzeit spricht wenig für eine breite Aufnahme philosophischer Kategorien in die islamische Lehrtradition des arabischen Raumes. Weder der saudische Wahabismus noch die Al Azhar Universität in Kairo oder die Ayatollahs der persischen Schia, etwa an der uralten Schule in Gom oder anderswo, machen Anstalten, die Modifikation einer vor allem durch Rechtsprechung geprägten islamischen Theologie anzugehen, deren Wurzeln bis ins 11. Jahrhundert zurückreichen.
Und in allen drei Fällen scheint es in erster Linie die enge Verflechtung von Religion und Politik zu sein, die die Theologen von einer Reform abhält bzw. solche, die es versuchen, wie der iranische Theologe Sorouch, oder der Ägypter Nasr Hamid Abu Said, den es ins innere oder äußere Exil treibt. In Nordafrika sind es die in den 1920er-Jahren gegründeten Muslimbrüder, die längst die Macht der Straße auf ihrer Seite haben und dieser durch gelegentliche Attentate vornehmlich auf Touristen gegenüber ihren nationalen Regierungen Nachdruck verschaffen. In Saudi-Arabien ist es das Saudische Königshaus, das vor 100 Jahren das gesamte Land eroberte und dabei von der Ideologie des Wahabismus massive ideologische Schützenhilfe erhielt. Im Iran schließlich ist aus der Herrschaft der Ayatollahs unter dem Bauingenieur Mahmud Ahmadineschad eine radikal antiwestliche und antizionistische Diktatur geworden, die sich der religiösen Autorität lange Zeit als politisches Instrument bedient und sie so sehr knechtet, dass der Widerstand auf der Straße als markantesten Ausdruck seines Protestes „Allahu Akbar“ (Gott ist groß) skandiert.
In Mitteleuropa ruhte damit bis vor Kurzem alle Hoffnung auf eine theologische Erneuerung auf dem Islam in der Türkei und bei dem der türkischen Immigranten in Europa, der traditionell in der islamischen Welt eher verachtet wird, aber, angetrieben durch Kemal Atatürks Laizismus, und bis 2012 geformt durch die Europaorientierte AKP, noch am ehesten das Potenzial zu einer Reform aus den Quellen der eurasischen Vernunft zu entwickeln schien. Gerade an den ehemals vom türkischen Staat finanzierten beiden Stiftungsprofessuren für islamische Theologie in Frankfurt konnte man die Chancen und Schwierigkeiten einer solchen Entwicklung gut beobachten. Und auch der bosnische Islam scheint einer zu sein, der sich selbst als europäisch begreift, und auf den man deshalb Hoffnungen auch für eine theologische Aufarbeitung der genannten Probleme setzen darf.
Aber ist überhaupt die zugrundeliegende Annahme einer unmittelbaren Verbindung zwischen theologischer Reflexion und Gewaltlosigkeit historisch plausibel? Die These hat weniger für sich, als wir fünf Jahrzehnte nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil und acht Jahrzehnte nach der evangelischen Barmer Erklärung anzunehmen bereit sind: Schon ein oberflächlicher Blick auf die Religionsgeschichte bringt dutzende Beispiele für gewaltbereite und gleichzeitig hochreflexe Religionssysteme. Oder hat etwa die ausdifferenzierte spätscholastische Theologie die gewaltsame Missionierung indigener Völker verhindert? Oder die karolingische Reform die Sachsenkriege Karls des Großen?
Andererseits muss betont werden, dass, fußend auf dem geringen Gewaltpotenzial der Gründungsschrift des Christentums und dem Gewaltverbot der ersten drei Jahrhunderte, christliche Theologie bereits vor ihrer hochmittelalterlichen Ausprägung zum Kristallisationskern christlicher Gewaltkritik geworden ist. Zu nennen sind hier in erster Linie die Bußbücher des neunten Jahrhunderts, eine schon früh aufflammende theologische Kreuzzugskritik und die spanische Spätscholastik1. In sehr viel eindeutigerer Weise als das Vorliegen einer Theologie, die der Vernunft gegenüber der Offenbarung den notwendigen Spielraum einräumt, scheinen demnach sowohl im Islam wie im Christentum andere Ursachen im Spiel zu sein. Welche sind das aber, was sind die Bedingungen dafür, dass Religion nicht gewalttätig wird? Hier sind in erster Linie politische und sozioökonomische Bedingungen zu nennen. Als da sind: die Verflechtung zwischen Religion und weltlicher Macht; eine allgemein friedliche Weltlage sowie ausreichende ökonomische Ressourcen (Wohlstand) im Verbreitungsgebiet der Religion.
Diese Punkte scheinen dafür ausschlaggebend zu sein, ob die Rechtfertigung von verletzender Gewalt durch göttlichen Auftrag in tatsächliches Blutvergießen umschlägt oder nicht. Im Jahr 2006 konnten wir aus der Presse hören, wie die dänischen Mohammed-Karikaturen in den Slums von Ägypten, Syrien und Palästina blutige Unruhen ausgelöst haben, während es in wohlhabenden arabischen Staaten wie Dubai, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Kuwait völlig ruhig geblieben sei. Hier, in wirtschaftlich saturiertem Gelände, wählte man die Waffen des Gentleman: den Boykott dänischer Produkte.
Politische Entmachtung wirkt also auf Religion ebenso befriedend wie wirtschaftlicher Wohlstand, genauso aber der Zwang zu wirklich ernsthaftem Dialog mit säkularer Philosophie, wie wir ihn in der Zeit der ersten Theologen im dritten Jahrhundert, dann aber erst wieder im Vorfeld und Nachklang der französischen Revolution konstatieren können.
Als Exempel der ambivalenten Sachlage bietet sich in der christlichen Tradition wieder einmal Augustinus an, dem wir mit einer frühen Theorie des gerechten Krieges sowohl die theologische Begrenzung der kriegerischen Gewalt als auch erstens die Identifikation des gerechten Krieges mit dem göttlichen Strafgericht und damit zweitens eine bis heute nicht zuletzt im Islam fatale Auflösung der Differenz zwischen Schöpfer und Geschöpf, Transzendenz und Immanenz verdanken. Bei Augustinus und im Djihad-Islam finden wir also Fermente einer Theologie vor, die menschliche Gewalt als Gewalt Gottes rechtfertigen.
Mit diesen einleitenden Positionsbestimmungen sind bei aller Vorläufigkeit und vielleicht auch pragmatischen Irrelevanz eines religionshistorischen Zugangs zum Thema die beiden wesentlichen Bedingungen eines theoretischen Gewaltverzichts und seiner historischen Wirksamkeit benannt.
In Europa und für das Christentum, katholisch und protestantisch in je spezifischer Prägung, trat die Situation einer grundständigen Befriedung erst im Gefolge der Unfähigkeit beider christlicher Kirchen als friedenstiftender Macht in den Religionskriegen des 17. Jahrhunderts und – zugespitzt – nach der französischen Revolution ein. Erst diese Entwicklung, im anregenden Gespräch zwischen Joseph Ratzinger und Jürgen Habermas im Jahr 2005 als „europäischer Sonderweg“ von der einen Seite gelobt, von der anderen angefragt2, katalysierte unsere heutige Situation: Erstaunt, angewidert und ratlos schauen wir auf den Gewaltausbruch in den islamischen Staaten.
Die religionspolitische Umsetzung des europäischen Sonderwegs im Sinne einer Befriedung der religiösen Potenziale bis heute dürfte für die viel größere Aufgabe eines weltweiten Religionsfriedens vorerst Desiderat bleiben. Als Fazit dieser anfänglichen Überlegungen halte ich also fest: Eine ausgearbeitete Theologie stellt bestenfalls eine notwendige, keineswegs aber hinreichende Bedingung dar, wenn es darum geht, möglichst schnell religiös motivierte Gewalt einzudämmen. Der Religionswissenschaftler Hans G. Kippenberg schreibt treffend:

„Tatsächlich beruhen die Weltbilder und Ethiken der Gläubigen aller großen Religionen auf einer Auswahl aus einem umfangreichen und widersprüchlichen Fundus. Verbindlich sind diese Weltbilder und Ethiken nicht an sich wegen ihres Status als Traditionen; sie können es nur werden, wenn sie als aktuell relevant ausgewählt werden und durch einen Akt der subjektiven Zustimmung reflexive und praktische Gültigkeit erlangen.“3

Religion in den Grenzen der Politik

Unbeantwortet bleibt damit vorerst die am Anfang gestellte Frage nach der Möglichkeit der vielfach geforderten nachholenden Entwicklung des Islam. Werfen wir stattdessen noch einmal einen Blick auf die Zeit des Westfälischen Friedens in Mitteleuropa: Hier waren die jungen Konfessionen an der Aufgabe, dem religiös motivierten Wüten Einhalt zu gebieten, ausdrücklich gescheitert. Nicht sie, sondern ein politisches Zweckbündnis schuf die Grundlage für den bald nachfolgenden europäischen Wohlstand des 18. und aller folgender Jahrhunderte, von der wir nach mehreren Rückfällen letztlich bis heute profitieren. Stalins spöttische Frage nach den Divisionen des Papstes traf seitdem die Sachlage nur allzu genau: Es gab sie nicht.
Wenn wir also mit Blick auf einen in seiner Gewaltneigung ungezähmten Islam nach Lösungen suchen, so dürften sie kaum unmittelbar in einer aktiv friedensstiftenden Theologie kommen. So sehr diese aus anderen Gründen, etwa des interreligiösen Dialogs und der Vermeidung ungerechter Gewalt in den Familien und zwischen den Geschlechtern wünschenswert wäre. Vielmehr sollten wir sie in einer theologischen Lehre vermuten, die demokratisch legitimierte Ordnungsmächte national und – vor allem in Gestalt der UNO – international anerkennt. Eine Ordnungsmacht also, die als Ergebnis leidvoller Erfahrung und praktischer Vernunft religiöser Weltdeutung und religiös motiviertem Handeln ausdrücklich Grenzen setzt. Genau diese Grenzen garantieren jene Pluralität, die auch in Bezug auf religiöse Überzeugungen, in Europa wie in den USA, spätestens seit der Konfessionalisierung eine nur um den Preis ausufernder Gewalttätigkeit hintergehbare Realität darstellen.

Gewaltlosigkeit zwischen Selbstbehauptung und Pluralität

Damit stehen wir vor einem, wenn nicht vor dem fundamentalen Thema der Religionspolitik, das sich bei genauem Hinsehen als im Kern fundamentaltheologisches oder religionsphilosophisches entpuppt: der Frage nach dem Zueinander von Identität und Differenz in der Theologie monotheistischer Religionen. Es scheint doch immerhin diskutabel zu sein, dass nur eine wissenschaftliche Theologie an den Universitäten langfristig im Kontext moderner Rechtsstaaten legitimierbar erscheint, die in der Lage ist, Differenzen, wie sie unter Bedingungen von Endlichkeit und Geschöpflichkeit notwendig vorkommen, mit der unhintergehbaren Identität des als eines geglaubten Gottes zu vermitteln. Es geht also um das Gelingen einer Vermittlung zwischen der Vielheit der Welt, ihres Pluralismus und ihrer Komplexität einerseits und der Einheit Gottes und der mit ihm verbundenen Wahrheit und Offenbarung andererseits.
Diese Vermittlung muss darüber hinaus ohne Unterordnung des einen unter das andere geschehen, soll nicht diskursive Subordination der Vielheit unter Einheit die faktische Unterwerfung von Menschen und eine zentrale Macht bewirken oder andererseits die Unterwerfung der normativen Einheit unter die Vielheit, umschlagen in jenes uninteressierte Nebeneinander der Meinungen und Lebensentwürfe, also jene Diktatur des Relativismus, von der Papst Benedikt XVI. so gerne sprach, und die auf die selbstbewusste Anwesenheit des Islam in europäischen Gesellschaften offenbar nur mit Ratlosigkeit reagieren kann.
Schon bei oberflächlicher Betrachtung wird deutlich, dass das Christentum hier gegenüber den beiden anderen monotheistischen Religionen klar im Vorteil ist. Hat es doch schon früh die bis zur Aporie schwierige theologische Aufgabe gelöst, innertrinitarische Pluralität auf Einheit hin zu vermitteln und die beiden Naturen Jesu, menschliche und göttliche, auf seine Person hin unvermischt und ungetrennt zu denken. Mit Blick auf das Zueinander von Differenz und Einheit im Judentum und dann vor allem im Islam soll diese Problematik noch ein wenig weiterverfolgt werden, bevor wir wieder in der politischen Lage der Gegenwart ankommen.

Identität und Differenz im Judentum

Grob gesprochen tritt nach den Enttäuschungen von Exil, Fremdherrschaft und schließlich der fast völligen Vernichtung im alten Israel und im frühen Judentum Pluralität jüdisch vor allem in dem Sinne in jüdische Theologie ein, dass nach der Zerstreuung unter die Völker – Diaspora – eine nachhaltige Erschütterung der einlinigen Identifikation der Frühzeit von einem Gott und seinem einen auserwählten und heilsgeschichtlich bevorteilten Volk vor den vielen Völkern, und damit auch des Tun-Ergehens-Zusammenhangs und der innerweltlichen Heilszusagen der Schriften des alten Israel deutlich sichtbar wird. Eine erste Reaktion auf diese Erschütterung findet sich nach der Weisheitsliteratur in der frühjüdischen Apokalyptik. Diese leistet die von uns gewünschte Vermittlung von Einheit und Differenz aber nur ungenügend, insofern sie die glaubenstreuen Gerechten (Chassidim) belohnt, die abgefallenen Hellenisten aber verwirft und damit die altisraelische Vorstellung einer insgesamt guten Schöpfung Gottes dauerhaft in einen schroffen Dualismus auseinandersprengt. Bis heute trennen Christinnen und Christen ebenso wie die islamische Welt zwischen Himmel und Hölle, Erwählten und Verdammten.
Im Judentum wurde dieses in der mehrfachen Bedeutung des Wortes historische dualistisch-apokalyptische Lösungsmodell nach der Enttäuschung durch Bar Kochbar wieder verworfen und durch ein neues Vermittlungssystem zwischen Differenz und Einheit ersetzt: Der Talmud bedient sich nun ausdrücklich der literarisch-textuellen Form von göttlicher Offenbarung, thematisiert sie damit aber gleichzeitig und verliert sich in unübersichtlicher Vielheit. Ein nicht nur deutungsoffener, sondern auch in den Stimmen der Rabbiner und erst recht in den Sekundärkommentaren der weitreichenden Responsenliteratur pluraler Text soll das Wort des einen Gottes repräsentieren. Drei Zitate aus der talmudischen Tradition mögen dieses weite und natürlich genauere Betrachtung verdienende Feld und das hier implizierte Verhältnis von Einheit Gottes und der Vielheit der Welt charakterisieren:

„In den Tagen König Davids“, so liest man im Midrash Levitikus Rabba, „konnten unschuldige Kinder die Torah auf neunundvierzig Arten positiv und auf neunundvierzig Arten negativ auslegen.“4

Im Midrasch Bereschit Rabba, 1.1. heißt es:

„Die [vielgestaltige] Torah sagt. Ich war das Werkzeug der Kunstfertigkeit des Heiligen, er sei gepriesen. [...] der Heilige, er sei gepriesen, [blickte] in die Torah und erschuf die Welt [...].“

Und dann darf in unserem Zusammenhang natürlich das bekannte Wort aus dem Traktat Abbot des Babylonischen Talmud nicht fehlen: „Wende sie [die Thora] um und um, denn alles ist in ihr.“5 Einmal wird hier die eine Tora als Quelle der Vielheit, dann aber auch die Vielheit der Welt als Bedingung der Einheit der Tora verstanden. Inwiefern die etwa mit dem Modell des Sefirot-Baumes emanationstheologisch argumentierende Kabbala eine neue, stärker platonische und so auf Einheit orientierte Vermittlungsform von Einheit und Differenz darstellt, kann hier nicht vertieft werden. Festzuhalten ist immerhin, dass sie als Theologie des orthodoxen Judentums nicht überlebt hat. Ihre ideengeschichtliche Basis findet sie seit dem 19. Jahrhundert zunehmend in der die Moderne verweigernden und asiatisch-einheitsverliebten Esoterik.
Im talmudischen Judentum ist also die im Akt des Schreibens und der Lektüre vollzogene und damit immer prekäre und singuläre Konstellation von Einheit und Differenz nicht immer der Gefahr entgangen, Einheit der Differenz unterzuordnen. Doch sie war hinreichend elaboriert, um zunächst – religionspolitisch – eine Fortexistenz des Judentums als Minderheit in der Diaspora zu ermöglichen. Exils- und pluralitätserfahren werden jüdische Intellektuelle aber seit ihrer Emanzipation im 18. Jahrhundert, versehen mit diesem Rüstzeug einer literarischen Vermittlung zwischen Identität und Differenz für alle sichtbar zu Protagonisten der industriellen, wirtschaftlichen und weltanschaulichen Umbrüche und schließlich zu Modernisierungsgewinnern.
Der Anteil jüdischer Menschen unter den Akademikern und Unternehmern überstieg in Deutschland schon Mitte des 19. Jahrhunderts deutlich ihren Anteil an der Gesamtbevölkerung und machte Juden spätestens in der Weltwirtschaftskrise zu Opfern des Neides – zuerst ihrer christlichen und spätestens nach der Gründung des Staates Israel auch ihrer muslimischen Geschwister. Die inzwischen vor allem in islamischen Kreisen weltweit und vermehrt auch in Europa zirkulierende These von der Verschwörung der Weisen vom Zion lässt sich gut lesen als Neidreaktion von islamischen Modernisierungsverlierern auf den Erfolg der jüdischen Gewinner, beides auf der Basis einer gegensätzlichen Vermittlung von Identität und Differenz. Während jüdische Menschen mit der Pluralität der Moderne aus der talmudischen Tradition affirmativ, zustimmend umgehen konnten, tendiert eine auf Einheit orientierte Religion wie der aktuelle Islam dazu, sich ihr zu verschließen.

Identität und Differenz im Islam

Wie stellt sich unsere für den Ausbruch verletzender Gewalt konstitutive Vermittlung nun in der islamischen Ideengeschichte genauer dar? Von den monotheistischen Religionen beharrt der Islam sicher am nachhaltigsten auf einer Unterordnung der Differenz unter die Einheit. Bisweilen gingen islamische Theologen soweit, die menschliche Freiheit und damit verbunden jede Form autonomer Vernunft ganz zu leugnen und die menschlichen Handlungen als unmittelbare Folge der Gedanken Gottes zu verstehen. Hoffnungsvolle Ansätze einer Lektüre der Werke des Aristoteles, die im christlichen Westen bekanntlich bis hin zur philosophischen Aufklärung weiterentwickelt wurden, erfahren im 12. Jahrhundert – ideenpolitisch wesentlich bestimmt durch den islamischen Theologen Al Ghazali, historisch durch den politischen Druck, den die Reconquista in Spanien auf den Kalifen in Granada auslöste – einen folgenreichen Abbruch. Die hier einsetzende Herrschaft der vier islamischen Rechtsschulen ist bis heute derart umfassend, dass von einer islamischen Theologie im Sinne einer Reflexion auf Offenbarungstexte mit den Mitteln einer selbstreflexiven Vernunft kaum mehr die Rede sein kann.
Es wäre allerdings zu einfach, den skizzierten Traditionsabbruch einer philosophischen Theologie im Islam im engeren Sinne rationaler Reflexion einfach kopfschüttelnd zu bedauern. Denn zumindest psychologisch kann die konsolidierende Entwicklung der Sunna im 8. Jahrhundert ebenso wie ihre spätere Abwehr gegen die theologisch, wirtschaftlich und kulturell so fruchtbare Aristoteles-Rezeption gut nachvollzogen werden: Anders als Judentum und Christentum wurde der Islam in seiner formativen Frühzeit von unversöhnlichen und ausgesprochen blutigen internen Machtkämpfen erschüttert: zunächst zwischen den Parteien der vier rechtgeleiteten – und außer dem ersten allesamt ermordeten – Kalifen (Abu Bakr, Umar, Uthman und Ali)6, dann zwischen Sunniten und Schiiten sowie zwischen der sunnitischen Orthodoxie und den rationalistischen Mutazilliten7 im 9. und 10. Jahrhundert n. Chr.
Diese frühen und nachhaltigen Zersplitterungen der Umma al islamiya erzeugte eine offenbar tiefsitzende Angst vor Spaltungen und religiös motivierter Gewalt. Eine Angst, die am Ende der formativen Epoche des Islam schließlich die bis heute wirkende sunnitische Orthodoxie mit ihrer ausgeprägten Einheitsfixierung etablierte. Die bekannten Erschütterungen in der Moderne taten ihr übriges. Die industrielle und militärische Unterlegenheit des Islam, die Gründung des Staates Israel, die Niederlage im Sechstagekrieg und schließlich die jüngsten Vorkommnisse im Nahen und Mittleren Osten führten zu ihrer gewaltsamen Reaktualisierung und der bleibenden Unwilligkeit einer Mehrheit der islamischen Rechtsgelehrten, sich der Pluralität der eigenen Tradition zu stellen: Den friedensstiftenden Schutz eines zentralen Lehramtes entbehrend, versucht die Orthodoxie seit dem europäischen Mittelalter mit Verweis auf Qur’an, Sunna und die vier Rechtsschulen weitergehende theologischen Spekulationen auf der Basis der Vernunft zu vermeiden und denunziert sie als Bida‘, als gefährliche Neuerung.
Die Unterordnung der Differenz im Islam sei im Folgenden anhand einiger Beispiele illustriert. Erstens: Die Kerninhalte des Qur’an sind, kurzgefasst, die Lehre von der absoluten Erhabenheit Gottes (42,11 u. ö.), der absoluten Einheit Gottes (Tauwhid, Sure 4, 36 u. ö.). Zweitens: Die qur’anische Offenbarung bedeutet für den gläubigen Muslim das von Vermittlung ungetrübte Wort Gottes. In Auditionen und Visionen wurde durch den Engel Djibríl dem Gesandten Gottes, Muhammad, die Offenbarung wortwörtlich eingegeben (vgl. Sure 42, 51 f.). Sie entspricht in ihrem Inhalt bruchlos der im Himmel aufbewahrten Urschrift und besitzt absolute Autorität8. Ein Offenbarungsmodell, das wie das islamische von der reinen und unverfälschten Präsenz des Gotteswortes im heiligen Text ausgeht, bedarf idealiter der menschlichen Rationalität nicht, oder doch nur als Instrument der absolut identischen Wiederholung von göttlicher in menschlicher Intention.
Drittens: Diese Sehnsucht nach Reinheit und Unverfälschtheit der Offenbarung wird auf verschiedenen Ebenen auch im Islam teilweise empfindlich gestört. Der genaue Leser stößt schnell auf eine ausgeprägte interne Widersprüchlichkeit der offenbarten Suren, die durch die Methode der Abrogation9 nur oberflächlich kaschiert wird.
In der Theologiegeschichte des Islam entwickeln sich nach und nach mindestens drei weitere logische Antinomien, die ihrer Natur nach der Sehnsucht nach Einheit widerstreiten:
1. Zunächst wäre hier das Spannungsfeld zwischen Prädestination und menschlicher Freiheit zu nennen. Die religionsgeschichtliche Spannung zwischen dem vorislamisch- arabischen Glauben an eine Vorbestimmung des Schicksals jedes Einzelnen (Prädestination) und seiner Verantwortung im Gericht, wie wir sie auch von den beiden anderen großen monotheistischen Religionen kennen, wird im Qur’an selbst nicht aufgelöst10. Ist man nun schon vor der Geburt für die Hölle bestimmt, wie einige Verse nahelegen, oder wird Gericht gehalten gemäß in Freiheit vollbrachter guter oder böser Taten?
Gängige Lehrmeinung ist heute ein von der Ascharitischen Schule gefundener Kompromiss, welcher analog zu Ansätzen in der vor allem protestantischen Theologie von der Mitwirkung Gottes an menschlichen Handlungen ausgeht. Wer die Annahme der von Qur’an und Sunna vorgeschriebenen Handlung verweigert, hat jenseitige Strafe zu erwarten. Weil nur Gott, nicht aber der Mensch, die komplexen Voraussetzungen und Folgen seiner Tat überschauen kann, ist es gleichzeitig unmöglich, aus den Taten eines Menschen im Sinne einer klaren Kausalität sein Ende im Paradies oder in der Hölle vorherzusehen. Das Gericht obliegt allein Gott.
2. Darüber hinaus ist die auch für den strengen islamischen Monotheismus wesentliche Frage nach dem Status des Qur’anischen Textes – ist er ungeschaffen oder geschaffen? – aus politischen Gründen in letztlich aporetischer Weise entschieden worden: Die mit der Frage nach dem Status des Qur’an einhergehende Spannung zwischen unterschiedlichen Auslegungen unklarer Passagen in den verschiedenen Theologie- und Rechtsschulen sowie nach ihrer Vermittlung untereinander war bis zum 11. Jahrhundert zugunsten der Vernunft entschieden worden: Bei Nicht-Übereinstimmung zwischen Offenbarung und Verstand wurde allegorisch ausgelegt oder zugunsten des Verstandes entschieden. Die Schließung des Tores des Iğtihād, der freien Rechtleitung nach Al Ghazali schied dieses Verfahren jedoch aus. Damit galt der Koran als ungeschaffen, seine Kritik mit Hilfe des Verstandes als unerlaubt. Die Ruhe an der theologischen Front hatte also einen hohen Preis: Das Denkmodell eines ungeschaffenen Korans stellt – wie bereits die rationalistischen Mutazilliten bemerkt hatten – eine massive Erschütterung streng islamischen Monotheismus dar.
3. Ein letztes theologisches Spannungsfeld breitet sich zwischen einer Bejahung der anthropomorphen, menschenähnlichen Gottesbilder im Qur’an einerseits und der sich aus dem strengen Monotheismus ergebenden radikalen negativen Theologie andererseits aus, die jede Rede von Gott, damit aber auch eine Offenbarung wie den Qur’an selbst unmöglich werden zu lassen droht. Auch hier ist die Grundlage für beide Anschauungen bereits im Qur’an gelegt.
Die anstehende Befriedung des Gewaltpotenzials der islamischen Religion könnte also an der Anerkennung und rationalen Bearbeitung von Pluralität und Differenz eher hängen als am Nachvollzug europäischer Kulturgeschichte. Gleichzeitig muss die Entwicklung einer solchen von einem ausgewogenen Verhältnis von Identität und Differenz geprägten Theologie nach jüdischen und christlichen Erfahrungen analog, aber doch in sehr spezifischer Weise, das heißt nach Maßgabe der Möglichkeiten und Potenziale der eigenen Religion erfolgen.
Es wäre also innerhalb der islamischen Tradition zu verweisen auf jene Theologen, die vor der Schließung der Pforte des Iğtihād noch von einer Eigenständigkeit menschlicher Vernunft im Gegenüber des geoffenbarten Wortes ausgingen, allen voran Ibn Rushd / Averroes. Ich möchte in aller gebotenen Kürze aber auch auf den weniger bekannten Theologen Fakr ad-Din al-Razi († 1209) hinweisen, dessen Werk im Islam – anders als das des Averroes –, nicht der damnatio memoriae anheimfiel, sondern eine bedeutende Wirkungsgeschichte bis in die Neuzeit hinein aufweist11. Fakr ad Din al-Razi entwickelte angesichts des Problems des Zueinanders von göttlicher und menschlicher Freiheit eine Lösung, die sogar anschlussfähig zu sein scheint an zeitgenössische theologische und fundamentaltheologische Debatten um eine präreflexive Selbstgewissheit des Subjekts: Tilman Nagel spricht hier wohl zu Recht von einer „Kehrtwendung zum Selbst, zum Ich-Bewußtsein“12, die al-Razi allerdings geschickterweise bei dem eher antirationalistischen Denker Al-Ghazali anschließt. Ausgehend von Sure 17,85 formuliert er: „Was den Menschen von dem bloßen Materieteilchen unterscheidet, ist sein Ich-Empfinden, das als Kontinuum auch körperliche Veränderungen übersteht.“ Diese Annahme erklärt den Vorgang der Gedächtnisbildung und des eigenständigen Denkens tatsächlich sinnvoller als die aristotelische Substanz-Akzidenz-Lehre. Die Wahrheit träfen also – so Din al Razi – jene Denker, die das Wesen des Menschen in seiner Seele, der individualisierten Erscheinungsform des ruh (von Gott ausgehender Geist) erkennen und den Menschen als Organismus aus (nach dem Tod zerfallenden) Leib und Seele denken.

Einheit – erhofft in Differenz

Ein nicht hierarchisches Zueinander von Identität und Differenz zu denken bleibt uneingeholter Auftrag für alle monotheistischen Religionen. Vom Judentum, in eine Vielheit von einerseits neuzeitlich liberalistischen und andererseits orthodoxen Kleingruppen zersprengt, ist zurzeit kaum ein einheitliches Bild zu erhaschen. Im sunnitischen Islam dürfte die Balance zugunsten der Differenz, im säkularen Europa zugunsten der Einheit verschoben werden müssen. Das Christentum tut gut daran, das Fließgleichgewicht von göttlicher und menschlicher Natur Christi immer neu als geregeltes Zueinander von Einheit und Differenz, als tertium datur gegenüber einer zweiwertigen Logik zu reflektieren und in Theorie und Praxis auszubuchstabieren.
Als Gewährsmann, der in jüngerer Zeit dieses Verhältnis in unnachahmlicher Weise zur Sprache gebracht hat ist der französische Historiograf und Psychoanalytiker Michel de Certeau SJ (1925-1986) zu nennen. Wenn Certeau von Einheit oder aber vom Anderen, Differenten spricht, spricht er stets von einem individual- oder universalhistorischen Jenseits oder Voraus. Einheit ist dem denkenden, selbstreflexiven oder schreibenden Ich niemals unmittelbar zugänglich. Es bestimmt sich vielmehr durch die schmerzhaft empfundene Brüchigkeit der eigenen Existenz. Gleichwohl ist die Sehnsucht nach einer kontrafaktisch antizipierten Idee von Einheit wesentliches Regulativ und kann nicht einfach aufgegeben werden. Vielmehr ist der/die Einzelne, sind Theologie und die gesamte Religion insofern wesentlich von Einheit bestimmt, insofern Trauer und Schmerz um eine als „verloren“ imaginierte Einheit in den Texten der Tradition immer wieder artikuliert werden. Dort wo man Einheit als verlorene artikuliert, entwickelt sie eine kritische, ja politische Energie, die bewegt, Bestehendes nicht einfach hinzunehmen, sondern es um eines Nicht- Genügens willen zu kritisieren und zu verbessern.
Certeau liefert hier en passant ein wesentliches Kriterium: Religion kann sich unter modernen Bedingungen nur als defizitär begreifen, und muss sich mit Vorläufigem begnügen. Sie ist aber gleichzeitig aufgerufen in einer Eintragung der Differenz zwischen Transzendenz und Immanenz13 in den gesellschaftlichen Diskurs auf eine ursprüngliche/endzeitliche Vollkommenheit zu verweisen, die unter irdischen Bedingungen nur gebrochen oder imaginativ zu haben ist.
In den Augen Michel de Certeaus wird nur eine Religion der Gefahr des Totalitarismus und der Petrifizierung entgehen, die ihre eigene Situation als „wilde Ruhe“ (quietitude violente)14 begreift, die sich in einem Zustand der permanenten Revolution befindet, weil sie unter Bedingungen der Pluralisierung und Erschütterung gerade die Sehnsucht nach Einheit und Frieden umtreibt.
Hier deutet sich zugleich eine totalitätskritische Fassung der allen monotheistischen Religionen eigenen Eschatologie, ihres Ausgerichtetseins auf letzte Dinge, an: Sie bestünde darin, die Prophezeiung eines künftigen Himmels bzw. Paradieses nicht zu benutzen, um die Gegenwart mit Fantasmen der Einheit und Vollkommenheit aufzuladen und gewaltsam zu verändern, sondern die Vorläufigkeit und Unvollkommenheit der eigenen irdischen Existenz, der eigenen Hoffnungen, Erwartungen, Weltbilder immer neu im Namen einer Verheißung von Vollkommenheit ins Gedächtnis zu rufen. Mit Certeau gesprochen:

„Gott ist nicht da, ‚er kommt‘, er wartet bis zum letzten Tag, immerzu jene Sehnsüchte umwerfend, die ihn ankündigen.“15

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