Renaissance des politischen Katholizismus

Mit einer Stimme Mehrheit (32:31) setzte sich im März der CSU-Landtagsabgeordnete und Sozialsprecher seiner Fraktion, Joachim Unterländer, gegen die Eichstätter Rechtsprofessorin Renate Oxenknecht-Witzsch durch und wurde neuer Vorsitzender des Landeskomitees der Katholiken in Bayern. Unterländer ist Mitglied im Vorstand des Diözesanrats der Katholiken der Erzdiözese München und Freising sowie Mitglied im Zentralkomitee der deutschen Katholiken. 

Die Bemerkungen, das Landeskomitee sei „ein wesentlicher Bestandteil des kirchlichen Lebens“ oder „die Kirche steht mitten in der Gesellschaft“ gehören wohl zum allgemeinen Bekenntnis-Repertoire nach einer Wahl. Die Feststellung „Wir sind hier noch eine Volkskirche“ hingegen wird man weniger als Ausdruck der Statistik als der Traditionsverbundenheit lesen müssen. Der neugewählte Vorsitzende hat einen sicheren Instinkt dafür, dass in einer Stärkung der „katholischen Netzwerke“ und einer „Renaissance des politischen Katholizismus“ ein „unheimliches Potential“ liegen: „Alle, die sagen“, so Unterländer, „die Kirche habe sich nicht einzumischen, irren“. Das wiederum muss man weder parteipolitisch lesen noch konfessionell abgrenzend. Denn „Positionen parteiübergreifend und im Dialog miteinander“ zu vermitteln und auf „Veränderungen in der Lebens- und Arbeitswelt angesichts der Herausforderung durch Globalisierung und Digitalisierung und die Flüchtlings- und Asylsituation“ zu reagieren, gehört zum Weltauftrag von Christen, den auch die Konzilskonstitution „Gaudium et spes“ thematisiert hat. Christen mischen sich ein und mischen mit! 

Diese Einstellung garantiert Spannungen, auch in der eigenen, (noch) staatstragenden Partei. Denn erst im vergangenen Oktober reagierte der bayerische Finanzminister Markus Söder, prominentestes „Gesicht“ der evangelischen Landessynode, in einem Interview, angesprochen auf das „C“ in der CSU und entsprechende Rückfragen, ziemlich ungehalten: „Wir nehmen das sehr ernst und hinterfragen uns. Man sollte daher anderen nicht das Christsein absprechen. Die Kirche ist für Barmherzigkeit zuständig, der Staat für Gerechtigkeit.“ Christen beider Kirchen empörten sich. Sie lassen sich nicht den Mund verbieten. Auf eine Spiritualität der reinen Innerlichkeit reduzierte Religion taugt nichts. Glaube ist immer auch politisch – und muss es sein. 

Politischer Katholizismus hat – weltweit – seine Geschichte. Spätestens seit dem 19. Jahrhundert ist er in Deutschland ein belasteter, sozusagen kontaminierter Sammelbegriff. Dass aber katholischer Glaube zur Grundlage politischer Entscheidungen und von Entscheidungsfindungskultur gehört, um Interessen von Katholiken durchzusetzen – das zeigen auch historische Beispiele politisch aktiver und politisierender Priester. In Nicaragua stellten sich mit Ernesto und Fernando Cardenal zwei Priester dem Sandinistenregime von 1979 bis 1987 und von 1984 bis 1990 noch als Kultur- und als Bildungsminister zur Verfügung. Ernesto, der Poet, wurde als Priester suspendiert, Fernando überdies aus dem Orden ausgeschlossen, trat aber 1997 wieder ein und starb 2016 als Jesuit. Im Dezember 1959 wurde der orthodoxe Erzbischof Makarios III. zum Präsidenten von Zypern gewählt. Nach seinem Sturz und dem Exil im Juli 1974 kam er im Dezember 1974 wieder an die Macht und verstarb drei Jahre später im Amt. 

Hierzulande wirkte der Kirchenrechtler Ludwig Kaas (1881–1952) nach dem Ersten Weltkrieg als Reichstagsmitglied der Zentrumspartei, deren Vorsitzender er von 1928 bis 1933 war. Nach erfolglosen Regierungsverhandlungen mit Hitler nach der Juli-Wahl 1932 ging der Prälat nach Rom, wurde von Kardinalstaatssekretär Eugenio Pacelli zu den Konkordatsverhandlungen hinzugezogen, war Sekretär des Kardinalskollegiums und wirkte als Domherr und Verwalter des Petersdoms. In Österreich wurde der Priester Ignaz Seipel (1876–1932) nicht nur als Minister für öffentliche Arbeit und soziale Fürsorge in die erste Nachkriegsregierung kurz vor der Abdankung von Kaiser Karl I. berufen. Seipel wurde auf Wunsch der Christlichsozialen Partei, deren Vorsitz er von 1921 bis 1930 innehatte, mehrmals mit der Regierungsbildung betraut und fungierte zwei Mal, von 1922 bis 1924 und von 1926 bis 1929, als Bundeskanzler, 1930 wurde er noch kurzzeitig Außenminister. Seipel wurde zum Feindbild der Sozialdemokraten: „Prälat ohne Milde“, „Blutprälat“. Auch der nachmalige Erzbischof und Kardinal Theodor Innitzer wurde als Professor für Neues Testament und Rektor der Universität Wien 1929/30 Sozialminister in der Ersten Republik. 

Und auch wenn da und dort noch der Reichsdeputationshauptschluss, der Kölner Kirchenstreit, die katholischen Arbeitervereine herumspuken: Das vielgeschmähte „katholische Milieu“ war hierzulande lange resistent gegen den Nationalsozialismus, was man vom Katholizismus in Italien oder Spanien während faschistischer Regime und ihrem Nationalismus so nicht sagen kann. 
Ideologische Nähe zu bestimmten Parteien schließt kritische Distanz nichts aus. Gerade sie sind nämlich daran zu erinnern, dass auf dem christlichen Menschenbild gründende Politik realpolitische Konsequenzen hat. Charles de Gaulle, Alcide de Gasperi und Konrad Adenauer wussten darum. Heute müssen sich die Erben von Joseph Görres überlegen, ob und wie die Naturrechtslehre eines Thomas von Aquin und die katholische Soziallehre (Subsidiaritätsprinzip) taugliche Instrumente politischen Handelns sein können. Mit dem Apostolischen Schreiben „Evangelii gaudium“ von 2013 („Diese Wirtschaft tötet“) und der Enzyklika „Laudato si’“ von 2015, die Ökologie mit der Armutsfrage verknüpft, hat Papst Franziskus überaus politisch gehandelt – und massiv aufgeregt. Anwalt von Menschlichkeit und Gerechtigkeit müssen die Kirchen sein – heute mehr denn je; in Europa, der Wiege der Demokratie, erst recht. So gesehen sind sie immer politisch. Und in diesem Sinn ist ein politischer Katholizismus zu begrüßen. 

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