Die religiöse Brisanz des ChristentumsDas religionssoziologische OEuvre von Franz-Xaver Kaufmann

Am 22. August 2017 vollendet der gebürtige Schweizer Franz-Xaver Kaufmann sein 85. Lebensjahr. Der emeritierte Religionspädagoge Norbert Mette würdigt das religionssoziologische OEuvre des profilierten Professors für Sozialpolitik und Soziologie an der Universität Bielefeld.

Die religiöse Brisanz des Christentums

Das religionssoziologische OEuvre von Franz-Xaver Kaufmann Dass seit einiger Zeit die Religionssoziologie wieder als wichtiger Teilbereich der Soziologie anerkannt ist, dazu hat Franz-Xaver Kaufmann – der am 23. August 2017 sein 85. Lebensjahr vollendet – einen entscheidenden Beitrag geleistet1. Zwar war sein Hauptbetätigungsfeld in Lehre und Forschung als Hochschullehrer die Sozialpolitik und Soziologie, wie seine Lehrstuhldenomination an der Universität Bielefeld lautete und die darin Bevölkerungsforschung und Familiensoziologie einbeschloss. Damit war er eigentlich hinreichend ausgelastet, wenn man sich darüber hinaus noch seine Publikations- und zusätzliche Beratertätigkeit in verschiedenen Gremien vergegenwärtigt. Aber nicht zuletzt seine Herkunft aus einem engagierten katholischen Elternhaus in der mehrheitlich reformierten Umgebung Zürichs bewirkte, dass ihn die Themen Religion, Kirche und Glaube nicht losließen und er ihnen, wie er sagte, als „Hobby“ nachging2. Waren sie doch für ihn, wie er einmal bekannte, ein maßgeblicher Grund dafür, sich der Soziologie zuzuwenden – der Wunsch nämlich, mit dazu beizutragen, mithilfe soziologischer Einsichten „kirchliches Denken vom Ballast überholter Welt- und Sozialvorstellungen zu befreien“3.

Kaufmanns religionssoziologischer Ansatz

Aus diesem Interesse heraus ist ein beachtliches OEuvre erwachsen, das nicht nur den Diskurs über Religion innerhalb der Soziologie mit weiterführenden Impulsen versehen, sondern auch zur Entkrampfung des lange Zeit mit Argwohn behafteten Verhältnisses der (katholischen) Kirche und Theologie zur Soziologie beigetragen hat. Seine von ihm selbst betonte und erkennbare Loyalität zu seiner Kirche ist für Kaufmann verbunden mit der Pflicht, aus der soziologischen Perspektive heraus, wenn notwendig, auch kritisch auf Entwicklungen aufmerksam zu machen, die die Kirche daran hindern, ihrer Sendung in der heutigen Gesellschaft nachzukommen. Bei all dem legt er eine „bemerkenswerte persönliche Authentizität“ (Johannes Huinink) an den Tag, die ihn vonseiten der Kirche und Theologie zu einem viel nachgefragten Gesprächspartner werden ließ4.
Um Kaufmanns religionssoziologischen Ansatz zu charakterisieren, bietet sich zunächst einmal eine klare Abgrenzung an, die er im Gefolge von Thomas Luckmann und Joachim Matthes von der in den 1950er- bis in die 1960er-Jahre hinein dominierenden Kirchensoziologie und deren Variante innerhalb der katholischen Theologie als Pastoralsoziologie vorgenommen hat. Vor allem bei letzterer sieht Kaufmann das Defizit, dass sie sich gewissermaßen auf eine „kirchliche Marktforschung“ 5 nach Maßgabe der normativen kirchlichen Vorgaben beschränkt und die gewonnenen Befunde nicht in einen umfassenderen theoretischen Kontext, der für deren Verständnis unentbehrlich ist, hineingestellt hat.
Für seine soziologischen Analysen von „Religion“, „Christentum“ und „Kirche“ zieht er je nach Problembereich sich anbietende Theorieansätze heran wie Sozialanthropologie, Systemtheorie, Theorien der sozialen Differenzierung, Organisationssoziologie, Wissenssoziologie usw. In Abhebung von vorliegenden Ansätzen ist es seiner Meinung nach jedoch unzureichend, nur phänomenologisch die Erscheinungsformen und Dimensionen dessen, was für „Religion“ wesentlich ist, zu erfassen oder nur funktionalistisch nach den Leistungen, die „Religionen“ erbringen, zu fragen oder auch nur kritisch-theoretisch „Religion“ in Abhängigkeit von den gesellschaftlichen, insbesondere ökonomischen Gegebenheiten her zu bestimmen. Der Blick müsse auch auf das inhaltliche Selbstverständnis der jeweiligen Religion gerichtet werden und darauf, wie dieses die religiösen Praktiken normiert, und weiterhin darauf, wie beides im Laufe der geschichtlichen Entwicklung sich verändert hat und weiterhin in einem Wandel begriffen ist.
Der so von Kaufmann allmählich immer weiter fundierte Ansatz lässt sich als „kulturtheoretisch“6 bezeichnen. Als dessen Merkmale lassen sich als für seine religionssoziologischen Schriften charakteristisch anführen: das Abheben auf eine präzise Begrifflichkeit, die Betonung der sozialen Dimension von Religion sowie ihrer Geschichtlichkeit und damit ihrer Veränderbarkeit, deren historische Rekonstruktion zum besseren Verständnis ihrer gegenwärtigen Situation, die Unterscheidung von verschiedenen Ebenen der religiösen Sozialformen und die wissenssoziologische Analyse der Theologie als Medium der Selbstreflexion von Religion.

Kritik am allgemeinen Religionsbegriff

Es ergibt sich aus seiner kulturtheoretischen Betrachtungsweise, dass Kaufmann sich gegen die innerhalb seines Faches verbreitete Überzeugung wendet, „Religion“ als allgemeinen sozialen Faktor, also kulturübergreifend bestimmen zu können. Als Argumente für seine Kritik führt er an, dass der Religionsbegriff, wie man ihn heute verallgemeinert verwenden zu können glaubt, einen bestimmten historischen Ort hat, und zwar in der frühen Neuzeit in der kritischen Auseinandersetzung mit dem Christentum, und von daher, wenn auch in Form der Abgrenzung zur „Priesterkirche“, von christlichen Auffassungen durchsetzt ist. Es sei darum überaus problematisch zu meinen, man könne einen solchen Begriff auf andere Kulturen übertragen, was voraussetzt, dass es etwas die historisch-kulturellen Erscheinungsformen von „Religion“ übergreifendes Gemeinsames gibt. Genau diese Annahme habe zur Konsequenz, dass der Religionsbegriff inhaltslos würde und die Differenzen zwischen diesen Erscheinungsformen harmonisiert würden. Diese ihrerseits könnten nur schwerlich ihr eigenes Selbstverständnis in einer solchen Verallgemeinerung wiederfinden. Die Schlussfolgerung, die Kaufmann daraus zieht, lautet:

„Aus der hier entwickelten Kritik eines allgemeinen Religionsbegriffs ist für die Religionssoziologie zu folgern, daß ihr Gegenstand in unserem Kulturkreis primär durch die Erscheinungsformen des Christentums zu bestimmen ist.“7

Gelten lässt Kaufmann die Rede von Religion als „problemanzeigendem Begriff“8. Er greift dabei die verschiedenen Funktionsbestimmungen aus der religionstheoretischen Forschung auf, wonach Religion für die Lösung folgender Herausforderungen einsteht: Angstbewältigung, Handlungsführung im Außeralltäglichen, Verarbeitung von Kontingenzerfahrung, Legitimation von Gemeinschaftsbildung und sozialer Integration, Kosmisierung der Welt und Ermöglichung von Widerstand und Protest gegen einen als ungerecht und unmoralisch erfahrenen Gesellschaftszustand. Diese funktionale Mehrdimensionalität dient als heuristisches Raster, um den Wandel der Rolle, die das Christentum in der Entwicklung zur Moderne hin genommen hat und aktuell einnimmt, differenzierter analysieren zu können. Zudem erkennt Kaufmann dem Religionsbegriff ein Potenzial zu, religiöse Entwicklungen, wie sie sich in einer sich globalisierenden Welt vollziehen, zu erfassen9.

Der Beitrag des Christentums zur Entstehung der Moderne

Entgegen einer verbreiteten Auffassung, dass mit der Reformation die europäische Freiheitsgeschichte eingeläutet worden sei, plädiert Kaufmann dafür, die Ursprünge dieser Entwicklung früher anzusetzen. Drei Stränge macht er dafür namhaft: strukturell die als Ergebnis des Investiturstreits (1076–1122) erfolgte institutionelle Differenzierung zwischen der geistlichen und der weltlichen Herrschaft als zweier gleichberechtigter, unabhängiger Gewalten, ideell der aus dem Gedanken der Gott- Ebenbildlichkeit des Menschen erwachsene Begriff der mit Würde und Freiheit begabten autonomen Person und schließlich das Aufkommen des universalistischen Denkens in den Wissenschaften, das seine Wurzel in der Idee der gleichen Gotteskindschaft aller Menschen hat. Die Stabilisierung dieser drei Stränge bildet – so Kaufmann – „die kulturelle Voraussetzung der weltgeschichtlich völlig neuartigen Rationalisierungs-, Differenzierungs- und Individualisierungsprozesse, die wir heute als Charakteristikum dessen ansehen, was wir mit dem zusammenfassenden Begriff der Modernisierung kennzeichnen“10.
Allerdings habe dies eine Dynamik freigesetzt, die dazu geführt habe, dass im Zuge der fortgeschrittenen Modernisierung und mit ihr verbundenen Globalisierung eine Abkoppelung von den religiösen Ursprüngen erfolgt sei. In gewisser Weise seien die Gesellschaften des Westens noch von einem „impliziten Christentum“ in Form von überdauernden kulturellen Wertorientierungen wie Menschenwürde und -rechte, Nächstenliebe und Solidarität, Gerechtigkeit und Wahrheit geprägt; auch die sozialstaatlichen Vorkehrungen zum Schutz der Armen und Schwachen seien nicht zuletzt aus dem Geist des Christentums heraus erwachsen. Allerdings gebe es auch Anzeichen dafür, dass die Schwächung der expliziten Formen des Christentums einen Trend zur Verstärkung egozentrischer und hedonistischer Züge zulasten des Ethos der Mitmenschlichkeit begünstigen würde.

Verkirchlichung des Christentums

So sehr nach Kaufmann dem Christentum sein fundamentaler Beitrag zur Förderung der europäischen Freiheitsgeschichte zugute zu halten ist, so heißt das nicht, dass die von der staatlichen Macht mehr und mehr getrennte Kirche (bzw. nach der Reformation: Kirchen) ihrerseits diese Entwicklung aktiv mitgetragen hätten. Insbesondere für die im Zuge der Ausdifferenzierung der Christenheit zu einer eigenen Konfession gewordene katholische Kirche galt, dass sie durch die Reformation, und verstärkt durch die Aufklärung mit ihren ideengeschichtlich säkularisierenden Auswirkungen, die Substanz ihres Glaubens sowie ihre Existenz in höchstem Maße angegriffen und gefährdet sah und alle Kräfte der Verteidigung dagegen aufzubieten bemüht war.
Um diesen Prozess analytisch zu erfassen, hat Kaufmann das Theorem von der „Verkirchlichung des Christentums“ geprägt. Damit ist gemeint, dass das Christentum „keine die gesamten Lebensverhältnisse umfassende symbolische Sinnwelt mehr“11 bildet. Es wird vielmehr zunehmend mit dem explizit Religiösen identifiziert und dieses nochmals mit den etablierten Kirchen und religiösen Gemeinschaften. Diese wiederum nehmen mehr und mehr den Charakter religiöser Organisationen an, denen eine Eigendynamik innewohnt, dass sie immer schwieriger mit den Möglichkeiten individuellen Glaubens zur Deckung zu bringen sind.
Langfristig gesehen, so Kaufmann, hätten diesen Prozess der Verkirchlichung beide hierzulande ansässigen Großkirchen durchgemacht. Allerdings habe er vor allem in der katholischen Kirche im 19. Jahrhundert seinen Höhepunkt gefunden, während der Protestantismus in Form der Landeskirchentümer bis zum Ende des Ersten Weltkriegs mit dem Staat verflochten gewesen sei und auch den Ideen der Aufklärung offener gegenübergestanden habe. Im Gegensatz dazu kam es in der katholischen Kirche im Zusammenhang des Zwangs, sich nach der Enteignung der Kirchengüter und der Aufhebung der Fürstbistümer infolge des Reichsdeputationshauptschlusses von 1803 völlig neu strukturell zu konsolidieren, zum sogenannten „Antimodernismus“, also einer Einstellung, die insbesondere die Leitideen der Französischen Revolution als mit dem katholischen Glauben unvereinbar ausgibt und bekämpft. Ideell standen dafür die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dominant gewordene theologische Strömung der Neuscholastik, die sich bewusst als „Theologie der Vorzeit“ (Joseph Kleutgen) verstand, und die Naturrechtslehre.
Strukturell geschah das in Form der Bürokratisierung der Kirche, durch die die als wesentlich deklarierte Differenz zwischen Klerus und Laien verstärkt wurde. Dass unter den Laien trotzdem eine hohe Bindung an ihre Kirche erhalten blieb, wurde durch die Schaffung einer eigenen Subkultur bzw. eines Sondermilieus in Ab- und Ausgrenzung zu einer als kirchenfeindlich deklarierten Gesellschaft („Katholizismus“) bewirkt, innerhalb derer bzw. dessen das Leben der einzelnen „von der Wiege bis zur Bahre“ in kirchlich normierten Bahnen verlief, affektiv verstärkt durch die „ultramontane“ Orientierung auf das seines Kirchenstaates beraubte und gleichzeitig durch das Unfehlbarkeitsdogma hochsakralisierte Papsttum („päpstlicher Triumphalismus“). All das wurde nochmals durch die Überzeugung verstärkt, dass es außerhalb der katholischen Kirche kein Heil gebe. Es handelte sich in den Worten Kaufmanns um „eine wohl historisch einzigartige Verbindung von Hochreligion und Volksreligiosität“12.

Kirche in der Ambivalenz der Moderne

Dieser katholi(zisti)sche Sonderweg ist nach Kaufmann als durchaus erfolgreich zu bezeichnen, insofern er der katholischen Kirche im Zeitalter der gegen sie gerichteten Ideologien (Liberalismus, Sozialismus, Nationalismus) das Überleben ermöglicht habe. Doch wenn dieser Kontext nicht mehr gegeben sei, sei ein solcher Sonderweg nicht mehr aufrecht zu erhalten. Dies ist gemäß der Rekonstruktion der jüngsten Entwicklung der katholischen Kirche durch Kaufmann spätestens seit Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr der Fall.. Nicht zuletzt der Vorgang, dass etwa in Deutschland durch die Flüchtlingsbewegung die ehemals konfessionell homogenen Gebiete mit Angehörigen einer anderen Konfession „durchmischt“ wurden, war dafür ein wichtiger Auslöser.
Die Massenmedien erweiterten zunehmend den Blick von einer geschlossenen zu einer „bunten“ Welt. Der Stellenwert der Kirche(n) wurde durch das vermehrte Aufkommen von anderen attraktiven Anbietern in wichtigen Bereichen der Lebensführung (Bildung, Gesundheitswesen, Sozialversicherung, Freizeit usw.) eingeschränkt. Selbst in ihren eigenen Reihen ist die Kirche immer weniger in der Lage, Kontrolle über die Gläubigen auszuüben. Diese und andere Entwicklungen haben dazu geführt, dass sowohl die katholische als auch die evangelische Kirche sich in einem gesellschaftlichen Kontext, in dem sich die Moderne nochmals radikalisiert hat (auch als „Postmoderne“ bezeichnet), mit all dessen Implikationen, Ambivalenzen und Risiken vorfinden.
Ohne sie im Einzelnen entfalten zu können, seien wesentliche Merkmale, die Kaufmann für die heutige epochal sich gewandelt habende Gesellschaft anführt, benannt: gesteigerte gesellschaftliche Komplexität, Revision des Fortschritts- und Wachstumsoptimismus, globale Interdependenz und Mobilität, Vorherrschaft formaler Organisationen, kulturelle Pluralität, Koexistenz unterschiedlicher Wahrheiten, Auflösung der Verbindlichkeit von Traditionen, Relativierung des Bestehenden aufgrund seiner Wandelbarkeit, Individualisierung der Lebensführung, Schwächung der Bindungsfähigkeit usw. Es gibt keine alles übergreifende einheitliche und verbindliche Orientierungs- und Sinngebungsinstanz mehr. Für sein Leben Orientierung und Sinn zu finden, ist dem Individuum überlassen, das aus einer Fülle von Optionen wählen kann, aber auch wählen muss. Dass das in völliger Anbindung an die Wertvorstellungen einer einzigen Institution geschieht, ist unwahrscheinlich geworden. Identitätsbildung geschieht eher in Form einer „bricolage“. Allerdings fühlen sich nicht wenige davon überfordert, was dazu führt, dass die Lösung bei sich anbietenden einfachen Heilsversprechungen gesucht wird. In Formen frei flottierender Religiosität findet das ebenso seinen Niederschlag wie in religioid aufgeladenen fundamentalistischen Bewegungen.
Kaufmann sieht klar, dass einige der genannten Merkmale in mehr oder weniger starker Spannung zu hergebrachten Überzeugungen innerhalb der Kirchen stehen. Jedoch kommt es nach ihm darauf an, ob sie sich dazu defensiv oder offensiv verhalten. Verfolgte gerade die katholische Kirche lange Zeit eine rein defensive („antimodernistische“) Einstellung, so nahm sie für Kaufmann im Zweiten Vatikanischen Konzil eine bemerkenswerte Revision vor und legte eine teilweise tief reichende Reformbereitschaft an den Tag13.
Es habe, so schreibt er, „einen großen Teil der früheren kirchenzentrierten Weltanschauungen delegitimiert“14 und ein neues, offenes Verhältnis der Kirche zur Moderne eingeleitet. Doch im Gegenzug dazu hätten nachkonziliar die restaurativen Kräfte in der Kirche wieder Überhand gewonnen, und es habe ein Kontrollwahn Platz gegriffen, der darauf aus sei, alles und jedes zentralistisch zu regulieren – aber genau daran scheitere. Zwischen der wieder alle Entscheidungshoheit für sich beanspruchenden Klerikerkirche und dem Kirchenvolk sei es zu einer sich verhängnisvoll auswirkenden Entfremdung gekommen. Selbst ihr Leben bewusst aus ihrem Glauben heraus gestalten wollende katholische Frauen und Männer würden für sich große Schwierigkeiten bekunden, sich in der sich so gebärdenden Kirche heimisch zu fühlen15.

Zu den Zukunftsaussichten des Christentums

„Auf Weltebene erscheinen […] die integrativen Funktionen von Religion noch nicht erschöpft, und in dieser Hinsicht erscheint der hochorganisierte Charakter der christlichen Kirchen als durchaus funktional. Ihr universalistischer Anspruch korreliert hier mit der derzeitigen weltgesellschaftlichen Problemlage. Hier hat sich sogar die Vision einer ‚Welt im ganzen‘ noch nicht verbraucht, und den Religionen könnte hier eine im einzelnen noch gar nicht voraussehbare soziale Energie zuwachsen […].“16

„Es geht den Kirchen in Deutschland in jeder Hinsicht gut, mit der einen Ausnahme, dass sie den Kontakt zur ‚Seele‘ der meisten Menschen verloren zu haben scheinen, sie also innerlich nicht mehr ansprechen können. […] Alles in allem erscheinen die Perspektiven für das Christentum in unseren Breitengraden wenig erfreulich.“17

Diese beiden Zitate stehen in deutlicher Spannung, wenn nicht Widersprüchlichkeit zueinander: Das erste lässt dafür sprechen, dass mit Blick auf die sich etablierende Weltgesellschaft die Religionen, vorab die christlichen Kirchen, durchaus noch eine große Zukunft vor sich haben. Das zweite bescheinigt den Kirchen, dass sie die Menschen unserer Zeit nicht mehr zu erreichen vermögen. Ein Bindeglied zwischen beiden Zitaten bildet möglicherweise ein drittes Zitat von Kaufmann:

„Die religiöse Brisanz des Christentums scheint heute weniger verbraucht als verschüttet zu sein.“18

Das hieße, dass dem Christentum sehr wohl eine Kraft innewohnt, die prinzipiell noch längst nicht erlahmt ist, dass es aber gegenwärtig in einer Krise steckt, weil Mechanismen in ihm wirksam sind, die es daran hindern, diese seine Kraft zur Entfaltung kommen zu lassen, ihr vielmehr im Wege stehen. In dieser Dialektik bewegen sich die Aussagen Kaufmanns zur Zukunft und zur Zukunftsfähigkeit des Christentums, die wie ein roter Faden sein religionssoziologisches Werk durchziehen – die er allerdings unter den Vorbehalt gestellt wissen will, dass die Zukunft prinzipiell offen ist und gläubig gesprochen in der Hand Gottes liegt. Abgesehen davon lassen sich jedoch, so betont er, von den Analysen der Vergangenheit und der Gegenwart her Bedingungen angeben, die den weiteren Weg des Christentums begünstigen oder erschweren dürften.
Dazu unternimmt Kaufmann eine strukturelle Differenzierung zwischen vier Ebenen der Präsenz des Christlichen in der Gesellschaft: der kulturellen, der institutionellen, der organisatorischen und der individuellen und interaktiven Ebene19. Vor welche Anforderungen Kaufmann sie jeweils gestellt sieht, kann hier nur stichwortartig wiedergegeben werden:
1. Auf der kulturellen Ebene steht das Bemühen im Vordergrund, vor dem zeitgenössischen Hintergrund öffentlich den geistig-geistlichen Gehalt des christlichen Glaubens den anderen und sich selbst in Worten und Taten plausibel darzulegen. Dazu müssen die zentralen Glaubensinhalte so gefasst werden, dass sie dem vorherrschend gewordenen Bewusstsein kongruent sind, ohne sich ihm einfach anzupassen. Kaufmann bemerkt sehr pointiert dazu:

„Wenn es den christlichen Kirchen nicht mehr gelingt, das Gottesgedächtnis aufrecht zu erhalten und damit alle innerweltlichen Mythen in die Schranken ihrer funktionalen Reichweite zu verweisen, sind sie auf Dauer zu nichts nütze.“20

Ein für die heutige Kultur besonders bedeutsames Potenzial erblickt Kaufmann in der prophetisch-eschatologischen Tradition des Christentums, die kritisch auf verdrängte Seiten der Gegenwart aufmerksam werden lassen kann. Praktisch umgesetzt wird das besonders im sozialen Engagement in der Caritas und Diakonie und im globalen Einsatz für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung. Auch gilt es, sich in Auseinandersetzung mit entsprechenden Denkströmungen der Aushöhlung der Werte, die das Christentum mit zur Geltung gebracht hat – wie etwa Menschenwürde, Solidarität, Freiheit –, zu widersetzen und umgekehrt sie im Verein mit Gleichgesinnten zu fördern. Das alles gelingt nur überzeugend, wenn seitens des Christentums der Wille zum offenen Dialog erkennbar ist, in dem alle Beteiligten voneinander zu lernen bereit sind, und wenn dabei deutlich wird, dass auch unter dem Dach des Christentums selbst eine Meinungsvielfalt vorhanden ist.
2. Auf der institutionellen Ebene geht es vornehmlich um die Frage nach der gesellschaftlichen Repräsentanz der Kirchen. Ein ausgesprochen kirchenfeindliches Klima in der Gesellschaft gehört nach Kaufmann der Vergangenheit an. Abgelöst worden sei es durch ein Verhältnis, das sich als freundlich-distanziert bezeichnen lässt. Die Kirchen würden vor allem für die Bereiche zuständig gehalten, „die nicht von anderen Spezialisten abgedeckt würden“21. Allerdings hätten sie es mit einem erheblichen Mitgliederschwund zu tun.
Das dürfte auf Dauer für das Staat-Kirche-Verhältnis nicht folgenlos bleiben, zumal es in diesem Bereich Regulierungen gibt (z. B. Kirchenfinanzierung, kirchliches Arbeitsrecht, konfessioneller Religionsunterricht), die vermehrt in der Öffentlichkeit auf Bedenken stoßen. Die Zeit, in der die Kirchen in Deutschland als Kooperationspartnerinnen vornehmlich mit dem Staat agieren würden, laufe aus; eine Chance für sie bestünde vielmehr als intermediäre Organisationen in der Zivilgesellschaft. Ein weiteres Problem sieht Kaufmann darin, dass von den Medien ein verkürztes Bild von den Kirchen in der Öffentlichkeit gezeigt würde, insofern sie ihre Aufmerksamkeit fast ausschließlich auf deren offizielle Repräsentanten und Repräsentantinnen richteten. Ein weiterer kritischer Punkt ist, dass in der allgemeinen Öffentlichkeit weithin die konfessionelle Teilung des Christentums auf kein Verständnis mehr trifft, was nach Kaufmann für die Kirchen Anlass sein sollte, ihre Bestrebungen auf eine Ökumene hin zu forcieren.
3. Die größten Probleme für die Tradierbarkeit des Christentums auf Zukunft bestehen nach Kaufmann derzeit auf der kirchlich-organisatorischen Ebene, in der katholischen Kirche noch erheblich stärker als in der evangelischen Kirche. Zwar seien große Institutionen, wie die Kirchen es sind, auf Organisation angewiesen. Die Frage ist nur, wie diese ausgestaltet sei und welchen Stellenwert sie einnehme bzw. für sich beanspruche. Ohne das im einzelnen nachzuzeichnen, kommt Kaufmann mit Blick auf die katholische Kirche zu dem Befund, dass in ihr sich eine „Kombination von bürokratischer Herrschaft und hierokratischer oder patriarchaler Legitimation“ ausgebildet habe, die „mit dominierenden kulturellen Orientierungen der Gegenwart inkompatibel“ seien; eine solche Kombination erscheine „geradezu als unmoralisch“22.
Im Gegenzug dazu ist nach ihm einzufordern, dass die katholische Kirche endlich für sich nachholt, was in anderen gesellschaftlichen Bereichen auf heilsame Weise gang und gäbe geworden ist: zum Beispiel die Abschaffung des Zentralismus, die Delegation von Kompetenzen, die Regulierung von klaren Zuständigkeiten, die Transparenz von Verfahren und Entscheidungen, die Einführung einer Verwaltungsgerichtsbarkeit. Das vom Zweiten Vatikanischen Konzil betonte „gemeinsame Priestertum aller Gläubigen“ sowie der ihnen zugesprochene „Glaubenssinn“ blieben leere Versprechungen, solange sie nicht rechtlich etwa in Form der durchgängigen Synodalisierung der Kirche – als Forum auch für den längst vorhandenen innerkirchlichen Pluralismus – institutionalisiert würden. Insgesamt dürfte die katholische Kirche um ihrer Glaubwürdigkeit willen gut daran tun, wenn sie das von ihr „nach außen“ proklamierte Subsidiaritätsprinzip auch „nach innen“ ernst nähme und konsequent umsetzen würde.
4. Letztlich ist nach Kaufmann für das Überleben des Christentums die individuelle und interaktive Ebene entscheidend. Denn – so begründet er das – eine „motivrelevante Glaubensvermittlung setzt personale Begegnung, keine bloß funktionsspezifischen Interaktionen voraus“23. Kirchen, die den Menschen insbesondere als komplexe bürokratische Institutionen erschienen, lösten unvermeidlich bei ihnen Distanzerfahrungen aus.
Ein rein verkirchlichtes Christentum erwiese sich unter den heutigen Bedingungen als für seine Tradierbarkeit als Problem. Es sei nämlich davon auszugehen, dass sich die Religion infolge des Modernisierungsprozesses ins Individuum verlagert habe. Es könne für seine Identitätsbildung und Sinnfindung nicht mehr auf bewährte soziale Vorgaben zurückgreifen, sondern sei auf sich allein gestellt. Wie es das bewerkstellige, sei Sache seiner Entscheidung. Solle der christliche Glaube für es relevant werden können, müsse er in seinem jeweiligen Erfahrungsbereich ausgelegt werden. Das nötige wiederum zu einer Vielfalt christlicher Identifikationsangebote. Eine Chance läge durchaus darin, wenn das Christentum nicht als gleichförmig zum gesellschaftlichen Mainstream vor Augen geführt, sondern seinen „prophetischen Nonkonformismus“24 im Denken und Tun zur Geltung bringen würde.
Soll das durchgehalten werden können, bedarf es nach Kaufmann der Entwicklung neuer Sozialformen explizit christlichen Lebens. Diese, so schreibt er, „müssen sich dadurch auszeichnen, daß sie eine besondere Sensibilität für die Schwächen und Hinfälligkeiten der Moderne aufweisen und eben in dieser Hinsicht exemplarisch etwas Hilfreiches zustande bringen“25. Wo sie bereits praktiziert würden, ständen sie vielfach ebenso in einem nonkonformen Verhältnis zur „Amtskirche“.
Die Tatsache, dass der Glaube zur Sache der individuellen Option geworden ist und nicht mehr von einem Milieu, in das das Individuum eingebettet ist, getragen wird, hat enorme Konsequenzen für die Möglichkeit seiner motivkräftigen Weitergabe an die kommenden Generationen. Kaufmann unterscheidet drei „Tradierungsformen des Christentums“26: die „kulturell-soziale“, die „pädagogische“ und die „missionarische“.
Auf Zukunft hin, so meint er, wird die letzte an Gewicht gewinnen, die sich vorrangig auf erwachsene Menschen bezieht. Die Bekehrung Erwachsener zum christlichen Glauben sei gerade heute ein besonderer Erweis der ihm innewohnenden Überzeugungskraft. Von hier aus fällt auch ein Licht auf die Möglichkeit christlich-religiöser (Primär-)Sozialisation. Angesichts der vielfältigen Möglichkeiten, die gerade heute den Heranwachsenden offen stünden, und verstärkt durch das Image, das die Kirchen bei ihnen hinterließen, sei – so stellt Kaufmann nüchtern fest – ihr „Gelingen“ eher unwahrscheinlich. Auch hier hänge viel davon ab, ob jungen Menschen Erfahrungsräume des Christlichen eröffnet würden, die für sie den Glauben als lebensrelevant entdecken lassen. Wenn Kaufmann dafür weiterhin die Familie als einen wichtigen Ort für eine Anfangsbeziehung zum Christentum ansieht, so übersieht er nicht, dass das aktuelle Verhältnis der Kirche(n) zur „modernen Familie“ in ihren vielfältigen Formen sich dafür nicht gerade hilfreich gestaltet.
Alles in allem, so lautet das Fazit Kaufmanns, würden die Perspektiven für das Christentum in unseren Breiten nicht gerade verheißungsvoll erscheinen. Aber, so ergänzt er: „Eine ,schöpferische Ratlosigkeit‘ wäre keine ungünstige Voraussetzung für die Auseinandersetzung mit einer unsicheren, offenen Zukunft.“27

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