Pluralität und Verbindlichkeit sittlicher Werte

Wertepluralismus kann verwirren. Gibt es christliche Werte? Wie vertragen sich Pluralität und Verbindlichkeit? Stephan Ernst, Professor für Moraltheologie an der Universität Würzburg, analysiert aktuelle Wertedebatten.

In sogenannten Wertedebatten wird häufig beklagt, dass sittliche Werte, die früher selbstverständlich anerkannt waren und die Gesellschaft zusammenhielten – Werte wie Treue, Ehrlichkeit, Solidarität, Gemeinsinn, Schutz des menschlichen Lebens, Achtung des Eigentums anderer, Opferbereitschaft, Disziplin, Selbstlosigkeit usw. –, heute ihre selbstverständliche Geltung verloren hätten. Allgemein verbindliche und alle verbindende Wertvorstellungen seien durch einen Wertepluralismus bedroht, der keine klare Orientierung mehr zulasse, sondern zu einem Werterelativismus führe, der dann nur allzu leicht einen Werteverlust, wenn nicht gar einen Wertezerfall zur Folge habe. Entsprechend wird in der Öffentlichkeit eine Neubesinnung auf unsere Grundwerte gefordert. Die wahren Werte müssten wieder ins Bewusstsein gerufen werden, an denen man sich verlässlich orientieren könne. In der Erziehung müsse die Wertevermittlung und Werteerziehung verstärkt werden. Von den Kirchen wird geltend gemacht, dass wir uns wieder stärker auf die christlichen Werte als Maßstab des individuellen, aber auch des politischen Handelns besinnen müssten.

Erste Deutungsmöglichkeiten des Wertepluralismus

Allerdings muss die Tatsache, dass mit zunehmendem Pluralismus der Wertüberzeugungen manche bisher gültigen Werte in Frage gestellt oder nicht mehr selbstverständlich übernommen werden, ihren Grund nicht zwangsläufig darin haben, dass die sittliche Einstellung der Menschen abnimmt. Sie kann ihren Grund auch darin haben, dass es angesichts gewandelter gesellschaftlicher und kultureller Rahmenbedingungen oder auch neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse und technischer Möglichkeiten nicht mehr ohne Weiteres klar ist, ob bestimmte Wertvorstellungen verantwortlichem Handeln noch entsprechen und worin die einzelnen Werte inhaltlich genau bestehen – was also jeweils Treue, Ehrlichkeit, Solidarität, Gerechtigkeit, Schutz des Lebens usw. für konkrete Handlungssituationen bedeuten.
Worin etwa wirkliche Liebe zu seinen Kindern oder zum Nächsten genau besteht, ist oft sehr schwer zu sagen, es ist keineswegs eindeutig und vielfach umstritten. Ist es beispielsweise ein Zeichen der Liebe zu seinen Kindern, ihnen ihre Wünsche zu erfüllen, oder tut man ihnen damit gerade keinen Gefallen? Ist es gerecht oder ungerecht, seinen Kindern genau gleich viel Taschengeld zu geben? Ebenso ist es umstritten, ob es der Schutz des menschlichen Lebens unter allen Umständen ausschließt, einem schwerkranken, dem Tode nahen Patienten seinen Sterbewunsch zu erfüllen. Treue als Zusammenbleiben der Eheleute um jeden Preis kann zum Zwangskorsett werden und Paare ins Unglück stürzen, Gerechtigkeit kann zu unmenschlicher Härte führen, Ehrlichkeit zu Unverschämtheit, Solidarität und Opferbereitschaft zur Selbstaufgabe.
Wird dann argumentiert, das seien Fehlformen und nicht die eigentlichen Werte, stellt sich die Frage, welches Verhalten denn zu Recht als Ausdruck von Treue, Ehrlichkeit, Gerechtigkeit und Solidarität, als Opferbereitschaft oder Enthaltsamkeit usw. bezeichnet wird. Mit der bloßen Verwendung moralisch positiv oder negativ konnotierter Begriffe ist noch nicht viel gewonnen. Im rechten Sinn verstandene „Ehrlichkeit“, „Gerechtigkeit“, „Solidarität“ ist selbstverständlich immer und per se gut; und wer ein bestimmtes Verhalten als „ungerecht“ oder „treulos“ bezeichnet, drückt damit aus, dass er es moralisch schlecht oder zumindest bedenklich findet. So verwendet stellen diese Wörter nichts anderes als Leerformeln dar, die möglicherweise ihre Funktion in weltanschaulich aufgeladener Rhetorik erfüllen, aber die Frage der konkreten Verwirklichung und Bedeutung sittlicher Werte unbeantwortet lassen. Es müssten sich also Kriterien angeben lassen, mit deren Hilfe man genauer entfalten und begründen kann, welche konkreten Verhaltensweisen zu Recht als sittlich wertvoll bezeichnet werden und was die genannten sittlichen Werte inhaltlich genau besagen.
Doch lassen sich solche Kriterien wirklich finden und angeben? Postmoderne Philosophie jedenfalls begegnet der Erfahrung, dass es scheinbar keine allgemein verbindenden Wertüberzeugungen mehr gibt, in der Weise, dass sie die Pluralität als unaufhebbare und unhintergehbare letzte Verfasstheit der Wirklichkeit affirmiert. Dies bedeute jedoch nicht nur Dekonstruktion und „Zerschlagung von Gewissheit“, sondern biete zugleich die Chance, in der eigenen Lebensführung seine Identität nach eigenen Vorstellungen zu schaffen und sich selbst immer wieder neu zu erfinden. Dem entspricht ein Konstruktivismus, demzufolge die gesamte Wirklichkeit nicht etwas Vorgegebenes ist, das bereits von sich her Sinnstrukturen enthält, sondern das ausschließlich aus menschlicher Deutung und aus im Diskurs verhandelten Sinnsetzungen resultiert. Dies gilt insbesondere für sittliche Wertüberzeugungen. Auch sie sind keine Vorgegebenheiten, sondern werden von Menschen nach Interessen und deren Abgleich untereinander gesetzt. Ihre kulturabhängige Pluralität gilt bis in die Grundwerte hinein als prinzipiell unüberbrückbar. Ja, der Pluralismus der Werte scheint selbst einen Wert darzustellen. Die Suche nach gemeinsamen, alle verbindenden Werten scheint damit von vornherein aussichtslos. Gefordert sind lediglich Toleranz und die Offenheit für den Anderen.
Wie also steht es um die sittlichen Werte? Beruhen sie bloß auf subjektiven Gefühlen und Interessen oder sind sie nicht doch unserem Handeln vorgegeben? Sind sie letztlich beliebig oder gelten sie unwandelbar? Lassen sich Kriterien für ein angemessenes Verständnis der einzelnen Wertvorstellungen benennen oder sind sie im Grunde nicht diskutierbar? Um in diesen Fragen nicht aneinander vorbeizureden, ist es wichtig sich darauf zu besinnen, was überhaupt mit sittlichen Werten gemeint ist. In Wertediskussionen jedenfalls scheint eine solche Vergewisserung eher selten zu sein1.

Werte als Erstrebenswertes Allgemein kann unter einem „Wert“ all das verstanden werden, was für Menschen in irgendeiner Weise bedeutungsvoll und damit erstrebenswert ist. Ursprünglich kommt der Begriff „Wert“ aus der Ökonomie und meint hier den Wert des Geldes und den Wert der Waren. So spricht man vom Wert, den ein Haus, ein teures Schmuckstück oder auch ein bedeutendes Gemälde hat, und meint damit den Preis. Doch auch Dinge, die in diesem wirtschaftlichen Sinne wertlos sind, können einen hohen Wert besitzen: Ein altes Erinnerungsfoto kann einen besonderen Erinnerungswert haben und deshalb für jemanden sehr kostbar sein. Oft erhalten Dinge überhaupt erst von dieser Bedeutung, die sie für uns haben, auch ihren ökonomischen Wert. Somit kann man all das als Werte bezeichnen, was eine hohe Bedeutung für uns hat, was eine Anziehungskraft auf uns ausübt und unser Streben und Begehren weckt. Dabei spielen zumeist unsere Bedürfnisse und Emotionen eine entscheidende Rolle; Werte werden nicht primär durch Erkenntnis, sondern durch Gefühle als Werte erfasst. In diesem Sinne lassen sich als weitere mögliche Werte beispielhaft nennen: Eigentum, Immobilien, ein ertragreiches Aktienpaket, aber auch Gesundheit, die Karriere, das eigene Ansehen, ein Urlaub in der Karibik oder eine gute Figur, ebenso Wissen und Wahrheit, Schönheit und Harmonie, eine geglückte Partnerschaft, eine Familie, Alleinsein, Unabhängigkeit, das menschliche Leben, Freiheit, und schließlich auch Sicherheit, demokratische Mitbestimmung, Frieden, eine stabile Wirtschaft usw.
Die Fülle dieser verschiedenen Werte lässt sich nach mehreren Hinsichten einteilen. Unterscheiden lassen sich materielle und ideelle Werte (ein Haus – die Wahrheit), individuelle und soziale Werte (Schönheit, Karriere – soziale Sicherheit, wirtschaftliche Stabilität, Frieden), aber auch Werte, die äußerlich vorhanden sind (ein Auto, ein Haus), und solche, die das subjektive Selbstverständnis des Menschen betreffen (reich sein, angesehen sein). Von all diesen Werten aber lässt sich sagen, dass sie als Werte nicht bereits an sich existieren. Auch wenn wir davon sprechen, dass etwas nicht nur einen Wert für uns hat, sondern selbst ein Wert ist, ist es keineswegs so, dass sie damit als Werte objektiv vorgegeben sind und erst dann von uns als wertvoll wahr- und angenommen werden. Vielmehr werden Dinge, Eigenschaften, Situationen, Handlungsweisen oder Zustände dadurch zu Werten, dass sie uns anziehen, dass sie unser Begehren und Streben wecken und uns zum Wollen und schließlich auch zum Handeln motivieren. Erst dadurch, dass sie für uns erstrebenswert – des danach wert – sind und wir sie tatsächlich auch erstreben, werden sie zu Werten. Andererseits suchen wir uns auch nicht irgendetwas Beliebiges aus, was für uns wertvoll sein soll, sondern wir erfahren uns angezogen durch die Sache selbst. Dass etwas für uns zum Wert wird, hat seinen Grund auch in der Sache selbst. Aber ohne dass es als wertvoll erfahren, begehrt und erstrebt wird, stellt es von sich her noch keinen Wert dar. Werte und menschliches Streben lassen sich deshalb nur in wechselseitiger Korrelation verstehen: Werte sind deshalb Werte, weil sie von uns erstrebt werden; umgekehrt gibt es kein Streben und Begehren, wenn es sich nicht auf etwas richtet, was erstrebt und begehrt werden kann, weil es also erstrebens- und begehrenswerte Aspekte besitzt.

Nicht-sittliche und sittliche Werte

Mit diesen Überlegungen sind allerdings die sittlichen Werte, nach denen eingangs gefragt war, noch nicht in den Blick gekommen. Bisher war lediglich von nichtsittlichen Werten die Rede. In der Tradition der Ethik werden diese nicht-sittlichen Werte auch als physische Werte bzw. Güter, als bonum physicum im Unterschied zum bonum morale, bezeichnet, um anzudeuten, dass es um eine seiende und vorhandene Wirklichkeit geht, die erstrebenswert erscheint. Auch wurde der Vorschlag gemacht, terminologisch zwischen nicht-sittlichen Gütern und sittlichen Werten zu unterscheiden2. Doch wie auch immer die Bezeichnungen lauten, es bleibt die Frage, worin genau der Unterschied besteht zwischen diesen nicht-sittlich Werten oder Gütern und sittlichen Werten wie etwa Treue, Gerechtigkeit, Großzügigkeit, Ehrlichkeit, Selbstlosigkeit usw. Wodurch sind sittliche Werte charakterisiert? Wie verhalten sie sich zu den nicht-sittlichen Werten?
Eine erste Antwortmöglichkeit wäre, sie den nicht-sittlichen Werten gleichzusetzen und sie deswegen als Werte zu verstehen, weil sie dem Menschen erstrebenswert erscheinen. Sittliche Werte wären dann Verhaltensweisen oder Haltungen, die Menschen faktisch für erstrebenswert und wichtig halten und von denen sie meinen, dass auch andere sich so verhalten sollten, die aber keine objektive Gültigkeit und Wahrheit beanspruchen können. Doch dann ließe sich über sittliche Werte weder sinnvoll mit Gründen diskutieren noch gäbe es die Möglichkeit legitimer Kritik an bestimmten sittlichen Wertvorstellungen. Es ließe sich auch nicht begründen, dass jedermann sie erstreben soll.
Eine zweite Antwortmöglichkeit wäre, sittliche Werte als objektiv vorgegebene Wirklichkeiten zu verstehen, die sich allerdings von der Wirklichkeit des Seienden unterscheiden und eine eigene Wirklichkeit des Gesollten bilden. Sie können deshalb nur durch eine besondere Werteinsicht, durch Intuition, wahrgenommen werden. Das Problem einer solchen Deutung liegt jedoch darin, dass es an einer jedermann zugänglichen Methode fehlt, mit deren Hilfe man seine jeweilige Intuition des sittlich Wertvollen und Gesollten als wirkliche Erkenntnis ausweisen und von bloßer Einbildung verlässlich unterscheiden kann3. Wenn einander widersprechende Intuitionen des sittlich Wertvollen aufeinander treffen, bleibt in dieser Deutung nur die Möglichkeit, dem Anderen Moralblindheit zu unterstellen.
Während bei der ersten Antwort also keine allgemeine Verbindlichkeit sittlicher Werte gedacht werden kann, fallen bei der zweiten Antwort die Überprüfbarkeit der Werteinsicht und die Möglichkeit einer legitimen Pluralität und Wandelbarkeit sittlicher Werte aus4. Während die erste Möglichkeit sittliche Werte mit nicht-sittlichen Werten auf eine Ebene stellt und vermischt, trennt die zweite Antwort sittliche und nicht-sittliche Werte völlig voneinander.
Weiterführend kann demgegenüber die Deutung sein, dass sittliche Werte die Art und Weise betreffen, wie Menschen jeweils nach nicht-sittlichen Werten streben. Bei sittlichen Werten geht es demnach weniger um die Frage, was man erstrebt, als um die Frage, wie man sich in seinem Handeln bei der Verwirklichung nicht-sittlicher Werte verhalten soll5. Somit sind sittliche Werte weder mit nicht-sittlichen Werten gleichgestellt, noch sind sie von diesen völlig getrennt. Entsprechend gehört es etwa zu den sittlichen Werten, im Streben nach Geld und Besitz nicht zu betrügen oder zu stehlen, sondern Ehrlichkeit, Fairness und Redlichkeit walten zu lassen. Das Streben nach Geld und Besitz als solches ist also nicht von vornherein etwas Unmoralisches, sondern erst dann, wenn man es mit betrügerischen und unlauteren Mitteln auf Kosten anderer betreibt. Im Streben nach einer geglückten Beziehung oder Freundschaft gehört es zu den sittlichen Werten, den Anderen nicht auszunutzen und zu hintergehen, sondern Treue, Selbstlosigkeit, Achtsamkeit und Wahrhaftigkeit zu üben und dem Anderen gerecht, respektvoll und tolerant zu begegnen. Im Streben nach einem sportlichen Erfolg oder nach einer beruflichen Karriere ist Diszipliniertheit, aber auch Maßhaltung im Blick auf die eigene Gesundheit sowie Fairness gefragt. So sehr also sittliche Werte auch selbst etwas Erstrebenswertes darstellen und darin mit den nicht-sittlichen Werten übereinkommen, so unterscheiden sie sich doch von diesen gerade dadurch, dass sie die Art und Weise betreffen, wie man die nicht-sittlichen Werte anstrebt.

Kriterium sittlicher Werte

Ausgehend von diesem Verständnis der sittlichen Werte stellt sich die weitere Frage, welches Kriterium sich dafür angeben lässt, ob eine bestimmte Weise, nach nichtsittlichen Werten zu streben, auch sittlich wertvoll ist und einen sittlichen Wert darstellt oder ob sie sittlich unerlaubt ist und ein sittliches Übel (malum morale), einen Unwert also, darstellt. Die Nennung der Werte selbst kann diese Frage nicht beantworten. Denn die Namen der Werte bezeichnen immer eine sittlich positive und wertvolle Haltung oder Verhaltensweise: Treue, Gerechtigkeit und Ehrlichkeit sind immer sittlich gut. Sie sagen aber nicht, welches konkrete Verhalten zu Recht als Verwirklichung von Treue, Gerechtigkeit oder Ehrlichkeit bezeichnet werden kann.
Zur Beantwortung dieser Frage kann man von der Einsicht ausgehen, dass all unser Streben immer von einem nicht-sittlichen Wert geleitet ist, der sich für uns als erstrebenswert darstellt, dass aber durch die Handlungen, durch die wir diesen Wert verwirklicht wollen, zugleich immer auch andere nicht-sittliche Werte verletzt werden oder nicht verwirklicht werden können. Bei jeder Verwirklichung eines nicht-sittlichen Wertes entstehen immer auch negative Nebenwirkungen. Die für die moralische Bewertung und damit für das Vorliegen eines sittlichen Wertes entscheidende Frage lautet deshalb, wie zwischen den angestrebten und den zugleich verletzten oder zerstörten nicht-sittlichen Werten abgewogen werden kann.
Im Blick auf diese Frage hat es immer wieder Versuche gegeben, eine objektive, dem Menschen vorgegebene Werte-Hierarchie aufzustellen. So könnten Sachwerte wie Nahrung, Wohnung, Kleidung und Besitzgüter die materielle Grundlage bilden; darüber stehen Güter des gesellschaftlichen Lebens wie Ehre, guter Ruf, freie Lebensgestaltung und Berufswahl, darüber wiederum Güter wie Gesundheit und Lebenskraft oder geistige, sittliche und religiöse Werte. Solche konkreten Aufstellungen erweisen sich allerdings in ihren Details als problematisch6. Bereits innerhalb der phänomenologischen Wertethik finden sich unterschiedliche Auffassungen über die Kriterien der Vorzugswürdigkeit.
Während etwa für Max Scheler der höhere Wert den Vorzug verdient7, betont Nicolai Hartmann, dass es Situationen geben kann, in denen der niedrigere, aber dringlichere Wert (etwa Nahrung und Gesundheit) vor dem höheren Wert (Güte, Selbstlosigkeit usw.) den Vorzug verdient, weswegen er zu der Auffassung gelangt, dass der höhere Wert der bedingte, der niedrigere Wert aber der unbedingte Wert sei8. Auch der Versuch, nicht von Grundgütern, sondern von Grundbedürfnissen9 oder von Grundfähigkeiten des Menschen auszugehen, von Fähigkeiten also, die für jeden Menschen und die Entfaltung seines Menschseins fundamentale Bedeutung haben und deshalb unbedingt zu respektieren und zu schützen sind10, erweist sich in der konkreten Durchführung nicht in allen Einzelheiten als plausibel, vielmehr als erläuterungs- und ergänzungsbedürftig.
Ein alternativer Ansatz besteht darin, dass eine Handlung durch die negativen Nebenwirkungen nicht gerade den nicht-sittlichen Wert, der durch sie verwirklicht werden soll, mindern oder gar zerstören darf. Die negativen Nebenwirkungen müssen vielmehr verhältnismäßig bleiben und dürfen nicht kontraproduktiv werden11. Unverhältnismäßig wird eine Handlung dann, wenn die Übel, die zur Verwirklichung des angestrebten Wertes verursacht oder zugelassen werden, größer sind als notwendig oder erforderlich, wenn man etwa, um einer Bedrohung zu entkommen, mehr Gewalt anwendet als notwendig ist. Kontraproduktiv ist eine Handlung dann, wenn die Weise, einen Wert zu verwirklichen, diesen Wert tatsächlich eher mindert oder gar zerstört: Ein Lehrer besteht so auf seiner Autorität, dass er sie faktisch untergräbt; man möchte für seine Kinder „das Beste“, tatsächlich aber verzieht man sie oder hält sie unselbständig. Es geht also nicht darum, verschiedene nicht-sittliche Werte miteinander zu vergleichen oder gegeneinander abzuwägen, sondern darum, dass der jeweils angestrebte nicht-sittliche Wert selbst nicht durch die Weise, nach ihm zu streben, gemindert oder zerstört wird.
Allerdings reicht das Kriterium der Verhältnismäßigkeit oder Nicht-Kontraproduktivität allein noch nicht aus. Verhältnismäßigkeit und Nicht-Kontraproduktivität müssen vielmehr auch in universaler Perspektive gewahrt werden. Dazu gehört zum einen die langfristige Perspektive. So sollte man etwa nicht die kurzzeitigen Unannehmlichkeiten einer Vorsorgeuntersuchung vermeiden, wenn man dadurch langfristig riskiert, schwer krank zu werden. Um kurzfristig die Energieversorgung auf einfache Weise zu sichern, riskiert man lebensbedrohliche Langzeitprobleme für kommende Generationen. Zum anderen aber ist von entscheidender Bedeutung, dass der jeweils erstrebte nicht-sittliche Wert auch dann nicht untergraben wird, wenn man ihn universal betrachtet. So könnte sich jemand zwar – auch langfristig – durch Einbrüche und Diebstahl Geld und Besitz verschaffen, in universaler Betrachtung aber macht er damit Eigentum für alle unsicher. Dagegen lässt sich eine Handlung dann als sittlich wertvoll ansehen, wenn sie den in der Handlung angestrebten Wert tatsächlich nachhaltig und universal gesehen verwirklicht und bewahrt.
Sittliche Werte bezeichnen also Haltungen und Handlungsweisen, durch die man auf verantwortliche Weise nach nicht-sittlichen Werten strebt. Ausgehend von diesem Verständnis aber lässt sich sagen, dass sittliche Werte weder objektive, dem Menschen vorgegebene Wirklichkeiten darstellen, die a priori existieren und die Anerkennung der Menschen verlangen, noch dass es sich bloß um beliebige Setzungen und Festlegungen von Menschen handelt, die in ihrer Gültigkeit und Werthaftigkeit auch außer Kraft gesetzt oder durch andere Werte ersetzt werden könnten. Was ergibt sich aber aus diesem Verständnis für die Frage nach der Pluralität und Verbindlichkeit von Werten? Was lässt sich zu der Annahme so genannter Grundwerte sagen? Die Unterscheidung von sittlichen und nicht-sittlichen Werten kann dazu beitragen, in den Debatten über Werte und Grundwerte Missverständnisse und Willkür in der Einteilung und Zuordnung von Werten zu vermeiden12.

Nicht-sittliche Werte und Grundwerte – Pluralität und Verbindlichkeit

Betrachtet man zunächst die nicht-sittlichen Werte, so lässt sich feststellen, dass das, was Menschen erstrebenswert erscheint, völlig unterschiedlich sein kann. Während es für den einen im höchsten Maße erstrebenswert ist, am Wochenende die Spiele der Fußball-Bundesliga zu verfolgen, kann es für einen anderen im selben Maß erstrebenswert sein, in Bayreuth Richard Wagners Parsifal zu zelebrieren. Während es für viele Menschen einen hohen Wert darstellt, in einer intakten Familie zu leben, kann es für andere einen mindestens ebenso hohen Wert darstellen, einen möglichst einflussreichen und hoch dotierten Managerposten zu erlangen. Während es für viele erstrebenswert ist, Sport zu treiben, wollen andere lieber Bücher lesen und studieren. Während für viele Menschen der Aufenthalt in der Natur einen hohen Erholungswert hat, ist es für andere die höchste Entspannung, im Internet zu surfen oder sich an Computerspielen zu erfreuen.
Solche Wertvorstellungen und Wertpräferenzen sind individuell verschieden und so vielfältig wie die Menschen. Sie sind abhängig von der Veranlagung und Biografie, vom sozialen Milieu13, in dem man sich bewegt und wohl fühlt, oder auch von der jeweiligen Kultur, in der man lebt. Dabei mag es sein, dass die Anhänger bestimmter Wertvorstellungen die Anhänger der entgegengesetzten oder davon abweichender Werte für ignorant, primitiv oder dünkelhaft halten. Zwischen den unterschiedlichen Milieus und Kulturen mit ihren jeweiligen Wertvorstellungen können geradezu „Ekelschranken“ existieren. Dennoch lässt sich keine allgemein nachvollziehbare und verbindliche Wertehierarchie oder Werteordnung begründen, nach der bestimmte Werte objektiv vorzugswürdiger wären als andere. Warum sollten sogenannte ideelle und geistige Werte vorzugswürdiger sein als materielle? Warum sollte das Bemühen, Beethovens Violinkonzert spielen zu können, besser sein als das Bemühen, deutscher Meister im Gewichtheben zu werden? Grundsätzlich ist also im Blick auf solche Wertvorstellungen von einer legitimen Pluralität auszugehen. Alles andere liefe auf den Versuch einer Zwangsbeglückung hinaus.
Allerdings ist die Anerkennung der Individualität und Pluralität der Wertvorstellungen nicht alles, was sich über den Bereich der nicht-sittlichen Werte sagen lässt. Darüber hinaus nämlich lässt sich auch auf solche Werte verweisen, deren Wahrung oder Verwirklichung die unverzichtbare Voraussetzung für die Verwirklichung der bisher genannten individuellen Werte ist. Ein solcher Wert ist etwa das menschliche Leben. Ihm kommt ein fundamentaler Wert zu, weil das Leben eines Menschen die unverzichtbare Voraussetzung dafür ist, dass er überhaupt irgendwelche Werte anstreben und verwirklichen, dass er überhaupt Wertvolles erfahren und tun kann. Von ähnlich grundlegender Bedeutung sind aber auch Werte wie Gesundheit, Sicherheit, Eigentum, Freiheit, Vertrauen, Teilhabe am sozialen Leben. Diese Werte entsprechen auch Grundbedürfnissen des Menschen, die erst erfüllt sein müssen, damit er andere, persönliche Wertvorstellungen überhaupt verwirklichen kann. Es handelt sich um nicht-sittliche Grundwerte, die aufgrund des oben dargestellten Aspekts der Fundierung – und nicht aufgrund metaphysischer, religiöser oder sonst weltanschaulich oder kulturell geprägter Wertehierarchien oder Menschenbilder – als unbeliebig gelten können. Gerade wenn man im Blick auf die individuellen Werte eine Pluralität und Freiheit bejaht, ist die Anerkennung und Verwirklichung der Grundwerte unverzichtbare Voraussetzung. Dabei bedeutet diese Unbeliebigkeit nicht, dass damit eine starre, ein für allemal feststehende Hierarchie der Grundwerte gegeben sei. Welche Werte für die Verwirklichung der anderen fundierend sind, ist jeweils durch Erfahrung zu ermitteln und hängt von den individuellen Einzelwerten, die jemand verwirklichen will, aber auch von der jeweiligen geschichtlichen und kulturellen Situation, in der er sie verwirklichen will, ab.
Diese Unterscheidung zwischen fundierenden und fundierten nicht-sittlichen Werten ist auch für den verantwortlichen Umgang mit den nicht-sittlichen Werten relevant. Wenn nämlich sittliche Werte dadurch realisiert werden, dass man sich so auf nicht-sittliche Werte bezieht, dass diese nachhaltig und in universaler Perspektive gefördert und nicht untergraben werden, dann kann es nicht außer Acht gelassen werden, dass es innerhalb dieser Werte Fundierungsverhältnisse gibt. Um einen bestimmten nicht-sittlichen Wert verantwortlich und nicht auf kontraproduktive Weise zu verwirklichen, ist es unverzichtbar, darauf zu achten, dass man auch die Grundlagen und Voraussetzungen dieses Wertes pflegt und nicht zerstört. Im Fall von Wertekonflikten – z. B. Umweltschutz gegen Wirtschaftswachstum – wird darauf zu achten sein, dass sich Werte sogar wechselseitig voraussetzen können. Den Umweltschutz zu vernachlässigen, wird sich langfristig als wirtschaftlich schädlich erweisen, und ohne eine gut funktionierende Wirtschaft wird die Grundlage zerstört, auf der man sich Umweltschutz leisten kann.

Sittliche Werte – Unbeliebigkeit und Wandelbarkeit

Werden sittliche Werte dadurch verwirklicht, dass man nicht-sittliche Werte nachhaltig und in universaler Perspektive anstrebt, so ist aufgrund dieses Prinzips einerseits die Unbeliebigkeit des Inhalts sittlicher Werte, andererseits aber auch die Auslegungsbedürftigkeit und Wandelbarkeit dieses Inhalts verstehbar.
Die inhaltliche Auslegung und Konkretisierung sittlicher Werte ist unbeliebig, weil die Beantwortung der Frage, ob eine bestimmte Weise, nach einem nicht-sittlichen Wert zu streben, unverhältnismäßig oder kontraproduktiv wird, sich anhand der Folgen der jeweiligen Handlungsweise in der Wirklichkeit bestimmt und nicht davon abhängt, ob man subjektiv eine gute Absicht hatte. Dass etwa der Wert Redlichkeit im Umgang mit Geld und Eigentum konkret verwirklicht wird, ist nicht daran zu messen, ob es jemand gut meint, sondern daran, ob dessen Handeln tatsächlich dem Eigentum im Ganzen dient oder Eigentumsmöglichkeiten für alle eher schädigt und untergräbt. Ob der Wert Treue verwirklicht wird, hängt nicht davon ab, welche Gefühle der einzelne subjektiv empfindet, sondern davon, welches Verhalten tatsächlich geeignet ist, die Verlässlichkeit von Versprechen – etwa im Blick auf eine geglückte Beziehung zwischen Mann und Frau, eine Freundschaft oder ein Dienstverhältnis – zu fördern und nicht zu mindern.
Die inhaltliche Bestimmung sittlicher Werte ist damit aber nicht in einem objektiven Sinne ein für allemal und unwandelbar festgelegt, sie erhalten ihre Konkretion vielmehr durch das dargestellte Prinzip des Sittlichen. Da es sich aber um ein formales Prinzip handelt, wird die inhaltliche Auslegung der sittlichen Werte auch von den konkreten Situationen und den Umständen des Handelns her bestimmt und kann sich somit verändern. Das Urteil darüber, wie ein bestimmter sittlicher Wert verwirklicht ist, kann sich wandeln. Was Respekt gegenüber älteren Menschen auch in der Situation der Gebrechlichkeit und Hilfsbedürftigkeit konkret bedeutet, kann anders ausfallen, wenn man die Situation der Großfamilie voraussetzt, und anders, wenn man unter den Bedingungen des modernen Erwerbslebens danach fragt.
Ebenso kann Treue nicht Festhalten an einem Versprechen oder an einer Beziehung um jeden Preis bedeuten, also auch dann, wenn man ausgenutzt, ausgebeutet oder gewalttätig missbraucht wird. Großzügigkeit kann nicht darin bestehen, sein ganzes Vermögen zu verschwenden und sich so die Möglichkeit zu untergraben, sich an seinem Besitz auch mit anderen dauerhaft freuen und großzügig sein zu können. Auch kann es vorkommen, dass man einzelne sittliche Werte in einem solchen Maß anstrebt, dass sie sich in Unwerte verkehren und für den Menschen zerstörerisch werden. Es kann zu einer „Tyrannei der Werte“14 kommen, in der man einen einzelnen Wert verabsolutiert und alle anderen Werte diesem opfert. So kann man in einem solchen Maß gerecht sein wollen, dass man in Wirklichkeit ungerecht, hartherzig und grausam ist. Man kann so couragiert sein wollen, dass man die Gefahr unterschätzt und darin umkommt. All dies zeigt, dass auch sittliche Werte oft nur in Verbindung mit anderen, komplementären sittlichen Werten so verwirklicht werden können, dass sie ihren Wert für den Menschen nicht verlieren. Zur Gerechtigkeit muss die Barmherzigkeit hinzukommen, zur Courage die Vorsicht, zur Großzügigkeit die Sparsamkeit, zur Selbstlosigkeit die Selbstbewahrung usw.
All diese Überlegungen machen deutlich, dass eine Pluralität und Situationsbezogenheit von sittlichen Wertvorstellungen denkbar ist, ohne zugleich in eine subjektive Beliebigkeit und in einen unverbindlichen Relativismus zu verfallen. Innerhalb der Grenzen, an denen das Handeln unverhältnismäßig wird und den eigentlich angestrebten Wert mindert oder zerstört, gibt es meist nicht nur eine einzige Möglichkeit des sittlich Richtigen und Wertvollen, sondern eine Bandbreite sittlich vertretbarer und auch wertvoller Handlungsmöglichkeiten. Zugleich lässt sich aber auch darauf verweisen, dass es durch die Geschichte und auch durch die verschiedenen Kulturen hindurch eine Reihe von stabilen sittlichen Inhalten gibt. Sie haben sich nicht nur in grundlegenden ethischen Geboten und Verboten, etwa der zweiten Tafel des Dekalogs, niedergeschlagen, sondern ebenso in Institutionen wie Ehe und Familie oder in Rechtsbestimmungen wie den allgemeinen Menschenrechten. All dies aber hat seine Grundlage nicht in apriorischen Vorgegebenheiten, sondern in geschichtlicher Erfahrung.

Fundamentale sittliche Werte

Über diese relativ unbeliebigen sittlichen Werte hinaus lässt sich noch eine weitere Gruppe fundamentaler sittlicher Werte identifizieren. Während die bisher angesprochenen sittlichen Werte dadurch verwirklicht werden, dass man sich in verantwortlicher Weise auf einzelne nicht-sittliche Werte bezieht und entsprechend nach ihnen strebt, gibt es darüber hinaus auch sittliche Werte, die bereits mit dem sittlichen Standpunkt selbst gegeben sind, die also schon mit der Bereitschaft, überhaupt sittlich handeln zu wollen, implizit verwirklicht werden. Im Respektieren-Wollen des ethischen Grundkriteriums nämlich, in dem Entschluss, nicht-sittliche Werte in universaler Perspektive anzustreben, ist bereits enthalten, dass man unparteilich, gerecht, solidarisch und nachhaltig handeln will. Die sittlichen Werte Unparteilichkeit, Gerechtigkeit, Solidarität oder Wahrung der Nachhaltigkeit sind Auslegungen bzw. Konkretionen des sittlichen Standpunkts selbst.
Unparteilichkeit besteht gerade darin, einen Wert nicht nur in partikularer Weise, also zu Gunsten einer bestimmten Person (ich selbst, ein anderer, eine Gruppe) anzustreben, sondern auf universale Weise und so, dass auch – langfristig gesehen – spätere Generationen daran teilhaben können. Gerechtigkeit besteht darin, dieses Prinzip der Unparteilichkeit bei der Verteilung nicht-sittlicher Werte anzuwenden, und niemanden allein deswegen zu bevorzugen oder zu benachteiligen, weil er diese bestimmte Person ist. Solidarität besteht darin, gerade im Blick auf Benachteiligte den Standpunkt der Unparteilichkeit zur Geltung zu bringen, indem man parteilich für Benachteiligte und Hilfsbedürftigen eintritt und ihnen nach Kräften beisteht. Wahrung der Nachhaltigkeit schließlich besteht darin, so zu handeln, dass die jeweiligen nicht-sittlichen Werte auch langfristig – etwa für kommende Generationen – zugänglich bleiben und verwirklicht werden können.
Zu diesen sittlichen Grundwerten, die bereits mit der Einnahme des Standpunkts des Sittlichen enthalten sind, gehört auch die Achtung und Respektierung der Menschenwürde. Denn die Menschenwürde des Anderen zu respektieren, bedeutet gerade, den Anderen nicht nach eigener Willkür und eigenen Zwecksetzungen zu behandeln, sondern so, dass dieser vernünftigerweise zustimmen kann. Dies ist aber gerade dann gegeben, wenn man den Anderen wie auch sich selbst und alle Anderen in universaler Perspektive behandelt und ihn nicht aufgrund dessen, dass er diese bestimmte Person ist, benachteiligt oder bevorzugt. Schließlich kann noch auf einen weiteren fundamentalen sittlichen Wert verwiesen werden: Aus der Einsicht nämlich in eine legitime Pluralität nicht-sittlicher und auch sittlicher Werte und Wertvorstellungen ergibt sich als weiterer Wert die Grundhaltung der Toleranz und Wertschätzung des Anderen.

Christliche Werte

Gibt es auch spezifisch christliche Werte? Dazu lässt sich auf dem Hintergrund der bisherigen Überlegungen sagen: Es mag sein, dass bestimmte sittliche Werthaltungen durch das Christentum in der abendländischen Geschichte zur Geltung gebracht und verbreitet wurden, beispielsweise Solidarität und Hilfsbereitschaft gegenüber Armen und Schwachen, die Achtung der Würde aller Menschen oder auch die Grundhaltung der Demut. Das bedeutet aber nicht, dass auch ihre Werthaftigkeit und Gültigkeit nur im christlichen Glauben einzusehen wären. Vielmehr sind alle sittlichen Werte – ihre Werthaftigkeit und Verbindlichkeit sowie ihr jeweiliger konkreter Gehalt – unter Rückgriff auf Vernunft und Erfahrung zu begründen. Auch um die Gültigkeit des Gebots einzusehen, dass die Menschenwürde unbedingt zu achten ist, muss man nicht zuerst den christlichen Glauben annehmen und an die Gottebenbildlichkeit des Menschen glauben.
Die eigentliche Bedeutung des christlichen Glaubens für das ethische Handeln besteht mithin nicht darin, das Spektrum sittlicher Werte zu erweitern, ihre objektive Gültigkeit durch die Autorität Gottes zu garantieren oder gar ihren Anspruch zu verschärfen, sondern darin, Menschen von der angstgeleiteten Fixierung auf sich selbst zu befreien und sie so zu wahrhaft selbstlosem und mitmenschlichem Handeln zu befähigen. In der Gewissheit, von Gott unbedingt angenommen zu sein, wird es möglich, nicht mehr nur aus der Sorge um sich selbst zu leben und Andere notfalls dem Eigeninteresse und den eigenen Werten zu opfern, sondern grundsätzlich bereit zu sein, unter universalem Gesichtspunkt, das heißt sittlich wertvoll zu handeln. Die christlichen Werthaltungen von Glaube, Hoffnung und Liebe bestehen gerade darin, aus einer solchen Gewissheit zu leben.

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