Hans Henny Jahnn und seine Religion der Kunst und Leiblichkeit Schillernd war die Persönlichkeit des Schriftstellers Hans Henny Jahnn (1894-1959). Sein facettenreiches Leben entfaltet der Autor Jan Bürger mit der jetzt wieder neu aufgelegten und ergänzten Biografie Der gestrandete Wal1. Jahnn war vielseitig begabt: Schriftsteller, Publizist, Orgelbauer und -sachverständiger. Zeitlebens hat er sich mit existenziellen und religiösen Fragen beschäftigt. Er war ein wichtiger Vertreter der Literatur der deutschen Moderne, doch ist sein Werk nie so bedeutend rezipiert worden wie das manch anderer Zeitgenossen. Die bleibende Bedeutung von Mensch und Werk wurde bei der Eröffnung der Elbphilharmonie 2017 in seiner Heimatstadt Hamburg in Erinnerung gerufen, als der Komponist Wolfgang Rihm dem Schriftsteller die Komposition Reminiszenz widmete, eine für das Leben Jahnns nahezu emblematische Uraufführung in der großen Halle mit der imposanten Konzertorgel. Musik, Instrument und Umgebung hätten Hans Henny Jahnn gefallen. Gerade die Orgel, die Königin der Instrumente, das Instrument der Metaphysik, war ihm eine große Leidenschaft und nicht von ungefähr ergeben sich schon aus der Vorliebe für dieses Instrument mannigfaltige Bezüge zur Religion.
Religiosität spielte in Leben und Werk des Autors eine große Rolle und es ist Bürgers Verdienst, das in der umfangreichen Biografie akribisch herausgearbeitet zu haben. Da ist die ständige Verbindung zwischen dem, was Jahnn lebt und liebt und dem, was er schreibt. Leben und Werk zeigen das Ringen, die Suche und die Sehnsucht nach dem, was das individuelle Leben übersteigt. Viel Platz widmet Bürger deswegen dem Kreisen Jahnns um den Glauben, wie er die Dualität von Leib und Seele ablehnt und gar mit einer kleinen Art Gleichgesinnter eine Art Religionsgemeinschaft als künstlerisches Projekt in der Lüneburger Heide konstruiert und zu leben versucht. Das alles erscheint dem Leser in der Retrospektive wie ein Leben auf einem anderen Stern, ist aber doch ein Widerhall der Moderne und ewige Expression des Ringens jeglichen Lebens. Jan Bürger führt dies Movens auf das „Empfinden der eigenen körperlichen Unvollkommenheit“ Jahnns zurück und zeigt ihn als einen suchenden, mit sich, der Natur, den Mitmenschen und dem Glauben ringenden Menschen. Mehr als deutlich wird das in Jahnns Drama „Pastor Ephraim Magnus“ (1919), einem Text, der dem Ringen Luthers um einen gerechten Gott und eine adäquate Moral entspricht und Jahnn 1920 Umschau 66 den Kleist-Preis einbringt. In dem Stück findet sich alles, was die Ambivalenz der Religion ausmacht, inklusive Scheitern und Negation. Klaus Mann kommt in einer Rezension 1926 zu dem Ergebnis: „Wie unbarmherzig hier die Menschen miteinander sind, wie äußerst hoch die Anforderungen, die sie an sich und andere stellen, damit verglichen geht es bei Strindberg mild und freundschaftlich zu – aber das Ziel, um dessentwillen sie sich martern, ist Gott, die Sucht, ihn zu erreichen, aufzugehen in ihm ist die Rute, die sie vorwärts peitscht. Der Weg zu Gott geht durch die Qual, ist ihre erste Erkenntnis. Aber das wäre noch zu gelinde, sie müssen weiter erkennen: Gott selbst ist die Qual.“
Um der Qual des christlichen Gottes zu entgehen, konstruiert Jahnn seine eigene Religion Ugrino, die sich ästhetischen Regeln unterwirft, Bestattungsriten vorschreibt, ihren Ausdruck in besonderen Bauten finden soll. Ugrino soll eine Religion der Architektur, der Kunst, des Rituals, der erotischen Liebe, des Aufbegehrens gegen die gesellschaftliche Norm der Geschlechteridentitäten und als Plattform für künstlerische Versuche werden. Vor allem aber wird die künstlerische Religion ein Spiegelbild der Liebe Jahnns, anders gesagt, die Erkenntnis, (homophile) Liebe wird erst als göttliche Gnade verstanden und mutiert dann zum Glaubensausdruck, insbesondere zum Jugendfreund Gottlieb Harms. „So maßlos ist das Glück […] und das gab uns Gott[…]“, ruft Jahnn enthusiastisch aus.
Das alles geschieht im Prozess. Nach einer Phase der starken Identifikation mit der ihm bekannten evangelischen Kirche beginnt eine Phase der Entfernung. Nach der anfänglichen Identifikation mit dem Christentum, wie Bürger mit Verweis auf die Quellen berichtet, beginnt dann ein zunehmender Zweifel. Im Tagebuch formuliert Jahnn dazu: „Eins aber habe ich verstanden, daß mir die Kirche ein wenig eng ist, und dass ich wieder einmal meinen Weg gehe. – Soll ich es nicht? Soll ich mich einpressen lassen in Worte und Gesetze, die Menschen schaffen? […] Soll ich von neuem mir ins Hirn einen strengen, richtenden Gott pflanzen und zu ihm schreien, damit er mich nicht zertritt?! – O, lieben kann – ich solchen Gott nicht./ Was maßen sich die Menschen an über Gott zu reden, als wenn sie seinen Sinn verstanden hätten!/Was wissen sie von Hölle und Tod und von der Seele!/ Ahnen sie, was die Ewigkeit ist? Durch eine Sekunde, denn länger währt ja unser Leben nicht, sollen wir das Los uns für die Ewigkeit bestimmen?/Mir scheint es so, als hätten die, die das behaupten noch nichts von Gott begriffen, noch nie gefühlt, daß sie mehr als ein Klumpen Fleisch sind – und weniger als ein Grashalm in ihrer Schuld.“ Während des Norwegenaufenthaltes zur Zeit des Ersten Weltkriegs befindet sich Jahnn in einer religiösen Umbruchsituation. Das Christentum seiner Kindheit schüttelt er ab, sucht nach einem Ersatz. Er polemisiert gegen die Leibfeindlichkeit und sieht die Inkarnation als göttlichen Versuch, dem Leib die nötige Ehre zukommen zu lassen. Gerade in Bezug auf das Verhältnis von Seele und Leib hat Augustinus die Kirchenlehre über Jahrhunderte geprägt und prägt sie bis heute. In einem Brief schreibt Augustinus, die Seele sei wahrlich „mehr zu lieben als der Körper“. Der Weg zur Seelenliebe bedeute die Überwindung der Sinnlichkeit. Denn: „Wenn aber der Reiz, den die sinnlichen Dinge ausüben, übermächtig wird? Dann muss man dafür sorgen, dass sie ihn verlieren.“ Diese Askese steigert sich zur Leibfeindlichkeit, die das Christentum lange Zeit ausmacht und auch heute noch prägt. Jahnn musste, in der Auseinandersetzung mit seiner eigenen Sexualität, an diese Grenze kommen. Seine Suche war weniger die nach einem persönlichen Gott, als vielmehr nach einer Form der Transzendenz, die seiner Vorstellung von Ästhetizismus in der Vorstellung und der Materie und unbedingter Annahme der Existenz entsprach.
Gott wird bei Jahnn vom Objekt zum Subjekt der Kunst. Der Protest gegen die Leibfeindlichkeit impliziert seine Auflehnung gegen die Vergänglichkeit, die sich am Leib so offenkundig zeigt. Jahnn sucht nach Ewigkeit, sieht einen Weg in den Abbildungen der Kunst. Er war nach Selbstaussage Heide, kein Atheist. Die Unterscheidung ist wichtig, da sie nicht mit einer Negation einer Gottheit einhergeht, sondern nur das profilierte christlich-jüdische Gottesbild ablehnt. „Gott“, so sagt Jahnn, „ist“, aber: „ist fern von uns, und dennoch glauben wir Seinem Ziel und Seiner Schöpfung, Zweck und Mittel.“ Als da bleiben ewige Liebe, Auflösung der Dualität von Leib und Seele, Gotteserfahrung durch Leiblichkeit. „Jeder muss sich seine Religion selbst bauen, jeder muss sich mit seinem Gott aussöhnen. Doch nach dem Tode gibt es kein Glauben und Hoffen mehr, nur Leben. Das Menschlich [sic!] Leben liegt vor dir, es wird dich erziehen. Nur den Rat möchte ich dir geben, suche die Gottheit nicht in fernen Welten.“ Das ist eine Theologie, wie wir sie in jüngster Zeit ähnlich formuliert bei Gianni Vattimo wiederfinden, der die leibliche und göttliche Dimension der Inkarnation betont, dabei die klassische Dogmatik ablehnt und als oberstes Prinzip die Caritas anerkennt, die freilich bei Jahnn die leibliche erotische Liebe einschließt. Die Menschen übernehmen hier eine weitaus aktivere Rolle, als sie besonders in der lutherischen Theologie mit dem bereits vorhandenen Gnadenakt Gottes vorgesehen ist. Jahnn: „Die Hilfe kommt von Gott, und dennoch ist sie ganz in unsre Hand gelegt.“ Der Mensch wird in seiner Ganzheit zum Objekt und zum Subjekt des Glaubens. Jahnn wurde diese Erkenntnis zum Antrieb so mancher Schriften und Experimente, wenn man Ugrino unter diese Kategorie stellen kann. Ugrino war kein Erfolg beschieden, was Jahnn umtrieb, ging tiefer. Jan Bürger kommt deswegen zu einem besonderen Fazit in Bezug auf Jahnns Ringen um Transzendenz: „Zum einen ging es ihm um eine radikale Abkehr von den christlich-jüdischen Religionsgemeinschaften, zum anderen hielt er es für unausweichlich, sich die Frage zu stellen, wie Gott das Zerstörerische, die Ungerechtigkeit der Schöpfung dulden kann“. Diese Fragen stellen der Pazifist und der Künstler, der politisch und künstlerisch gegen den Tod des Leibes und der Sehnsucht aufbegehrt. Das Leben Jahnns steht bezeichnend dafür.
In einer Zeit des neuen Ringens um Religion, in der die Frage nach dem Dualismus von Leib und Seele, der Rolle der Geschlechter und die Rolle der Kunst erst recht dem Ringen zwischen Dogma und Wirklichkeit unterworfen ist, kann die schillernde Biografie Hans Henny Jahnn auch heute noch die Reflektion inspirieren.