Wie ein Duft, der aus dem verlorenen Paradiesgarten herüberweht, streift uns die Nachricht vom gepriesenen Frieden. Wir sind so frei, das Wort „Friedenspreis“ erst einmal performativ zu verstehen, also als einen Lobpreis des Friedens! Wieder in der Bahn denken wir natürlich an die große Ehrung des Landes, an den herbstlichen Höhepunkt der Frankfurter Buchmesse. Der Preis wird in der Paulskirche verliehen, einem, ja dem denkwürdigen Ort des Gedenkens im Land. Seit er das erste deutsche Parlament beherbergte, ist er keine Kirche mehr, sondern der Resonanzraum säkularer und tatsächlich oft denkwürdiger Reden. Hier hat der liebenswerte Moslem Navid Kermani, als man ihn feierte, das Publikum tatsächlich noch einmal zum Beten gebracht. Das werden wir in Erinnerung behalten. Diesmal wird erstmals ein Menschenpaar geehrt, auch sie Nachkommen der ersten Eltern in einer nachparadiesischen Welt voller Schrecken: Aleida und Jan Assmann.
Gesegnet mit fünf Kindern sind sie, jede und jeder für sich, Sterne der Gelehrsamkeit. Sie eine Anglistin und er ein Ägyptologe, aber beide mit einem weiten und immer weiteren Horizont. Gemeinsam und jede und jeder für sich haben sie das Erinnern und das Vergessen als ihr großes Thema entdeckt und auf unterschiedlichen Pfaden verfolgt. Mnemosyne, das Gedächtnis, erfreute sich dabei immer wieder der Gesellschaft der Musen. Literatur kann etwas heraufspiegeln aus dem tiefen Brunnen der Vergangenheit, und Musik will im Gesang von Opern und Oratorien das Gewesene unvergänglich machen. Vergeblich vielleicht – aber was wären wir ohne diese Zauberklänge?
Die gelehrte Tochter eines Gelehrten
Aleida Assmann ist Tochter des bedeutenden Neutestamentlers Günther Bornkamm, der die Methode der Redaktionsgeschichte voranbrachte, und trotz Albert Schweitzers ernüchterndem Resumé der „Leben-Jesu-Foschung“ in der Spur Rudolf Bultmanns an der historisch-kritischen Exegese festhielt. Aus dem 19. Jahrhundert klang noch Leopold von Rankes Leitspruch herauf, aufzeigen „wie es eigentlich gewesen ist.“ Wer den historischen Jesus vom Christus des Glaubens, wer die Fakten von Fiktionen scheiden wollte, musste die Texte, aus denen das Licht von Ostern leuchtete, mit spitzen Fingern anfassen. Das Licht von Ostern kann in der Tat nicht in Lux gemessen werden. Auf der Basis einer Trennung von Ereignis- und Gedächtnisgeschichte ist der wertende Blick schnell bereit, erstere als maßstäblich und letztere als fiktional verzerrt anzusehen.
Die Frage, wie sich beide zueinander verhalten, war Aleida Assmann, geborene Bornkamm, also bestens vertraut. Aber sie drehte an der Schraube. Als Literaturwissenschaftlerin befasste sie sich mit fiktionalen Texten, die von Anfang an mehr wollen als nur zu erzählen, „wie es eigentlich gewesen ist“. Das Thema ihrer Dissertation lautete „Die Legitimität der Fiktion“. Wenn Schriftsteller nicht in fernen utopischen Welten spazieren gingen, widmeten sie sich der Vergangenheit, waren „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ (Proust) oder wollten wie Winfried Georg Sebald den Spuren nachgehen, welche Austerlitz oder gar Auschwitz hinterlassen hatten. Spurenlesen: In der Spur wird das Gedächtnis zum Objekt. Das wird für den, der sie liest, zum Ereignis.
Aleida Assmann zitiert gerne Richard von Weizsäcker, der in seiner Rede vom 8. Mai 1985 eine ideenpolitische Wendemarke setzte, indem er den chassidischen Weisen Baal Schem Tow mit dem Wort zitierte: „Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung. Vergessen verlängert das Exil.“ Zitieren erzeugt Erinnerung. Im Zitieren zeigt sich die Sprache von ihrer faszinierendsten Seite. Sie verweht nicht im Wind wie sonst immer, sondern belebt neu, was einst aufgeschrieben war. So wird es nicht vergessen. Manchmal scheint es, als könne die Schrift die Zeit besiegen. „Wer schreibt, der bleibt“ – so lautet ein alter Kaufmannsspruch.
Aber die Schrift ist nicht das einzige Medium einer Gedächtniskultur. Wenn Nationen oder Religionen dem Gedenken eine prägende Gestalt geben, weisen sie Schauplätze und Erlebnisräume aus, bauen Tempel, Kirchen, Denkmäler und Museen, Installationen, die der Zeit etwas entreißen wollen. Manche Bibliotheken bewahren Bücher, von denen nicht sicher ist, ob sie je eines Menschen Auge noch einmal erblickt. Und was ist erst mit den neuen Datenspeichern im Netz, die schlechterdings alles konservieren? Sie wachsen exponentiell mit unbegrenzter Kapazität. Aleida Assmann kann am grundlegenden Unterschied zwischen Speichern und Erinnern klarmachen, wie sehr es darauf ankommt, auszuwählen. Wo alles gespeichert wird, werden Vergessen und Erinnern zu einem Pensum: Woran wollen wir, woran sollen wir uns erinnern? Was dürfen, was wollen wir vergessen? Was darf auf keinen Fall vergessen werden?
Grabung in Ägypten
Ein weites Feld für den Typ des Gelehrten, der nicht nur sammeln und speichern, sondern der Erinnerung Richtung und Ziel geben will. So jemand muss als Philologe anfangen wie Jan Assmann, der erst einmal Griechisch studierte, bevor er, vielleicht von Herodot neugierig gemacht, Ägyptologe wurde. Hier ist er bestens ausgewiesen. Die Liste seiner Publikationen ist beeindruckend lang. Nirgends wird das organisierte Gedenken besser konserviert als im heißen Sand der uralten Kultur am Nil. Ägyptologen müssen Philologen sein. Sie befassen sich mit Inschriften und Papyri und sie übersetzen. Jan Assmanns Übertragungen werden nicht nur wegen ihrer Genauigkeit, sondern auch wegen ihres eleganten Stils geschätzt. Aber Ägyptologen graben nicht nur im übertragenen Sinn in alten Texten, sondern sind auch wirklich als Archäologen unterwegs. Anno 1968, als auch hierzulande ein heißer Wind blies, befasste sich Jan Assmann in Theben-West mit Beamtengräbern des späten Neuen Reiches. Dort lernte er die Studentin Aleida Bornkamm kennen, die dort ebenfalls ihren Horizont erweiterte, auch um ihn, Jan Assmann. Noch im selben Jahr wurde geheiratet.
Gemeinsam entwickelten sie das Programm der Gedächtnisgeschichte, durchaus verwandt mit der in Konstanz entstehenden Rezeptionsästhetik, die den Blickwechsel zwischen den Lesern und den Verfassern literarischer Texte untersuchte und, ähnlich wie Umberto Ecos „Lector in fabula“, entdeckte, dass der gedachte Leser im Kopf des Schriftstellers schon mitgeschrieben hatte, was der wirkliche Leser am Ende vor Augen hat. Gedächtnisgeschichte umfasst aber nicht nur Texte, sondern das gesamte Ensemble kultureller Objektivationen. Umberto Eco hat noch eine weitere Pointe geliefert. Sie betrifft die Damnatio memoriae, den Mordversuch am Gedenken. Wenn die Taten und das böse Erbe eines Menschen gefährlich oder hassenswert erscheinen, dann wäre es doch am besten, es hätte ihn überhaupt nicht gegeben. Dies wäre nach seinem Tod dann erreicht, wenn alle Spuren und vor allem sein Name ausgelöscht werden könnten. Die Vernichtung des Namens bedeutet nach altägyptischer Auffassung den zweiten, den eigentlichen Tod. Ecos Erkenntnis ist paradox. Gerade die Anstrengungen, etwa eine Namenskartusche auszumeißeln, zieht erst recht die Aufmerksamkeit auf sich und bewirkt so das Gegenteil dessen, was beabsichtigt war. An die Pharaonin Hatschepsut erinnern wir uns daher besser als an die meisten ihrer Vorgänger. Alle Versuche, Spuren zu vernichten, hinterlassen neue Spuren und machen neugierig, wo doch vergessen werden sollte. Das Vergessenmachen kannst Du vergessen – „Forget it!“ So lautet der witzige Aufsatztitel Ecos.
Die folgenreichste Intervention des Ägyptologen Jan Assmann, die ihn zum Initiator der großen, noch immer anhaltenden Monotheismus-Debatte machte, versteht man erst so richtig, wenn man an die ideenpolitische Großwetterlage der 80er- und 90er-Jahre erinnert. Anno 1979 war die atavistische Prophetengestalt des Ajatollah Chomeini im Triumph in den Iran zurückgekehrt und hatte eine beispiellose Renaissance des radikalen Islam ins Werk gesetzt, die nicht auf die schiitische Hemisphäre beschränkt blieb, sondern nach und nach auf die gesamte islamische Welt übersprang. Schon lange vor dem spektakulären Anschlag von 9/11 wurde religiös motivierte Gewalt wieder zu einem anschwellenden Thema. Auch die Christen, vor allem jene, die in der Selbstzerknirschung als sündige Sünder sich erst so richtig in Position brachten, um vom göttlichen Gnadenstrahl erfasst zu werden, bekannten eifrig ihre Schuld – wenn nicht ihre eigene, so doch die ihrer Vorfahren, der Kreuzfahrer und der konfessionalistischen Glaubenskrieger der Frühen Neuzeit. Und waren nicht mitten im zwanzigsten Jahrhundert in Nordirland und auf dem Balkan tatsächlich wieder Religionskriege ausgebrochen? Die Friedensbewegung in der westlichen Welt war seit dem Vietnamkrieg erstarkt und erhielt durch kleinere Konflikte immer neue Gründe. Auch wenn kirchliche Kreise hier einen speziellen Eifer an den Tag legten, breitete sich in der intellektuellen, mehr und mehr agnostisch geprägten Klasse, in Universitäten, Feuilletons und Lehrerzimmern ein Bauchgefühl für die Schädlichkeit von Religion aus. Religion ist eine Quelle von Krieg und Gewalt, vor allem dann, wenn sie davon überzeugt ist, dass sie – um mit Nathan dem Weisen zu sprechen – den einzig wahren Ring besitzt.
All dies musste Jan Assmann mit keinem Wort erwähnen, um mit seinem Buch „Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur“ die volle Aufmerksamkeit des Publikums zu erfahren, denn hier ging es um Gewalt. Moses war die sagenhafte Gründerfigur des biblischen Monotheismus. Der eine und einzige Gott war eifersüchtig und duldete keine anderen Götter neben sich. JHWH – der wahre Gott – und die falschen Götzen: Die „Mosaische Entgegensetzung“ beruhte, so Jan Assmann im ersten Anlauf, auf der Entgegensetzung von wahr und falsch.
In der intellektuellen Klasse war man nur allzu gerne bereit, den biblischen Monotheismus als einen kapitalen religionsgeschichtlichen Sündenfall zu betrachten. Hätte es ihn nicht gegeben, ginge es friedlicher zu auf der Welt. War nicht mit dem biblischen Monotheismus tatsächlich erstmals eine Religion mit dem dezidierten Anspruch aufgetreten, die einzig wahre zu sein? In kulturrelativistischen Zeiten glaubte man an den Plural. Unter Toleranz verstand das Justemilieu die Äquidistanz zu allen Religionen, jeder Wahrheitsanspruch war hochtoxisch. In den Wellnesszonen der Hotels und in den Friseursalons vermehrten sich die
Buddhafiguren, in den Baumärkten ersetzten sie die Gartenzwerge. Das alles ist gewiss nicht die Frequenz Jan Assmanns, charakterisiert aber vielleicht doch einen Echoraum. Etwas weniger polemisch gesagt, er traf mit seinem Buch einen Nerv des Zeitalters.
Ein Stichwort für Assmanns Buch hatte kein geringerer als Sigmund Freud mit seinem letzten großen Buch von 1939, „Der Mann Moses und die monotheistische Religion“, geliefert. Hier besorgte sich Jan Assmann einen Forschungsauftrag. Freud hatte eine Verbindung zwischen dem Sonnen-Monotheismus des Pharaos Echnaton und dem „Mann Moses“ gesehen. Historiker hatten das bezweifelt. Aber wo keine direkten archäologischen oder literarischen Belege vorlagen, da half womöglich die Gedächtnisgeschichte?
Der große Sprung: Von Echnaton zu JHWH
Zur Entstehungsgeschichte des Monotheismus gehört die faszinierende Gestalt des Pharaos Echnaton, der nicht in den Königslisten der ihm nachfolgenden Dynastien auftauchte: Damnatio memoriae – sein Name war ausgelöscht worden. Da nimmt ein Gedächtnisgeschichtler Witterung auf. Die Verketzerung und die Auslöschungsversuche mussten doch Spuren hinterlassen haben.
Echnaton war erst nach und nach, vor allem mit der späten Entdeckung seiner neu gegründeten Hauptstadt Amarna, in den Lichtkegel der Ägyptologie geraten. Sensation machte die Ausgrabung Ludwig Borchards Anno 1912. Er entdeckte die Werkstatt des Künstlers Thutmosis und sicherte sich die Büste der Echnatongattin Nofretete. Das Königspaar verehrte als einzigen Gott den Strahlenaton, die Sonne. Über die Episode von Amarna, ihre expressive und alteritäre Kunst, über die neue Religion Echnatons, über seinen Verzicht auf kriegerische Aktivitäten, spekuliert neben der Wissenschaft seitdem die beflügelte Phantasie vieler spirituell Erweckten. Da hatte ein Herrscher die Wärme und Licht spendende Sonne als einzige Gottheit verehrt und war dafür nach seinem Tod 1335 v. Chr. zum Ketzer erklärt worden. Sein Name sollte vergessen gemacht werden. Das aber hinterlässt, wie man bei Umberto Eco lernen konnte, Spuren.
Jan Assmann führt in seinem Buch eine Art Indizienbeweis, dass tatsächlich das Gerücht von der monotheistischen Ketzerei bis zu „Moses dem Ägypter“ gelangt sein könnte. Die wahrscheinlich wichtigste Botschaft des Buches bestand in dem Hinweis, dass mit der „Mosaischen Unterscheidung“ ein Qualitätssprung in der Religionsgeschichte verbunden war. Zum ersten Mal hatte die Welt einen Referenzpunkt, ja mehr als das: Ihr stand ein einziger Gott gegenüber, der sie, wie die Bibel in Gen 1 feierlich berichtet, in sechs Tagen geschaffen hatte. Das erst war das wirklich Neue. Damit war die Welt eine andere geworden, denn sie hatte in diesem Gegenüber eine Instanz, die sich folgenreich bemerkbar machte. In dieser hoch bedeutsamen Innovation lag der entscheidende Unterschied zu Echnaton. Dessen Strahlenaton war zwar die spektakulärste Singularität des Kosmos, aber doch noch ein Teil von ihm. In Gen 1,18 befestigt der Schöpfer die Sonne neben dem Mond als Leuchte am Firmament. Aus JHWHs Verhältnis zur Welt als ihrem Schöpfer und Gegenüber ergab sich, dass er in der Welt selbst als Phänomen nicht vorkam. In der empirischen Wirklichkeit war er nicht zu besichtigen. Er war unsichtbar, und von ihm durfte es kein Bildnis geben. Das Bilderverbot war für Kant, („…vielleicht gibt es keine erhabenere Stelle im Gesetzbuch der Juden“) und viele andere Philosophen, auch noch für Adorno, das kostbarste Juwel aus einem biblischen Erbe, das man sonst eher als Quelle des Obskurantismus beiseite setzte. Auch für Sigmund Freud ist die Unsichtbarkeit Gottes ein „ein Triumph der Geistigkeit über die Sinnlichkeit“. Wenn das Bilderverbot eine Konsequenz der Kritik an den „von Menschenhand gemachten“ Götzenbildern ist, dann gibt es tatsächlich in der Religion wie auch sonst überall einen Fortschritt, einen „Fortschritt in der Geistigkeit“ (Freud).
Andere Religionswissenschaftler hatten Ähnliches behauptet. Auch Theo Sundermeier hatte wie Assmann in der neuen Religion Israels eine „Sekundärreligion“ gesehen, die sich ihre Identität über die unterscheidende Kritik an der normalen polytheistischen Umgebung mit ihren „von Menschenhand gemachten“ Götterbildern besorgt hatte. Der eigentliche Aufreger des Buches, der auch als Auslöser der großen Monotheismus-Debatte gelten kann, bestand in Assmanns steiler These, mit der Mosaischen Unterscheidung sei erstmals in der Religionsgeschichte eine Religion zu einer Quelle der Gewalt geworden, und zwar mit der klaren Unterscheidung von wahr und falsch. In der Exoduserzählung ließen sich dann auch eindrucksvolle Gewaltexzesse finden, mit denen Assmann seine Kernthese bebildern konnte.
Die Debatte beginnt
Natürlich gab es Einsprüche. „Moses der Ägypter“ löste eine breite und lebhafte Debatte aus. Für Assmann, den Gentleman-Wissenschaftler, spricht, dass er selbst eine Sammlung mit kritischen Stimmen, die er ernst nahm, herausgab. Schließlich entwickelte und modifizierte er seine These so, dass er wirklich nicht in den Verdacht geraten konnte, zu behaupten, mit Israel sei das Böse in die Welt gekommen. Unter den gewichtigen Büchern, die seitdem erschienen, tritt „Exodus. Die Revolution der alten Welt“ einem solchen Eindruck am entschiedensten entgegen. Dieses magistrale Werk geht dem Exodusmotiv mit maßstäblicher Gelehrsamkeit nach. Jeder liberale Jude wird das Buch, das einen „Monotheismus der Treue“ feiert, mit großer Zustimmung lesen, und wer nicht zum Gottesvolk gehört immerhin mit Respekt: ein exemplarisches Beispiel für das, was Hans Blumenberg unter „Arbeit am Mythos“ verstand.
Aber das Thema Religion und Gewalt und das Verhältnis von „Herrschaft und Heil“ war für Jan Assmann noch längst nicht erledigt. Auch die sagenhafte Mosesgestalt blieb ein Faszinosum. Musikbegeistert wie man im Hause Assmann ist, wurde mit seinem Oratorium „Israel in Egypt“ auch Georg Friedrich Händel in den Zeugenstand der großen Gedächtnisgeschichte gerufen. Auch der brillante Essay „Die Mosaische Unterscheidung in Arnold Schönbergs Oper Moses und Aron“ zeugt von der Musikalität Jan Assmanns, ist aber auch ein Dokument für einen tief wurzelnden und anhaltenden Konflikt. Er hat mit einer alten Frage zu tun, die bis in die Reformationszeit zurückreicht. Dort wurde die scholastische Philosophie der alten Kirche unter den Verdacht der Werkgerechtigkeit gestellt. Seither pflegt eine bestimmte Theologie einen Soupçon gegen das Regiment von Vernunft und Philosophie. Auch seien biblischer Offenbarungsglaube und griechische Philosophie einander zutiefst fremd und die hebräische Sprache unfähig zur Abstraktion. Johann Gustav Droysen, Adolf von Harnack und andere mögen auch noch von einem konfessionellen Distiktionsbedürfnis gegenüber der katholisch-anselmianischen Tradition bewegt worden sein, in der Glaube und Intellekt geschwisterlich vereint waren. In nunmehr ökumenisch gestimmten Zeiten hat allerdings Christoph Markschies, der wohl einflussreichste evangelische Kirchenhistoriker, eine bemerkenswerte Wende eingeleitet und die „Hellenisierung des frühen Christentums“ positiv gedeutet. In der Tat ist das Christentum innerhalb einer hellenistischen Leitkultur entstanden. Das sieht jeder, der die Bauformen der Synagoge von Kapharnaum, in der Jesus predigte, betrachtet. Das Neue Testament ist auf Griechisch verfasst. Die Septuaginta, die griechische Übersetzung der hebräischen Bibel war da schon über 200 Jahre alt.
Mit der Analyse von Schönbergs Oper bewegt sich Jan Assmann im Jahr 2005 noch im Wirkungsschatten der älteren Tradition. Arnold Schönberg hatte die schon in der biblischen Vorlage hochdramatische Erzählung vom goldenen Kalb und Aarons Verstoß gegen das Bilderverbot in die Konsequenz getrieben und daraus einen Medienkonflikt gemacht, der am Ende des zweiten Akts in dem Schlüsselsatz gipfelt: „Oh Wort, Du Wort, das mir fehlt!“ Auch für die Schrift galt das Bilderverbot! Auch sie war dem Ikonoklasmus verfallen. Assmann: „Wenn einmal das Bilderverbot der Bibel in den Bannkreis des griechischen Denkens gerät, […] dann gerät über kurz oder lang der anthropomorphe Gott der Bibel selbst in den Strudel eines radikalen Ikonoklasmus, dem jede positive Bestimmung des Göttlichen zum bloßen Bild wird und der Zerstörung anheimfällt. Monotheismus ist Aufklärung, und Aufklärung ist Ikonoklasmus.“ Assmann sieht den Moses Schönbergs „in einen Abgrund negativer Theologie“ versinken. Diese setzt er in einen Gegensatz zu einer „positiven Theologie der Offenbarung“.
Wer die entscheidenden Offenbarungserzählungen der Bibel einer hermeneutischen Analyse unterzieht, wird feststellen, dass sie allesamt ein Moment von Vorenthaltung auszeichnet. Das Prädikat „negative Theologie“ führt dabei regelmäßig in die Irre, vor allem dann, wenn dieser ein im Grunde fundamentalistisches Verständnis von positiver Offenbarung gegenübergestellt wird. Vielmehr hat man es, bei Licht besehen, immer mit einer Simultaneität von Präsenz und Entzug zu tun. Das muss auch so sein. Der Gott des alten Israel ist, zumindest nach dem babylonischen Exil und wahrscheinlich noch nicht zur Zeit des sagenhaften Exodus, eine ontologische Singularität, eine Wirklichkeit sondergleichen. Auch sein Name ist singulär. Es gibt keine philosophischere Buchstabenfolge als das Tetragramm JHWH. Da wird das pure Dasein als Name ausgerufen. Was für eine Abstraktionsleistung! Sicher bildete man im alten Israel keine abstrakten Begriffe wie die Griechen. Seine Erzählungen entwickeln aber ein Handlungs- und Faktensprechen, dessen Gehalt an philosophischen Fragen und Aussagen sich schwer übertreffen lässt. Und der Gottesname ist sein Allerheiligstes, das er aus Ehrfurcht nicht in den Mund nimmt.
Für den Fortgang der Monotheismus-Debatte wird viel davon abhängen, ob der philosophische Gehalt der Bibel, vor allem die Kritik an den selbstgemachten Götzen, im Kern akzeptiert wird. Für einen Ägyptologen, der sich für die Ma´at und die tiefe Weisheit der alten Kultur am Nil begeistert hatte, ist eine Polemik, mit der sich etwa (Deutero-)Jesaia (Jes 44,9-20) über die Dummheit der Götzenbildner hermacht, nicht fair. Das ist verständlich. Natürlich gab es auch kluge Verehrer von Kultbildern, die um den Unterschied zwischen dem Bild und dem, was es darstellen sollte, wussten. Aber wie polemisch die Anwälte des Bilderverbots auch verfuhren – hatten sie nicht im Kern recht? Hatte nicht auch Freud recht, der vom „Fortschritt in der Geistigkeit“ sprach?
Aufhorchen lässt, dass Assmann inzwischen die Themen Monotheismus und Gewalt entkoppelt hat. Dabei spielt der Gegensatz von wahr und falsch nicht mehr die entscheidende Rolle, sondern der Gegensatz von Freund und Feind, von Wir und die Anderen. Lustvoll gewalttätige Horden von Hooligans brauchen für das Wir nur ein Vereinstrikot. Ob allerdings der gegenwärtige Fußballhype schon religiöse Züge trägt – das wäre ein anderes Thema, das auch ohne Moses den Ägypter verhandelt werden könnte.