In jüngster Zeit taucht in der französischen intellektuellen Szene der Name Charles Péguy (1873-1914) vermehrt wieder auf. Der Rückgriff auf einen katholischen Denker, der dem renouveau catholique zugerechnet wird, ist bemerkenswert, ähnlich wie bereits die Tatsache, dass Michel Houellebecq in seinem bekannten Roman „Unterwerfung“ auf katholische Autoren der vorletzten Jahrhundertwende wie Leon Bloy und Joris-Karl Huysmans zurückgriff.
In Deutschland gibt es in interessierten katholischen Kreisen eine Spur der Péguy-Rezeption, die niemals ganz abgebrochen ist. Hans Urs von Balthasar hat daran mit seiner Übersetzung von Péguys Dichtung „Das Tor zum Geheimnis der Hoffnung“ (Einsiedeln 1993) einen entscheidenden Anteil. Dieses 1911 entstandene, groß angelegte und großartige Gedicht stellt in ergreifenden Worten die zweite göttliche Tugend in Gestalt eines kleinen Mädchens dar, die zwischen ihren beiden großen Schwestern Glaube und Liebe steht und geht. Der Text gilt als eine vollendete Fassung des Péguyschen Stils, der durch einkreisende Wiederholungen, überraschende Einschübe sowie eine ausgeklügelte typographische Darstellung charakterisiert ist. Das Gedicht endet mit dem wunderbaren Hymnus an die Nacht: „O schöne Nacht, Nacht mit wehendem Mantel, meine Tochter im Sternenmantel“. Nicht die Taghelle ist für Péguy der Ort der Vollendung, sondern das Verschwinden der taghellen, „klaren und deutlichen“ Einsichten im Einbrechen der Nacht. „Die Nacht allein ist ununterbrochen. Die Nacht ist Gewebe. Und der Tag öffnet darauf nur windige Löcher und Ausfalltore.“ Die Nacht legt ihren sternebesäten Mantel über die ganze Schöpfung, hütet und „bettet“ deren unergründlichen Geheimnisse, lässt Widersprüche gelten und verleiht der „raison du coeur“ (Blaise Pascal) die Zeit und die Freiheit mystischen Erkennens.
Der Kapitalismus erhebt sich zu einer Religion
Der in Paris lebende Kulturjournalist und Essayist Joseph Hanimann hat sich neuerdings in einer brillanten Ausarbeitung wieder Charles Péguy zugewandt (Der Unzeitgenosse: Charles Péguy. Rebell gegen die Herrschaft des neuen. München 2017). Durch den mitlaufenden Vergleich mit Karl Kraus, einem anderen großen Zeitschriftengründer der vorletzten Jahrundertwende, stellt Hanimann eine Perspektive aus dem deutschsprachigen Raum dazu: Péguys Kindheit, seine Hinwendung zum Sozialismus, dann die Hinwendung zum Katholizismus als vertiefter Gestalt des Sozialismus, das Schlüsselereignis Affäre Dreyfus – Charles Péguy war einer der radikalen Dreyfusianer, die von Anfang an die antisemitische Spitze dieses Vorfalls durchschaute und sich für Dreyfus einsetzte –, die Geburt des Typs des „Intellektuellen“, schließlich die Kriegsbegeisterung und der Eintritt in den Krieg, der zu seinem Schicksal wurde. 1914 fiel Charles Péguy und hinterließ mit der von ihm gegründeten Zeitschrift, „Cahiers de la Quinzène“, deren Hauptautor er auch war, ein großes Lebenswerk.
Péguys Denken ist geprägt von der Spannung zwischen politischer Theorie und dem Schicksal der Einzelperson. Im Dilemma zwischen Verrat an der Loyalität zur Theorie und dem Verrat am Schicksal der Einzelperson (siehe Dreyfus) entscheidet er sich für den Vorrang der Einzelperson. Wirklichkeit lässt sich für Péguy nicht in vorgegebenen Theorien und Hypothesenmustern einfangen. Wer sich ihr nähern will, muss eine „stillschweigende Komplizenschaft“ mit ihr eingehen, „zwischen dem, was schwierig, unentwirrbar, widerspenstig, und dem, was wirklich ist“ (Hanimann, 213). Die entscheidende soziale Bruchlinie sieht er nicht so sehr zwischen Reichen und Armen, sondern vielmehr unter denen, die in der Gewissheit ihrer Menschenwürde leben und denen, die „verstoßen“ sind. Bei ihnen steht das Menschsein selbst auf dem Spiel. „Dieses Jahrhundert gibt sich atheistisch und ist es keineswegs, es ist autotheistisch (Péguy, zitiert nach Hanimann, 216). Indem sich der Monotheismus in der Moderne zur Vergöttlichung des Selbst übersteigt, erhebt sich der Kapitalismus zu einer Religion. Alle Vorgänge auf den Märkten können mit metaphysischen Kategorien beschrieben und entlarvt werden.
Péguys spätere Vereinnahmung durch die politisch-katholische Rechte in Frankreich, durch Petain und den Faschismus fordert heute dazu heraus, seine Texte mit Unterscheidungsvermögen zu lesen. Katholische Reaktionäre können sich bei ihm bestens an brillant formulierten Zitaten bedienen. Das soll ihnen verwehrt sein. Deswegen ist es erfreulich, wenn Péguy dem vereinnahmenden Zugriff der neuen Rechten entzogen wird und die Würdigung erfährt, die er verdient: Ein Autor jenseits aller Schemata, der sich gerade deswegen als Gesprächspartner bei der Suche nach geistlich-politischer Orientierung in einer Wendezeit eignet, wie wir sie heute erleben.