Europa sei säkularisiert, wird gesagt. Aber auch das Gegenteil ist zu hören: Die Säkularisierung sei am Ende, und Religion sei wieder da, mit Macht. Was stimmt? Und ist das – je nachdem – gut oder schlecht?
Die Säkularisierungsthese besagt in etwa: Religion wird immer weniger. Im Privaten darf sie sein, als ein eher verschämt ausgeübtes Hobby einiger; öffentlich und gesellschaftlich ist sie jedoch irrelevant. Die demokratische Grundordnung sorgt für Rechtssicherheit und Toleranz. Die Wirtschaft wächst und sorgt für steigenden Konsum. Dieser soll Bedürfnisse stillen und Ängste vertreiben, so dass die Menschen Religion nicht mehr brauchen. Doch dieses Lebensmodell erzeugt nicht nur geistige Leere, es stößt auch brutal an ökologische Grenzen. Weltuntergangsphantasien machen neue Angst. Das Bedürfnis nach kultureller Identität und nach Heimat wird nur mit Konsum und Brauchtum nicht gestillt. Die liberale Wirtschaftsordnung verschärft den Abstand zwischen arm und reich, ausgrenzend und kränkend. Fremde Menschen kommen zu uns und zeigen ihre starke Religiosität öffentlich; sie verwirren uns und beschämen uns. Der Staat wirkt ohnmächtig. International erscheint alles noch verworrener.
Der Populismus verstärkt die Ängste und nützt sie aus: „Wir hier unten“ werden vernachlässigt und abgehängt, „die dort oben“ bestimmen alles; Fremde überfremden uns kulturell und religiös. Identität und Heimat will der Populismus durch den Schutz regionaler Kultur schaffen, durch Stärkung des Nationalen und durch christliche Symbole, die als Identitätsmarker vereinnahmt werden. Feindbilder dienen der Abgrenzung und der Vertuschung inhaltlicher Leere. Populistische Führer zeigen in der Regel weder viel christliche Überzeugung noch sonst viel Geist. Auch bedient der Populismus, wo er darf, die Sehnsucht nach starken Männern: in Osteuropa, in der Türkei, in den beiden Amerikas, bald auch in Ländern Westeuropas? Starke Männer schalten Medien gleich und unterdrücken Opposition – kontroverser und faktenstarker Diskurs würde das Volk nur verwirren. Sie unterlaufen die Checks and Balances, um Macht zu sichern. Gerne instrumentalisieren sie Religion für ihre Zwecke, denn Religion diszipliniert, schafft Kultur und Geist, hilft bei der Abgrenzung und legitimiert Machtpositionen.
Und die Religion selbst? Monotheistische Religionen stehen im Verdacht, dass sie autoritäre Führungsstrukturen stützen, und noch grundsätzlicher, dass sie in sich autoritär sind und Gewalt – auch sexualisierte – verursachen. Wenn nun autoritäre Führer sich auf Religion stützen, wenn religiöse Fundamentalisten Gewalt ausüben, wenn Missbrauch durch Priester immer neuen Skandal macht, dann verstärkt sich dieser Verdacht – schwere Zeiten für gläubige Menschen, die ihre Religion leben und als wertvoll weitergeben möchten.
Ja, Religion wird weniger. Dieser säkulare Trend wird, zumindest in Westeuropa, nicht zu stoppen sein. Und doch bleibt Religion, auch wenn von Minderheiten gelebt, eine starke und konstruktive Kraft für jede Gesellschaft. Dass eine gottlose Gesellschaft kaum zur Sinnstiftung beiträgt, ist eine Erkenntnis, deren Akzeptanz steigt, auch bei religionskritischen Geistern. Was ist in unseren Zeitläufen der Wert von Religion? Im Folgenden spreche ich – ich kann nur aus meiner Perspektive sprechen – vom christlichen Glauben.
Der Glaube erfüllt und trägt, auch durch Lebenskrisen hindurch. Er gibt Hoffnung im Leid. Weil dem Gläubigen sein Tod ein Weg zu neuem Leben ist, befreit ihn der Glaube vom Druck, auf Erden in knapper Zeit maximal zu genießen, etwa durch optimierten Konsum. Durch Vertrauen in einen Sinn des Lebens und in eine vom Menschen unabhängige Wahrheit befreit der Glaube von Ängsten. Er ruft zu Anderen, vor allem zu Schwachen, und er stiftet Gemeinschaft und Sinn. Er führt in eine Sozialgestalt hinein, die angstfrei Gastfreundschaft und interkulturellen Austausch praktizieren kann. Wer glaubt, hängt weniger an der Macht und kann leichter Partizipation zulassen. Der Glaube schafft Symbole und Rituale, die sinnlich ansprechen und zugleich nach oben verweisen, auf Transzendenz. Wer glaubt, hat Identität und braucht sich weniger abzugrenzen: national oder kulturell, sozial oder religiös. Wer glaubt, kann besser die Grundrechte aller Menschen – als Geschöpfe des einen Gottes – und das Gemeinwohl anerkennen und verteidigen.
Nach neuen Umfragen suchen junge Leute eher Glauben, das heißt Vertrauen, Gebet und Spiritualität, als Religion, also Rituale, Institution, Verbindlichkeit. Und doch braucht der Glaube – das lehrt die Geschichte – die Religion, sonst zerfasert er. Die Kirchen bieten zwar beides, aber in einer Gestalt, die nicht mehr anzieht. „Der Inhalt wäre okay, aber die Form passt nicht“, so höre ich oft. Wie können die Kirchen ihren so reichen Inhalt besser vorschlagen? Vielleicht mehr beten und weniger verwalten? Liebevoll und partizipativ – die Frauenfrage ist entscheidend! – ihr Miteinander gestalten? Ihre Führungsstrukturen so umbauen, dass Gewalt weniger Chancen hat? In kleinen Gemeinschaften und in großen Ritualen den Glauben überzeugend leben? Armen wirksam aufhelfen? Vielfalt als bereichernd integrieren und Christliches in Gesellschaft und Politik einbringen? Im religionsmüden Europa wäre der Wert der Religion wiederzuentdecken.