Rezensionen: Politik & Gesellschaft

Holzbrecher, Sebastian / Knop, Julia / Kranemann, Benedikt / Seiler, Jörg (Hgg.): Revolte in der Kirche? Das Jahr 1968 und seine Folgen. Freiburg: Herder 2018. 352 S. Gb. 35,–.

„1968 ist älter als 1968. In den Jahren der Studentenunruhen wird nur öffentlich und unüberhörbar formuliert, was schon lange in Kirche und Gesellschaft gärte […] Aufbrüche sind Brüche, Brüche mit gesellschaftlichen und kulturellen Herkömmlichkeiten, Brüche mit dem Zeremoniell und den Bildern einer alten Welt, Brüche mit den Ideen jener Welt“ (299). So umschreibt Fulbert Steffensky, ein Zeitzeuge jenes Umbruchs, einige seiner Erfahrungen. Klaus Nientied ergänzt: „1968 kam die Gesellschafts- und Kirchenkritik ‚von links‘. 50 Jahre nach 1968 kommt sie immer mehr ‚von rechts‘. Wer gestern gegen das Establishment kämpfte, muss sich heute vorhalten lassen, selbst Establishment zu sein“ (214). Paul Zulehner schreibt: „Der letzte Grund für diese Polarisierung der Kirchen liegt nicht in der Theologie, sondern im Verhältnis zur modernen Welt, genauer eben zu den Leitideen der 68er, ihrem modernen Freiheits- und Befreiungspathos“ (143). Was vor gerade mal 50 Jahren in Gesellschaft und Kirche geschah, kann man sich heute kaum mehr vorstellen; und was heute in Kirche und Gesellschaft himmelweit anders geschieht, war damals undenkbar – und doch prägt das Damals fundamental das Heute. Nur die Imagination hinkt immer nach.

In dieser Spannung gestalten immerhin vier Herausgebende und weitere 25 Schreibende einen Band zu „1968“. Es schreiben alte Leute, also Zeitzeugen, die die Umbrüche damals mitmachten und die völlig verdrehten heutigen Umbrüche kaum fassen können, und es schreiben junge Leute, die erstaunt zurückschauen und zu begreifen versuchen, welches Erbe, das aber für sie zugleich schon ferne Geschichte ist, sie prägte. Sie alle erzählen und denken, bisweilen breit und anekdotisch – etwa mehrfach über Joseph Ratzinger 1968 in Tübingen –, aber immer erhellend als gut reflektierte Erfahrung. Es schreiben u.a. Theologen und Journalistinnen, auch Professoren und Politiker. Die sehr andere Situation der damaligen DDR wird mehrfach angesprochen, ebenso die der Nachbarländer wie Frankreich, der Tschechoslowakei, Polen, Ungarn.

Die Beiträge sind, wie zu erwarten, unterschiedlich in Stil und Qualität, sie sind auch verschieden in der Wahrnehmung dessen, was „1968“ war und was es für heute bedeutet. Manches ist arg redundant – Humanae vitae wird gefühlt dutzende Male erwähnt –, aber zugleich ist bewegend, wie viele grundstürzende Neuerungen in kürzester Zeit möglich waren. Aus dem Bericht Peter Neuners und Massimo Faggiolis erwähne ich nur Weniges: Medellín, das politische Nachtgebet, der ÖRK in Uppsala, die Lefèbvre-Bewegung, die charismatische Erneuerung, der Katholikentag in Essen, katholische Studentengemeinden, Sant‘ Egidio, die politische (J.B. Metz) und die feministische Theologie (M. Daly).

Den Schreibenden ließen die Herausgebenden breiten Raum zur Entfaltung, eine eigene Botschaft formulieren sie allerdings kaum. Das Buch hat keine These und ist kein Wurf, sondern es ist eher ein Nachschlagewerk oder eine Fundgrube zum Schmökern – immer anregend und im besten Sinn eine Verstehenshilfe für heutige Kirche und Welt.              

Stefan Kiechle SJ

 

 

Albright, Madeleine: Faschismus. Eine Warnung. Köln: Dumont 2018, 320 S. Gb. 24,–.

Nach einem sehr heißen Sommer ermöglicht uns die nun kühlere Jahreszeit, „abzukühlen“, innezuhalten und uns auf die besinnliche Zeit vorzubereiten. Abkühlen, innehalten, besinnen: das täte auch der politischen Debatte unseres Landes gut: leider werden mittlerweile viel zu oft nicht Sachargumente ausgetauscht, sondern werden sich in emotional aufgeheizter Stimmung gegenseitig Verbalinjurien um die Ohren gehauen. Damit daraus kein reales „Hauen und Stechen“ wird, sei allen an einer guten Zukunft unseres Landes Interessierten Madeleine Albrights neues Buch empfohlen.

„Faschismus“: das Reiz-Wort unserer Zeit. Albright stammt aus einer tschechisch-jüdischen Familie und musste vor den Nazis und dann vor der kommunistischen Diktatur aus ihrer Heimat fliehen. Wohltuend sachlich und klar bezieht sie, die als Einwandererkind in den USA aufwuchs und später eine weltweit anerkannte Außenministerin der Vereinigen Staaten wurde, Stellung zur aktuellen politischen Lage. Als eine der noch heute beliebtesten Politikerinnen der USA hat sie den nötigen Respekt, um gehört zu werden.

Albright definiert Faschismus als ein „Mittel zur Erringung von Macht und deren Erhalt“ und warnt eindringlich vor dem reflexhaften Gebrauch dieses Begriffs. Ansonsten bestünde die Gefahr „diesen Begriff, der etwas wichtiges Aussagen sollte, [zu] verwässern und [zu] verharmlosen“. Ihr gelingt es, die faschistischen Bewegungen aus der Perspektive ihrer jeweiligen Entstehungsepoche heraus anschaulich zu beschreiben. Horizonterweiternd belässt sie es jedoch nicht bei den 20er- und 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts. Vielmehr nimmt die vormalige Außenministerin uns mit auf eine „weltpolitische Bildungsreise“ bis in die Gegenwart und zeigt die Faktoren auf, die zum Aufstieg faschistischer Regime weltweit führten. So ernsthaft das Thema ist, so unterhaltsam liest sich dieses Buch. Leidenschaftlich plädiert Albright für eine offene Demokratie, um gesellschaftliche-politische Konflikte mit Herz & Hirn anstatt mit Stock & Stein auszutragen und zu lösen. Selbstbewusst fordert sie von den demokratischen Regierungen mehr Einfallsreichtum, wenn sie sich „den Respekt der Bürger verdienen wollen.“ Ein „knapp gut genug“ reiche längst nicht mehr aus. Das Buch endet mit einem Appell für die Freiheit und mit ehrlichen Fragen an die Lesenden. Die Antworten darauf, „werden uns ziemlich viel über jene verraten, die uns führen wollen, und ebenso über uns selbst.“ Es lohnt sich, durch die Lektüre dieses spannenden Buches auch etwas Neues über sich selbst herauszufinden.        

Stephan Giering

 

 

Ramb, Martin W. / Zaborowski, Holger (Hg.): Arbeit 5.0 oder Warum ohne Muße alles nichts ist. Göttingen: Wallstein 2018. 400 S. Gb. 22,–.

Der Titel „Arbeit 5.0“ bezieht sich auf diejenige Gestalt der Arbeit, die nach dem kommen wird, was im politischen Jargon „Arbeit 4.0“ heißt und uns gegenwärtig umgibt: der vierten – nämlich digitalen – Revolution unserer Arbeitsverhältnisse. Der Untertitel „Warum ohne Muße alles nichts ist“ erweckt dabei den Eindruck, die Möglichkeit der Muße sei bedroht. Inwieweit sie das ist, machen auf unterschiedliche Weise 26 Beiträge deutlich, die im einzelnen angemessen zu würdigen hier nicht möglich ist.

So zeigt ein Teil der hier versammelten Beiträge, dass die Digitalisierung der Arbeit einen enormen Zuwachs an Freizeit bedeuten kann. Und dieser zeitliche Zugewinn kann so weit reichen, dass Menschen ohne entsprechende Qualifikation immer weniger die Chance haben, überhaupt eine Arbeit zu finden, und in einer ganz ungewollten Weise sehr viel Zeit für sich haben. Allerdings verdient eine solcherart gewonnene Freizeit nicht den Namen Muße, sondern ist einfach entwürdigend. Dazu kommt der schlichte erkenntnistheoretische Sachverhalt, dass die Gehalte unserer Erfahrung erst in der Kontrastierung durch ihr Gegenteil ihren spezifischen Erlebniswert gewinnen. Eine Freizeit, die zum Normalzustand, also selbstverständlich geworden ist, verliert automatisch ihre Erlebnisqualität. In diesem Sinne gewinnt die Muße den ihr eigenen Stellenwert erst im Gegenüber zur Arbeit.

In diesem Zusammenhang betonen manche Beiträge, dass das griechische Verständnis von Muße elitäre Züge hat und sich auf dem Rücken der Sklaven entwickelt, welche die Arbeit verrichten. Erst der biblische Schöpfungstext hat der Arbeit und der Muße ihre jeweils eigene Würde verliehen. Denn er hat sie dadurch in ein angemessenes Verhältnis zueinander gerückt, dass Gott am siebten Tag das Ergebnis seines Wirkens vollendet, indem er es aus der Hand legt und aus dem solcherart gewonnenen Abstand „sehr gut“ findet.

So wird die Muße dem Leser vor allem als eine Form des Abstands zur Arbeit präsentiert, die nicht – wie etwa die Pause im Arbeitsprozess oder der Urlaub – zur Wiedergewinnung der Arbeitskraft dient. Ihre Eigenart gegenüber der Arbeit besteht vielmehr in ihrer Nichtfunktionalität. Gerade dadurch erweist sie sich aber auf mannigfache Weise als bedroht,– etwa indem unser Freizeitverhalten durch eine entsprechende Industrie durchorganisiert wird oder indem wir durch digitale Medien bis in die letzten Winkel unserer privaten Existenz rund um die Uhr ansprechbar bleiben. Wo also einst in der Phase von „Arbeit 1.0“ die Freizeit die Rettung aus einem Arbeitsprozess bedeutete, in dem der Einzelne sich ansonsten verlor, gilt in der Phase von „Arbeit 4.0“ die Umkehrung eines berühmten Hölderlin-Wortes: Wo das Rettende naht, wächst auch die Gefahr. So plädieren einige Beiträge für ein Recht auf Nichterreichbarkeit in der Freizeit.

Dabei ist die Muße offensichtlich auch nicht ganz nutzlos. Aber sie bekommt ihren Nutzen nicht aus dem Arbeitsprozess zugewiesen, sondern entwickelt ihn auf geradezu anarchischem Wege: Wo Kant grundlegende Einsichten, die dann in sein Werk eingegangen sind, beim Spazierengehen gewonnen habe, sei dies bei Einstein im Halbschlaf geschehen.

Damit sind freilich nur einige Grundlinien des vorliegenden Sammelbandes angesprochen. Die Lektüre seiner 400 Seiten setzt im positiven Wortsinne diejenige Muße voraus, von der im Untertitel die Rede ist.

Gerd Neuhaus

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