Wendezeiten sind Zeiten des Rückblicks, genauer: Zeiten, in denen ich verstehe, dass ich nicht verstanden habe; oder weniger radikal formuliert: Zeiten, in denen ich verstehe, dass ich zwar vieles verstanden habe, aber einiges eben doch nicht – so dass sich im Rückblick das Gesamtbild verändert. Das kann eine befreiende Erkenntnis sein, zumal dann, wenn man sich von der Vorstellung löst, immer auch nachträglich Recht behalten zu müssen. Es gibt einen inneren Zusammenhang zwischen rückblickendem Verstehen und der Chance, dadurch eine Perspektive für die Zukunft zu gewinnen. Wer rückblickend besser versteht, was er oder sie bisher nicht verstanden oder nicht gesehen hat, wird frei, um sich Fragestellungen der Gegenwart zuzuwenden.
Solches rückblickende Verstehen wird durch Ereignisse ermöglicht, die Zeiten in ein Vorher und ein Nachher scheiden. Jüngere Beispiele dafür sind: Der Fall der Mauer am 9. November 1989, der 11. September 2001, der kurze Satz „Wir schaffen das“ von Angela Merkel am 4. September 2015, die Wahl Donald Trumps am 8. November 2016, oder kirchlich: die Vertrauenskrise, die in den letzten Jahren durch das Bekanntwerden von sexuellem Missbrauch durch Kleriker ausgelöst wurde. Wie man diese Ereignisse im Einzelnen auch bewertet, sie schaffen irreversibel neue Situationen. Es fallen dann Sätze wie: „Das hätte ich nie für möglich gehalten“, oder: „Die Welt ist nicht mehr dieselbe wie vorher“, oder: „Ich dachte, das hätten wir längst hinter uns.“ Alte Freund-Feind-Unterscheidungen treffen nicht mehr zu, erstaunliche neue Allianzen entstehen. Die Gesellschaft (oder auch: die Kirche) als Ganze beginnt zu ahnen, dass sie sich in einem Strudel von Ereignissen befindet, der sich der Kontrolle durch die alten Instrumente von Politik und Leitung entzieht; Menschen spüren zum Beispiel, dass die digitalen Medien weit mehr sind als nur ein weiteres Medium neben anderen; dass Osama bin Ladens mörderischer Islamismus nicht nur die abseitige Verirrung eines einzelnen verrückten Verbrechers war; dass Nationalismus wieder eine ernst zu nehmende politische Option ist, der man allein mit der Nazi-Keule nicht beikommt; dass die Vertrauenskrise in der Kirche mehr ist als eine Krise der Vertrauens gegenüber Personen. Und so weiter.
Wendezeiten sind Gelegenheiten, alte Kapitel zuzuschlagen. In dieser Ausgabe versuchen wir dies am Ende des Jahres 2018, indem wir einen relativ älteren „68er“ und einen nicht viel jüngeren „Anti-68er“ rückblickend zu Wort kommen lassen – „Rückblickend“ im eingangs genannten Sinn des Wortes, also im Wissen darum, dass der Blick bereits aus der Perspektive einer neuen Zeit heraus in eine alte Zeit geht. In dieser Perspektive liegt die Befreiung zu verwirrenden, aber auch inspirierenden Fragestellungen: Wer hat sich geändert – die Zeiten oder ich? Oder ist das überhaupt ein Gegensatz? Bleibe ich mir treu und finde mich deswegen in neuen Konstellationen vor? Oder bin ich mir untreu geworden, weil ich mich in Konstellationen vorfinde, auf die ich mich früher nicht eingelassen hätte? Mit diesem Fragen beginnt auch der Blick auf das neue Kapitel, das nun aufzuschlagen und zu füllen ist: Worauf wird es ankommen, wenn zwar nicht alles falsch war, was ich bisher dachte und sah, aber doch jetzt alles in einem anderen Licht erscheint, da sich die Zeiten durch die Ereignisse fundamental verändert haben und weiter verändern?
Was den Rückblick auf 68 betrifft, so zeigt sich, dass im Hintergrund eine andere Jahreszahl aufzuleuchten beginnt: 1949, die Verabschiedung des Grundgesetzes. Die 68er-Generation musste ihr Verhältnis zur Gewalt klären. Für viele von ihnen war die Auseinandersetzung mit der RAF der Anlass, den „Marsch durch die Institutionen“ zu gehen, der letztlich eine Akzeptanz der Institutionen voraussetzte. Die Missbrauchskrise 2010 gab der „sexuellen Revolution“ reichlich Stoff zu rückblickender Nachdenklichkeit. Viele Alt-68er – sieht man von Sektierern ab, wie zum Beispiel denen, die von der extremen Linken zur extremen Rechten wechselten – verteidigen heute die staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen gegen eine neu aufkommende autoritäre Rechte, die ihrerseits ein Gewaltproblem hat, einschließlich eines Problems mit „Verständnis“ für diese Gewalt. Es geht also heute nicht mehr darum, die alten Gefechte aus den 70er- und 80er- Jahren weiter auszutragen, sondern darum, die Entscheidungen von 1949 neu zu begreifen und einzuholen: Option für Rechtsstaat, Demokratie und unveräußerliche Menschenrechte. Das gilt im Übrigen auch für katholische Kreise, die mit der neuen Rechten sympathisieren, weil Demokratie und Rechtsstaat Entscheidungen hervorgebracht haben – liberale Abtreibungsregelung, „Ehe für Alle“ –, mit denen sie nicht einverstanden sind. Man kann ja aus guten Gründen Entscheidungen und Entwicklungen ablehnen, die demokratisch und rechtsstaatlich legitimiert zustande gekommen sind. Wenn man aber deswegen den Rechtsstaat selbst und seine Verfahren ablehnt, überschreitet man die Grenze zur Zeit vor 1949.