Alleinerziehende und Familiensplitting Neben den „Fremden“ stehen in der Bibel die „Witwen und Waisen“ im Zentrum der sozialpolitischen Aufmerksamkeit der Tora. „Witwen“ und „Waisen“ sind nicht bloß nebeneinander stehende Menschengruppen. Vielmehr sind sie in einer patriarchalischen Gesellschaft durch die Tatsache verbunden, dass der Ernährer fehlt. Die „Witwe“ bleibt als Alleinerziehende mit „Waisen“ zurück. In der biblischen Tradition gibt es also eine besondere Aufmerksamkeit für Alleinerziehende.
Nun soll hier nicht herbeigeredet werden, dass die im Patriarchat gegebene Rollenverteilung zwischen Mann und Frau heute noch so bestehe wie zu biblischen Zeiten. Doch eine besondere Aufmerksamkeit verdienen Alleinerziehende vor dem Hintergrund des biblischen Impulses gleichwohl. Sie wird ihnen in der sozialpolitischen Debatte aber nicht zuteil, wenn man einmal absieht von ziemlich realitätsfernen Vorschlägen wie denen, die Grunderwerbssteuern zu senken, wovon angeblich dann auch Alleinerziehende profitieren würden. Welche alleinerziehende Frau (in der Mehrheit sind es ja Frauen, die allein erziehen) hat schon ein Eigenheim oder ein vergleichbares Eigentum?
Auch die Empfehlung, Vollzeit zu arbeiten, geht am realen Leben vorbei. Ein Rückkehrrecht von Teilzeit auf Vollzeit, wie es aus anderen, vielleicht guten Gründen gefordert wird, hilft den allermeisten Alleinerziehenden auch nicht viel weiter – sie würden dieses Recht gar nicht wahrnehmen können, solange die Verantwortung für die Kinder besteht. Alleinerziehende kämpfen um das tägliche Überleben zwischen den Anforderungen der Kindererziehung und dem Minimum an Teilzeitarbeit, das sie leisten müssen, um Miete und Grundversorgung zu bezahlen. Das wird im Übrigen auch durch die Einführung von Ganztagsschulen und Nachmittagsbetreuung nur teilweise aufgefangen, und kann auch nur teilweise durch staatlich organisierte Betreuungssysteme aufgefangen werden. Wenn die Politik das Thema der Alleinerziehenden und ihrer spezifischen Nöte weiterhin auf diesen Ebenen verhandelt, hat sie sich jedenfalls weit von der Realität entfernt.
Näher an die Wirklichkeit führen da schon die Überlegungen zur Einführung eines Familiensplittings. Alleinerziehende empfinden das Ehegattensplitting immer mehr als eine Ungerechtigkeit. Zu Recht. Das Ehegattensplitting war ursprünglich dafür gedacht, Familien finanziell zu unterstützen, unter der stillschweigenden Voraussetzung, dass die Mutter in der Regel wegen der Kindererziehung erwerbslos ist. Kurz: Das Ehegattensplitting basiert auf dem patriarchalischen Familienbild. „Witwen und Waisen“ waren zum Zeitpunkt seiner Einführung nicht im Blick. Entsprechend wurde das Ehegattensplitting 1958 als „bedeutende Förderung des Familiengedankens“ bezeichnet, sowie als „besondere Anerkennung der Aufgabe der Ehefrau als Hausfrau und Mutter.“ Das Bundesverfassungsgericht wies in seinem Urteil vom 7. Mai 2013 ausdrücklich auf diese Zusammenhänge bei einer Entscheidung für das Ehegattensplitting hin.
Doch das Familienbild hat sich heute grundsätzlich verändert. Jede fünfte Familie hat einen alleinerziehenden Elternteil. Besonders auffällig sind dabei die Ost-West- Unterschiede. Viele Paare bekommen heute aus unterschiedlichen Gründen keine Kinder mehr; viele Paare heiraten nicht, wenn Kinder kommen. Immer mehr Ehen werden in einem Alter geschlossen, in dem Kinder nicht mehr zu erwarten sind. Ehe bedeutet heute nicht mehr gleich Kinder/Familie. Man mag das bedauern oder auch nicht, es ist jedenfalls eine Realität. Hinzu kommt, dass Frauen meistens auch arbeiten (müssen), wenn sie Kinder haben. Heute bedeutet die steuerliche Bevorzugung der Ehe jedenfalls immer mehr eine Benachteiligung der Familie. Daraus ergeben sich im Fall der Fälle absurde Situationen, die unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit völlig unerträglich sind. Beispiel: Wenn eine Frau mit zwei Kindern nach dem Tod des Ehepartners zurückbleibt, kann es sein, dass sie sich steuerlich schlechter gestellt vorfindet als vorher. Und das ist nur ein Beispiel unter mehreren möglichen.
Das Familienrecht hat sich schon längst auf die veränderten gesellschaftlichen Verhältnisse eingestellt. Dort steht das Kind im Mittelpunkt, nicht mehr die Ehe. Anders verhält es sich beim Steuerrecht. Doch obwohl der familiäre Zweck des Ehegattensplittings durch die veränderte Realität entfallen ist, besteht es nach wie vor fort. Wenn der Schutz der Familie und der Schutz der Ehe sich aber immer mehr voneinander entfernen, dann verliert auch der bloße Verweis auf die Verfassung immer mehr an Plausibilität und Autorität.
Die schutzbedürftigsten Mitglieder einer Gesellschaft sind die Kinder. In Deutschland leben mindestens 21 Prozent aller Kinder unter fünf Jahren dauerhaft oder wiederkehrend in Armut. Weitere zehn Prozent befinden sich an der Grenze zwischen dauerhaft gesicherter und nicht gesicherter Lage und rutschen immer wieder in Armut, wie die jüngste Studie der Bertelsmannstiftung 2017 feststellt. Es mag sein, dass Kinder besonders gut in einer gut funktionierenden Ehe geschützt sind, aber auch dies stimmt nur, weil und wenn es einen Vorrang des Kinderschutzes auch im Selbstverständnis der Eheleute gibt. Eine Benachteiligung von Kindern, die nicht in einer (Hausfrauen-)Ehe groß werden, lässt sich daraus in keiner Weise schlussfolgern oder billigend in Kauf nehmen.
Eigentlich werden diese Dinge schon seit vielen Jahren diskutiert, und hinter vorgehaltener Hand steigt die Unterstützung für das Familiensplitting. Doch in der Öffentlichkeit tut sich nichts. Die besondere Aufmerksamkeit der Tora für die „Witwen und Waisen“ könnte auch für christlich-soziale Politik eine Orientierung sein, um die Förderung der Familie nun auch steuerlich grundsätzlich neu in den Blick zu nehmen. Die Zeit ist reif dafür. Das wäre auch mal ein wirkliches Projekt für die nächste Legislaturperiode, statt ein bisschen weiter am Kindergeld und anderen Baustellen dieser Art herumzuflicken.