Wo ein europäischer Islam seit hunderten Jahren existiert
400 Kilometer östlich von Moskau liegt eine der schönsten und reichsten Städte Russlands: Kazan, die Hauptstadt der Republik Tatarstan, der größten muslimischen Enklave der Russischen Föderation. Von Moskau nach Kazan wird derzeit eine Hochgeschwindigkeits-Bahnstrecke gebaut, die zweite nach der Strecke Moskau– St.-Petersburg. Schon dies zeigt die hohe, auch symbolische Bedeutung dieser Stadt und dieser Region für Russland. Die beiden Hochgeschwindigkeits-Bahnstrecken sind eine moderne Version des alten Symbols des zweiköpfigen Adlers, der sowohl gen Westen als auch gen Osten blickt: Russland ist ohne Islam genauso wenig vorstellbar wie ohne Orthodoxie und westliche Kultur.
Die Völker der Russischen Föderation, die sich jetzt zum Islam bekennen, waren in manchen Gebieten viel früher als die Ostslawen ansässig. Betrachten sie heute Russland als ihre Heimat? Werden sie von der (noch) mehrheitlich orthodox-slawischen Bevölkerung als Bürger angesehen, denen das Land in derselben Weise wie den ethnischen Russen gehört? Das Gesetz über „Die Freiheit des Gewissens und die religiösen Gemeinschaften” vom 26. September 1997 legt fest, dass Christentum, Islam, Judentum und Buddhismus untrennbare Teile der russischen Geschichte, der Spiritualität und der Kultur des Landes darstellen. Das Christenum und der Islam werden als erste genannt, was ihrer wichtigeren Rolle entspricht.
Russland selbst versteht sich mehr und mehr als ein Land, dass der euro-asiatischen Zivilisation angehört. Schon seit mehr als tausend Jahren leben Russen und Turkvölker zusammen. Das heutige Russland entstand im Schoß eines muslimischen Reiches, der Goldenen Horde, die die Tradition der mongolischen religiösen Toleranz fortsetzte. Spätestens seit der Eroberung Kazans durch Ivan IV. im Jahr 1552 ist der Islam ein fester Teil Russlands selbst geworden.
In keinem anderen europäischen Land – die Türkei rechne ich nicht zu Europa – leben so viele Muslime wie in Russland. Man spricht von bis zu 20 Millionen – das ist die höchste Schätzung, die aber Migranten aus Zentralasien noch nicht berücksichtigt. Diese Zahl ist erheblich höher als in Deutschland (4 Millionen einschließlich jener Muslime, die 2015 kamen), Frankreich (ebensoviele) oder Großbritannien (1,6 Mio). Der Unterschied Russlands zu den europäischen Ländern (mit Ausnahme des Balkans) besteht darin, dass die überwiegende Mehrheit der Muslime Völkern angehört, die das Gebiet der heutigen Russischen Föderation zur historischen Heimat haben und dort schon Jahrhunderte ansässig waren, bevor die Ostslawen hinkamen. Manche waren Muslime, noch bevor die Kiewer Rus orthodox wurde. Natürlich kann man die Komplexität des religiösen Lebens in Russland nicht auf den Islam und das orthodoxe Chistentum reduzieren, doch bilden diese beiden Traditionen den religiösen Kern dessen, was wir Russland nennen.
Wie verhalten sich diese beiden Teile der russischen Identität zueinander? Gibt es überhaupt eine solche Identität, die in sich alle Teile der russischen Wirklichkeit vereint? Die Ansichten hierüber gehen auseinander: von der Behauptung eines gegenseitigen Austauschs und einer wechselseitigen Befruchtung zwischen Islam und orthodoxem Russentum bis hin zur Betonung der antagonistischen Beziehungen zwischen den Religionen. Deutlich werden diese Schwankungen etwa in den Ansichten des russischen Politikers Zhirinowski; er ist Gründer der Liberal-Demokratischen Partei Russlands – die tatsächlich eine extrem nationalistische Partei ist. Einmal warnt Zhirinowski vor der islamistischen Gefahr und sieht in Russland einen Schild gegen die islamische Expansion, ein anderes Mal ist der Islam für ihn der beste Verbündete gegen den Einfluss des korrupten Westens. Er betont nicht nur gemeinsame politische und geostrategische Interessen der islamischen Welt und Russlands, sondern auch und besonders, und das zusammen mit vielen Geistlichen der orthodoxen Kirche und mit islamischen Gelehrten, eine Wertegemeinschaft zwischen dem Islam und dem orthodoxen Christentum, der Grundlage der russischen Zivilisation.
Das Land an der Grenze – zwischen Christentum und Islam
Ein Forscher der Russischen Akademie der Wissenschaften, Igor Kotin, hat die Geschichte der Beziehungen zwischen den Muslimen und den Christen auf dem Gebiet des heutigen Russlands erforscht. Anfangen soll man aber doch in Kiew, der Hauptstadt der Kiewer Rus:
Das erste interreligöse Gespräch zwischen dem Islam und dem Christentum in der Kiewer Rus fand im Jahr 988 am Hof in Kiew statt: Nachdem Vladimir, der Großfürst des Landes, als dessen Erbe sich das heutige Russland versteht, mit den Vertretern der Muslime, der Juden und der Christen gesprochen hatte, entschied er sich für das Christentum. Aber schon ein halbes Jahrhundert, bevor Vladimir angefangen hatte, darüber nachzudenken, welche Religion er für die beste halten solle, war das große Volk an der mittleren Wolga, dem Fluss, der später einfach „der Russische Fluss” genannt wurde, muslimisch geworden. Dieses Volk waren die Wolga-Bulgaren, die nach dem Einfall und der Eroberung der Mongolen den Namen „Tataren” erhalten hatten. Sie waren von Missionaren aus dem arabischen Raum islamisiert worden und erhielten dadurch Zugang zu den materiellen und kulturellen Gütern des Kalifats und der anderen islamischen Länder, besonders jener in Zentralasien.
Erst zwei Jahrhunderte, nachdem Russland seine Unabhängigkeit von der Goldenen Horde am Ende des 15. Jahrhunderts erlangt hatte und ab Mitte des 16. Jahrhunderts mit der Eroberung von Khanaten in Kazan, Astrachan und Sibirien zu einem Vielvölkerstaat geworden war, wurden die neuen muslimischen Gebiete mit ihrer Bevölkerung als eine Art Besatzungszone angesehen. Der Islam sollte dem orthodoxen Christentum weichen, denn dieses sollte die Grundlage der Einheit des Russischen Staates werden.
Peter der Große stellte 1721 die orthodoxe Kirche unter die Kontrolle der Staatsverwaltung, und der „Heilige Synod” ersetzte das Patriarchat. Nichtorthodoxe Völker wurden zur gleichen Zeit unter die Aufsicht der Abteilung für nichteinheimische Religionen gestellt; dort hatten sie mehr Freiheit als die Russisch-Orthodoxe Kirche.
Katharina die Große, die 1762 Kaiserin wurde, sah sich als aufgeklärte Herrscherin, die sich für religiöse Angelegenheiten nur dann interessierte, wenn sie für den Staat wichtig waren. 1773 erließ sie ein Gesetz religiöser Toleranz. Das Gestz erlaubte auch, nicht-orthodoxe Gemeinden zu gründen und Gebetshäuser zu bauen. Die Muslime des Reiches profitierten stark von diesem Gesetz. Man kann sagen, dass die Muslime in Russland spätestens seit dieser Zeit mit den Orthodoxen (fast) gleichgestellt waren.
Die neue Freiheit, die die Muslime erhalten hatten, ließ das religiöse und kulturelle Leben aufblühen. So wurde 1800 ein muslimischer Verlag in Kazan gegründet. Man versuchte, den Islam so zu reformieren, dass die Gläubigen ihre Religion mit den Anforderungen des modernen Lebens in Einklang bringen konnten. Diese Bewegung hieß „Erneuerung” – Jadidizm (auf Tatarisch – das Wort kommt aus dem Arabischen). 1888 wurde eine Zeitung namens „Tarjiman” („Übersetzer”) gegründet, die eine wichtige Rolle für die Erneuerung der muslimischen Bildung spielte auf der Krim, im Gebiet der Wolga und in Turkestan, das erst kurz vorher unter russische Herrschaft gekommen war. Mit neuen Lehrbüchern, die der Anführer der „Jadidisten”, Ismail Bey Gasprinski, herausgab, wurde eine ganze Generation muslimischer Intellektueller ausgebildet, die ihre islamische Identität mit europäischer Bildung zu vereinen wussten.
Nach den liberalen Reformen in der Mitte des 19. Jahrhunderts kam es jedoch zu Instabiliät und zu einem Aufschwung der Linksradikalen. Diese ermordeten 1881 den Reformzaren Alexander II. Das nahm sein Nachfolger Alexander III. zum Anlass, die Zügel wieder anzuziehen und sich auf die traditionellen, also orthodoxkirchlichen Werte zu besinnen.
Muslimische Intellektuelle aus der Bewegung der Jadidisten wehrten sich gegen Vorwürfe der Illoyalität gegenüber Russland – wahrscheinlich ganz ehrlich, da sie dachten, Russland böte für Muslime bessere Möglichkeiten, sich zu modernisieren, als das rückständige Osmanische Reich. Der Jadidist Ismail Bey Gasprinski kritisierte die muslimische Gemeinde und warf ihr vor, „in dem engen und bedrückenden Reich ihrer alten Ideen und Vorurteile zu vegetieren und vom Rest der Menschheit abgeschnitten zu sein”. Er verurteilte muslimische Anführer, die wollten, dass die Muslime in Russland sich abschotteten und am gesellschaftlichen Leben in Russland nicht teilnähmen. Gasprinski hat viel dafür getan, dass die russische Sprache die offizielle Sprache der muslimischen Gemeinden in Russland wurde, was sie bis heute ist, und nicht nur für die Muslime der Russischen Föderation – Tataren benutzen allerdings auch Tatarisch –, sondern auch für viele in Zentralasien.
Die Grundlagen eines europäischen Islam
Männer wie Ismail Bey Gasprinski haben Grundlagen für das gelegt, was man – heute gibt es den Begriff häufig – den „europäischen Islam” nennt. Aber dieser europäische Islam existierte in Ansätzen schon vor mehr als hundert Jahren, in Kazan und in anderen muslimischen Gebieten des russischen Reiches schon seit dem 19. Jahrhundert.
Die Zusammenarbeit zwischen der Reformbewegung im Islam und der russischen Regierung war aber nicht immer vorbildlich. Nicht nur Alexander III., sondern auch sein Nachfolger Nikolai II., der letze Kaiser der Romanow-Dynastie, stützte sich auf konservative Elemente der russischen Gesellschaft, die die Russifizierung – die teilweise nicht gerade freiwillig war – forderten und den Muslimen mit Vorbehalten begegneten. In dieser Zeit, also Ende des 19. Jahrhunderts, war bei der herrschenden Klasse in Russland die Angst groß, dass die Muslime keine loyalen Untertanen des Russischen Reiches seien. Manche meinten, dass die Muslime eine Art Staat im Staat bildeten. Das lange erarbeitete Gleichgewicht und das Zusammenleben der orthodoxen Christen und der Muslime auf dem Gebiet des Russischen Reiches wurde durch die Eroberung Zentralasiens Ende des 19. Jahrhunderts erschüttert. Jetzt gab es 20 Millionen Muslime im Russischen Reich; diese lebten nicht in überseeischen Kolonien, sondern im Land selbst, und es gab keine sichtbare Grenze mehr zwischen Turkestan und dem Gebiet, das vor der Eroberung Turkestans unter der Herrschaft Moskaus stand.
Der Romanow-Dynastie und dem Reich wurde die Politik des Verdachts und der Unterdrückung der Muslime zum Verhängnis, weil die Bolschewiken und Lenin sie selbst nutzten, um die Muslime mit dem Versprechen eines besseren Lebens auf ihre Seite zu ziehen. Auch, wenn die Februar-Revolution den Sonderstatus der orthodoxen Kirche abgeschafft hatte, konnte es in der kurzen Zeit bis zur Machtübernahme durch die Bolschewiken zu einem echten Einverständnis innerhalb der muslimischen Gemeinde – auch weil sie in verschiedene nationale Gruppen zersplittert war – nicht kommen. Lenin versprach aus realpolitischen Gründen schon im November 1917 in seinem Appell „an alle arbeitenden Muslime” volle Religionsfreiheit und Gleichheit. Damit wollte er die Muslime als Verbündete gegen seine Gegner gewinnen. Sobald er allerdings mit seinen Parteigenossen fest im Sessel saß, änderte er seine Politik hin zu Einschränkungen und Repressionen gegen Muslime, die aber in der Sowjetzeit nie so brutal und massiv wie jene waren, die die kommunistische Regierung mit ihren Repressionsorganen gegen die Christen richtete.
Nach der Repression der Stalin- und Chruschtschow-Zeit kam die sogenannte „Stagnation von Breschnew”. In dieser Zeit war gegenüber den Religionen eine pragmatische, weniger ideologische Politik vorherrschend. Viele Kirchen und Moscheen waren geöffnet, auch wenn nicht immer offiziell. Zahlreiche Muslime, auch wenn es nicht so viele waren wie unter den orthodoxen Christen, wandten sich von ihrer Religion ab. Sie fühlten sich dem Staat, der jetzt „Sowjetunion“ hieß und alle seine Völkerschaften mehr oder weniger gleich behandelte – ob gut oder schlecht, ist eine andere Frage –, eng und ehrlich verbunden. Gut sichtbar ist diese Haltung noch heute in der älteren Generation der Muslime, die die UdSSR noch erlebt haben: Viele von ihnen trauern diesem Staat nach. Entgegen allen Erwartungen waren die Republiken von Zentralasien die letzten, die ihre Unabhängigkeit erklärten, nämlich erst als die Sowjetunion nicht mehr existierte, weil sie durch die Entscheidung der neuen Machthaber der slawischen Republiken – Ukraine, Russland und Weißrussland – aufgelöst worden war.
Neuanfang oder Rückkehr zu den Wurzeln?
Nach dem Zerfall der Sowjetunion musste sich die unabhängige Russische Föderation genauso wie die anderen ehemaligen Republiken der UdSSR neu finden. Ist Russland Nachfolger der UdSSR oder des Russischen Reiches? Oder ist es ein ganz neuer Staat? Am Anfang faszinierte der Westen, seine Zivilisation, sein Reichtum und seine Macht. Man wollte sich nach westlichem Vorbild reformieren. Diese Versuche schlugen aber ziemlich schnell fehl. Vielen wurde klar, dass Russland, wenn überhaupt, dann nur teilweise dem Westen angehört. Die Frage war nochmals neu zu stellen: Was ist Russland, und wer sind wir, die wir in diesem Land leben?
Eine Identität, die auf der Zugehörigkeit zu einem Volk basierte, gab es in Russland nur im 14./15. Jahrhundert. Nachdem aber große Gebiete im Osten, nämlich die ganze Wolgaregion mit ihren nicht-russischen Einwohnern, eingegliedert worden waren, wich die nationale Identität der territorialen. Zum Russen wurde nun jeder, der in Russland lebte, anders konnte es nicht mehr sein. Mit einer ursprünglich russischen Bevölkerung, die kaum die Hälfte der Einwohner umfasste, konnte man keinen rein nationalen Staat bauen. Dieser Umstand war wichtig für die Integration der nichtrussischen und nichtchristlichen Völker, allen voran der turksprachigen Muslime.
Die Integration der Muslime in das, was man Russland nennt – ein Land, eine Zivilisation, eine Ideologie oder Lebensentwurf – war ein langer Prozess. Auch, wenn man heute nicht davon sprechen kann, dass alle Muslime, die in Russland leben, völlig in dieser Identität stehen, betrachten wohl dennoch alle dieses Land als ihre Heimat.
Eine der wichtigsten Gründe dafür ist, auch wenn es seltsam klingt, die gespaltene Identität Russlands selbst, das sich einerseits als Teil des Westens, andererseits als Alternative für den Westen und seine Werte versteht. Aus diesem Grund können die Muslime, die den Islam als Alternative zum liberalen westlichen Projekt sehen, sich mit Russland und seinen Werten identifizieren. Als es bei den Präsidentenwahlen 1996 darum ging, ob die Muslime den kommunistischen Kandidaten oder Jelzin unterstützen sollten, war ein Argument zugunsten Jelzins, dass dessen Reformpolitik die geistige Wiedergeburt in den Glaubensgemeinschaften Russlands ermöglichen sollte und für die Zukunft Russlands als einer euro-asiatischen, christlich-muslimischen Macht eine Hoffnung darstellte.
Während des Tschetschenien-Kriegs waren die Versuche der Tschetschenen, sich von Russland abzuspalten, bei der Mehrheit der Muslime in Russland nicht beliebt. Ein Grund dafür war, dass für sie der Fortbestand des geeinten Landes als einer politischen Alternative und als Gegengewicht zum Westen wichtig ist. Weil Russland einen Gegenpol zum Westen bildete – so argumentierten die Verteter der muslimischen Gemeinde in Russland –, sollte man das Land ungeteilt erhalten. Der heutige, vom Kreml eingesetzte Präsident Tschetscheniens präsentiert sich als knallharter Patriot Russlands und zugleich als knallharter konservativer Muslim.
Die Einstellung der Orthodoxen Kirche zum Islam hat sich im Laufe der Zeit verändert; die Einstellung der Kirche zum Islam als Religion ist aber zu unterscheiden von der Einstellung zum Islam als einer Lebensweise und einer Form der Beziehung zwischen Religion und Staat. Während in theologischer Hinsicht sowohl von Seiten der Orthodoxen Kirche wie auch von Seiten der Muslime kaum Annährungs- und Dialogversuche unternommen wurden, war die Erfahrung auf der Ebene des täglichen Zusammenlebens und der Beziehungen zwischen den Gemeinden und der Staatsmacht vielseitiger und intensiver.
Einige Vertreter der Orthodoxen Kirche, die ja über Jahrhunderte die ideologische Grundlage des Russischen Reiches bildete, versuchten allerdings, sich dem Islam zu nähern. Für sie ist das Wichtigste nicht, woran man glaubt, sondern wie man glaubt – in dieser Frage sei die Orthodoxe Kirche dem Islam näher als der westlichen Variante des Christentums.
Moskau als das dritte Rom
Seit dem Mittelalter bildete sich das russische Bewusstsein durch Abgrenzung gegenüber Anderen aus, primär gegenüber dem Westen. Schon damals wollte Russland seine besonderen Eigenschaften hervorheben. Vieles wurde in Anlehnung an die byzantinische Tradition entwickelt: Moskau als das „dritte Rom”. Vor allem aber wollte Russland schon damals seinen eigenen Weg suchen, was angesichts der Realität des Landes, das sich schon immer nur teilweise in Europa befand, zu einem Versuch nicht nur der praktischen, täglich gelebten Verständigung mit nichtrussischen Bürgern, sondern auch der ideologischen Synthese mit islamischen Traditionen führen sollte. Mehr noch, die politische Tradition des Russischen Reiches war der islamischen sehr nah: Die Gemeinschaft – Staat bzw. Umma – war wichtiger als der einzelne Mensch.
Ein Grundsatz russischer Kultur besteht darin, dass sie einen prinzipiellen Zweifel über die Möglichkeit der Anwendung westlicher Erfahrung auf Russland und überhaupt auf die „nichtwestliche” Welt pflegt. Die religiöse Komponente dieser russischen Kultur spielte und spielt bis heute eine zentrale Rolle, was immer wichtig war auch für die Beziehung zum Islam. Die theologische Analyse und die dogmatischen Unterschiede zwischen dem Christentum und dem Islam spielen eine Nebenrolle. Viel wichtiger ist der emotionale Zugang zum Partner: Empathie oder Antipathie. Für viele Russen war und ist die islamische Lebensweise – die Hochschätzung der Familie, die gegenseitige Hilfe, die starke Religiosität – sehr anziehend. Der Islam wird als geistiges Potenzial für die Stärkung der russischen Gesellschaft, für den Kampf gegen Probleme wie Alkoholismus, niedrige Geburtenrate, häufiger Zerfall der Familie, mangelnde Generationensolidarität, Probleme mit der Erziehung der Kinder, Individualismus usw. betrachtet. Die ethnische und religiöse Vielfalt des Landes wird als Chance gesehen, wenn man die Stärken der jeweiligen Gemeinden für das ganze Land nutzen kann. Dafür wird ein Koran-Vers als programmatisch angesehen:
“O ihr Menschen, Wir haben euch ja von einem männlichen und einem weiblichen Wesen erschaffen, und Wir haben euch zu Völkern und Stämmen gemacht, damit ihr einander kennenlernt. Gewiß, der Geehrteste von euch bei Allah ist der Gottesfürchtigste von euch. Gewiß, Allah ist Allwissend und Allkundig.” (49:13)
Die Beziehung zwischen der nationalen und der religiösen Identität ist grundlegend: Nach einer Umfrage aus dem Jahr 20151 empfanden 21 Prozent der Muslime gegenüber Russland Stolz, 31 Prozent Respekt, 8 Prozent Gleichgültigkeit, 3 Prozent Scham, 4 Prozent Ärger. 23 Prozent hatten Schwierigkeiten, auf diese Fragen zu antworten.
Allerdings ist zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen der Muslime zu unterscheiden, insbesonders zwischen der kaukasischen und der tatarischen. Der Kaukasus ist durch Ethnozentrismus und innere Spaltung gezeichnet. Hingegen unterscheiden sich die Tataren in kultureller Hinsicht kaum von den ethnischen Russen. Insgesamt halten 91 Prozent der Muslime gute Beziehungen zwischen den Vertretern verschiedener Nationalitäten für wichtig (zum Vergleich: Unter Orthodoxen sind es 89 Prozent).
Die Einstellung der Muslime zu Russland zeigt deutlich, dass ihre eigentlich islamischen Werte mit dem Gedanken des russischen Sonderwegs und dem daraus stammenden Gefühl nationaler Überlegenheit in vielem übereinstimmen. Nach der erwähnten Umfrage denken 73 Prozent der in Russland lebenden Muslime, dass Russland besser als andere Länder sei (77 Prozent der Orthodoxen); 92 Prozent lieben das Land so, wie es ist (ebenso 92 Prozent der Orthodoxen); 58 Prozent wollen ausländische Einflüsse bekämpfen oder tun es bereits (ebenso 58 Prozent der Atheisten, aber 69 Prozent der Orthodoxen). Was „gute Kenntnisse der Geschichte und der Kultur des Landes” anbetrifft, liegt der Wert unter Muslimen bei 89 Prozent unter Orthodoxen bei 92 Prozent. Bemerkenswert ist, dass weniger Muslime als Orthodoxe wollen, dass andere Menschen Russland fürchten (42 Prozent der Muslime, 45 Prozent der Orthodoxen). Im Ganzen allerdings unterscheiden sich Muslime in ihrer Einstellung zum Land kaum von Orthodoxen.
Die Komplexität der gegenseitigen Wirkung des islamischen und des russischen Selbstverständnisses spiegelt einerseits die Komplexität Russlands selbst, in dem verschiedene Gruppen sich als Teil der europäischen, der asiatischen oder der „euroasiatischen” Welt betrachten. Das spiegelt auch die Komplexität des Islams selbst, mit seinen vielen ethnischen Gruppen, aber auch mit seinen Wandlungen und mit neuen Einflüssen wie dem der Wahhabiten oder dem moderner islamistischer Strömungen. Neue Einwanderer aus Zentralasien bringen eine neue Dimension des Islams nach Russland. Wie die Geschichte weiter geht und ob der Einfluss der Islamisten den Konsens zwischen den Vertretern der verschiedenen Religionen in Russland schwächen oder sogar zerstören kann, ist eine offene Frage. Die letzten Terroranschläge, an denen meist Muslime aus Zentralasien beteiligt waren, und die Verbreitung der islamistischen „Partei der Befreiung” („Hizbu al‘Tahrir”) in Russland geben Anlass zur Sorge; diese Partei wurde in Palästina gegründet, verlegte aber, nachdem Jordanien sie erfolgreich bekämpft hatte, ihr Zentrum ins Fergana-Tal in Uzbekistan und in den Süden von Kirgisien.
Der Islam in Zentralasien war bis zuletzt meist tolerant und weltoffen. Im Russischen Reich und in der Sowjetunion haben die Muslime sich daran gewöhnt, mit Vertretern anderer Völker und anderer Religionen zusammenzuleben und sich gegenseitig zu respektieren. Turksprachige Muslime in Zentralasien und in Russland gehören zur hanifitischen Rechtsschule, die als relativ tolerant gilt, besonders im Vergleich zur hanbalitischen Rechtsschule.
Angesichts neuer Herausforderungen, die mit dem Entstehen totalitärer islamistischer Bewegungen verbunden sind, gibt die Erfahrung des tausendjährigen Zusammenlebens von Muslimen und von Vertretern anderer Völker und Religionen auf dem riesigen Gebiet des heutigen Russlands und von Zentralasien die Hoffnung, dass heutige und künftige Generationen dieses Erbe der Toleranz und des gegenseitigen Respekts erhalten und außerdem ein Beispiel für jene Länder geben, die jetzt einen Weg suchen, das Zusammenleben von Muslimen und Christen zu gestalten.