Vieles in der Welt ist im Umbruch, ohne dass klar ist, wohin das Viele sich entwickelt. Viele Menschen beklagen Orientierungslosigkeit, erleben sich als verwirrt, unsicher, haltlos. Pläne kann man kaum mehr machen, auch nicht für Institutionen. Wer sich ein Haus baut, weiß nicht, ob dieses in zehn Jahren noch zu den Bedürfnissen passt und ob er oder sie darin noch wohnen wird. Die Digitalisierung verändert radikal alles Miteinander, zugleich ist eine klare Gestalt der künftigen Kommunikation noch nicht erkennbar. Ältere Menschen sind verwirrt, weil die junge Generation „so anders tickt“; Junge hingegen sind nicht nur digital natives, sie reisen auch häufiger und weiter, sind universaler orientiert, multikultureller – aber sind sie deswegen auch gebildeter? Unsicherheit schafft Ängste: diffuse vor der Zukunft im Allgemeinen, aber auch konkrete, etwa vor sozialem Abstieg, vor Verlust von Identität und Heimat.
Lokale Kollektive neigen in solchen Zeiten vermehrt zum Regionalismus: Katalanen wollen ihre Region von Spanien abspalten. Polen und Ungarn betonen ihre nationale Identität. Die USA geben – America first – ihren Interessen Priorität. Israel schottet sich mit Zwei-Klassen-Gesetzen und mit Mauern von Palästina ab. Großbritannien will die EU verlassen. In Deutschland will die AfD – gegen das christliche Ethos – Migranten und damit deren Religionen und Kulturen aussperren und beansprucht absurderweise dabei, „das christliche Abendland“ retten zu wollen. Transnationale Kollektive wie die EU und in ähnlicher Weise die UNO haben zunehmend Mühe, einen gemeinsamen Willen ihrer Mitglieder zu bilden und in Politik umzuformen.
Und die Kirche? Auch hier wird seit Jahrzehnten von der ungeliebten römischen Zentrale gefordert, sie solle mehr Vielfalt christlicher Lebenskulturen und mehr regionale Entscheidungskompetenz zulassen. In diesem Trend zum Regionalen ist manches verständlich: Lokale Kulturen wollen Heimat, Identität und Sicherheit vermitteln. Andere Aspekte sind eher kritisch zu sehen: Regionale Einheiten wollen ihre Partikularinteressen gegen den größeren Verband durchsetzen. So ignorieren beispielsweise die reichen USA im Klimaschutz die Solidarität mit armen Ländern, oder das reiche Katalonien kündigt seine Unterstützung des spanischen Staates auf.
Hingegen halten Zentralen an ihrer Bedeutung und an ihrer Position fest: Die Madrider Regierung arbeitet gegen katalanische Abspaltungstendenzen. Die EU oder ähnlich die UNO behaupten weiterhin ihren einheitsstiftenden Auftrag und ihre Friedenswirkung. Auch der Vatikan hält an seiner bindenden Kraft fest: Das Papsttum als starkes öffentliches Symbol hat hohe identitätsbildende Wirkung. Andererseits werden beim Vatikan wie bei der EU oder der UNO die Erstarrung und Realitätsblindheit der riesigen Verwaltungsapparate kritisiert – niemand braucht ein Raumschiff, das steuerlos und ohne Kontakt zur Bodenstation im All treibt. Es bleibt ein zwiespältiger Eindruck, wenn die Zentralen zäh am Anliegen der Einheit festhalten: Zum einen spielen zweifellos Interessen von Macht und Kontrolle mit – als Argument dient oft ein recht platter Rechtspositivismus, etwa das Insistieren der Madrider Regierung auf der spanischen Verfassung. Zum anderen fordern Zentralen – ethisch sinnvoll – die Solidarität der starken Regionen gegenüber den schwachen, oder sie sorgen sich vor dem Zerfall in engen Provinzialismus, in egoistischen Partikularismus oder in chaotische Zustände.
Die Welt hat sich universal vernetzt, und dieser Prozess schreitet fort, in atemberaubendem Tempo. Damit die globalisierte Welt funktioniert, braucht es Austausch, Begegnung der Kulturen, Kommunikation. Letztere gelingt nur, wo sie frei und angstfrei geschehen darf. Wer Kommunikation kontrollieren oder unterdrücken will, wer etwa mit Geheimhaltung arbeitet oder Widerspruch und Opposition unterdrückt, wird auf lange Sicht nicht reüssieren. Wie für Staaten gilt das für die Kirche. Regionale Abschottung, Ausgrenzung von anderen Kulturen und Religionen, Spitzelsysteme, geistige oder reale Mauern führen zu Marginalisierung und zum Niedergang.
Historiker können aufzeigen: Innovation und kultureller Aufschwung entstanden immer dort, wo Völker und Kulturen in Dialog traten; so als das Griechentum nach Rom kam, als in der Krise Roms die Völker Europas wanderten, als das mittelalterliche Europa dem kulturell überlegenen arabischen Islam begegnete oder als aus den Ländern Europas Millionen Armutsmigranten nach Nordamerika auswanderten. Vieles ging nicht ohne Krisen und leider oft nur mit Gewalt, aber Fortschritt kommt nur über Vielfalt, Dialog und Auseinandersetzung. Auch kann man zeigen, dass eine Demokratie, in der nicht einer immer Recht hat, sondern viele streiten und Kompromisse aushandeln, langfristig effektiver und erfolgreicher wirkt als ein einzelner autokratischer Herrscher, der seinen Willen – und seine Ängste um Ansehen und Macht – durchsetzt, aber der komplexen Realität weniger gerecht wird.
Taugt die Kirche als Modell für die nötige Balance zwischen Regionalismus und Universalismus? Lange funktionierte sie – gegen anderslautende Gerüchte – sehr dezentral, denn schon die auf Entfernung schwachen Kommunikationsmittel ließen zentrale Steuerung nicht zu. Erst das Trienter Konzil (1545-1563) band die Lokalkirchen mehr an Rom, aber umgesetzt wurden viele Beschlüsse erst Jahrhunderte später. Im 19. Jahrhundert setzte sich – teilweise nach dem Vorbild des fürstlichen Absolutismus – ein bürokratischer Zentralismus durch, der sich nach dem Zweiten Vatikanum teilweise noch verstärkte. Nun will Papst Franziskus dezentralisieren, gegen den Willen mancher Kurialer; so stärkt er für Bibelübersetzungen und für liturgische Fragen die Bischofskonferenzen, für manche moralische Frage setzt er – gegen erbitterten Widerstand – auf verantwortliche, der Einzelsituation angemessene Lösungen. Sein Vorgehen steht in jesuitischer Tradition: eine starke zentrale Leitung mit klaren, für alle gültigen Regeln und zugleich viel Spielraum für lokale, kulturell und individuell angepasste Konkretionen, und alles mit einem grundlegenden Gottvertrauen.