Barmherzigkeit im interreligiösen DialogDer globale Ansatz des "Projekt Weltethos"

Auf der Suche nach einem Zusammenleben im globalen Frieden verabschiedeten Vertreter der Weltreligionen 1993 die „Erklärung zum Weltethos“. Hermann Häring rekonstruiert die Genese dieses Großprojekts von Hans Küng und erklärt, welche Rolle Barmherzigkeit und Gerechtigkeit dabei spielen.

Während des letzten Konklaves (12./13.03.2013) überreichte Walter Kasper dem Kardinalskollegen Jorge Bergoglio sein neues, ins Spanische übersetzte Buch über die Barmherzigkeit.1 Der kommende Papst war wohl sehr angetan, denn vier Tage später lobte er bei seinem ersten Angelusgebet dieses Buch und erklärte, das Wort von der Barmherzigkeit verändere die Welt. Zwei Jahre später rief er ein Heiliges Jahr der Barmherzigkeit aus und setzte damit ein starkes Zeichen;2 er wollte dem kirchlichen Handeln nach innen und nach außen ein neues Gesicht geben. Barmherzigkeit erklärte er zum Kernbegriff der christlichen Botschaft schlechthin. In ihr offenbare sich „das Geheimnis der Allerheiligsten Dreifaltigkeit“ und sie sei „der letzte und endgültige Akt, mit dem Gott uns entgegentritt“ (Misericordiae Vultus, MV). In einem späteren Interviewband wird er handschriftlich erklären: „Der Name Gottes ist Barmherzigkeit“3. Angesichts der weit verbreiteten Kritik an einem rigiden, autoritären und unbarmherzigen Kirchensystem fand diese Initiative weltweite Sympathie, zumal sich der Papst als der glaubwürdige und hoch engagierte Botschafter einer in Barmherzigkeit erneuerten Kirche erwies. Seitdem gilt er in Person als der beste Interpret seiner Initiative.
Davon leben bislang zahlreiche innerkirchliche Reaktionen. Man würdigte die Barmherzigkeit als den großen Interpretationsrahmen des päpstlichen Handelns und rückte den Ruf nach Barmherzigkeit weltweit in den Mittelpunkt kirchlicher Verkündigung. Doch Kritik an dieser entschlossenen pastoralen Ausrichtung entzündete sich unerwartet an der Frage: In welchem Ausmaß darf diese neue Kernregel das bisherige pastorale Handeln außer Kraft setzen? Man kann es am prominenten und leidenschaftlichen Widerstand gegen das päpstliche Schreiben Amoris laetitia erkennen. Mehr im Hintergrund blieb die abstrakt gehaltene Frage, wie sich Recht und Gerechtigkeit zur Barmherzigkeit verhalten.4 Heftig dagegen wird über einen barmherzigen Umgang mit Wiederverheirateten diskutiert. Diese Debatte ist noch lange nicht zu Ende geführt und wird langfristig einen differenzierteren Blick auf biblische Begründung und Geschichte der christlichen Ehe, auf deren sakramentalen Charakter und Unauflöslichkeit erzwingen.
Auch Begriff und Funktion des Wortes Barmherzigkeit sind ungeklärt. Sie erstrecken sich vom kämpferischen Gerechtigkeitseifer bis zur zärtlichen Zuwendung, von einem Rechtsprinzip bis zu einer innerlichen Gemütslage. Ihre Verwendung wird stark vom jeweiligen Kontext bestimmt. Manche päpstlichen Texte erwecken sogar den Eindruck, Barmherzigkeit sei nur Gott und der Kirche möglich.5 Kommt die Barmherzigkeit zur Gerechtigkeit hinzu oder ist sie schon immer ein integraler Bestandteil der Gerechtigkeit? Oft werden die Debatten noch von solchen semantischen, biblisch-exegetischen oder kontextuellen Fragen blockiert. In kirchlich pastoralen Zusammenhängen schwingen schnell paternalistische Töne mit, denn barmherzig sind primär die Spender der Sakramente und diejenigen, die im Namen einer Kirche handeln, die noch immer als „Mutter und Lehrerin“ umschrieben wird, auch wenn sie ärztliche Lazarettdienste verrichtet.
Diese Blockaden werden besprechbar, wenn wir die von Papst Franziskus gestartete Barmherzigkeitsinitiative mit anderen zukunftsweisenden Programmen vergleichen und in einen umfassenderen Diskurs einordnen. Diesen Diskurs hat die interkulturell agierende Zeitschrift „Concilium“ mit ihrer Themennummer „Barmherzigkeit“ eröffnet, die u.a. auf das von J. B. Metz entwickelte Weltprogramm Compassion6, auf den Koran und auf andere Konzepte zu sprechen kommt. Dieser vergleichende Diskurs sei hier mit einem Blick auf das Projekt Weltethos (PWE) erweitert. Es geht auf den Beginn der 1990er-Jahre zurück, als der Ost-West-Konflikt zusammenbrach und neue Visionen sich zwischen Euphorie und Pessimismus die Waage hielten, der Erwartung des ökonomisch aufblühenden Einzugs aller Völker in die neue Weltstadt des Friedens7 und dem Schrecken vor einem militärisch weltweiten Kampf der Kulturen.8 Hans Küng hingegen fragte nach einem neuen Orientierungswissen, das die Zukunft und den Frieden der Menschheit wirksam fördern kann: Wie können wir miteinander dauerhaft glücklich leben?9 Eine mehrjährige Konsultation mit namhaften Vertretern der Weltreligionen führte zur „Erklärung zum Weltethos“. Sie wurde 1993 in Chicago vom 2. Parlament der Weltreligionen verabschiedet und ist bis heute der wichtigste Referenztext des PWE geblieben.10 Hier wird das PWE mit anderen Konzepten verglichen. Die Stichworte lauten: (1) Interreligiosität, (2) Umgang mit dem Leiden, (3) konkreter Blick auf die Menschheit, (4) Erinnerung an das Unrecht, (5) Heilige Leidenschaft.

Das Projekt Weltethos im Vergleich

(1) Interreligiosität:

Bis heute lebt das PWE von einer überraschenden Entdeckung: Die Weltreligionen zeigen ihre tiefgreifenden und friedensfähigen Verwandtschaften gerade nicht über bestimmte Lehrinhalte oder Selbstdefinitionen. Diese bleiben unüberwindlich in kulturelle Unterschiede verwoben, sodass ihre Gottes-, Welt- und Menschenbilder ständig zu Konflikten Anlass geben. Die Friedenspotenz der Weltreligionen erschließt sich in zentralen Werten, Haltungen und Handlungsanweisungen, die lebenspraktisch verankert sind und deren Verletzung als Versagen oder Schuld wahrgenommen wird. Diese Entdeckung führt zu einem praxeologischen Ansatz.11 Im Gegensatz zu einer an Normen orientierten Pflichtethik ist von einem Ethos, also einem Verhalten die Rede, das schon ins Alltagsleben eingesenkt ist und von den Menschen als sinnvoll erfahren wird. Das tiefste und zugleich verbindende Anliegen der Weltreligionen ist ein vorreflexives und in der Erfahrung bewährtes Ja zu Mensch und Menschheit, wie es heute in einer Kultur der Humanität zum Ausdruck kommt. Dieses Ja entspricht einer vorreligiösen, spezifisch menschlichen Grundkonstitution, die sich als Leiblichkeit, gegenseitige Abhängigkeit, Kommunikation und Sexualität beschreiben lässt. Wer den Paradigmenwechsel dieser neuen Wahrnehmung nicht erkennt, kommt über das simplistische Missverständnis eines ethischen Minimalkonsenses nicht hinaus. Aus der neuen Perspektive ergibt sich, wie in der genannten Erklärung dargelegt, ein Ethos des Lebensrespekts, der Gerechtigkeit, der Wahrhaftigkeit und gegenseitigen Treue. Die alles umgreifende Goldene Regel, in allen Weltreligionen zu finden, muss sich nicht vor einem intellektuell-abstrahierenden Denkmodell, etwa vom kategorischen Imperativ, geschlagen geben,12 denn dieses universale Ethos misst sich nicht an einem abstrakten, über der Welt hockenden Wesen „Mensch“, sondern an den legitimen Erwartungen, Sehnsüchten und Bedürfnissen konkreter Menschen, wann und wo auch immer sie leben und Nachteilen ausgesetzt sind.
Genau dieser Charakterzug entspricht dem innersten Ziel der Barmherzigkeit, die erst beim Blick auf bedürftige Menschen zur Ruhe kommt. Zugleich überbietet das PWE die Universalität des christlichen Liebesgebots. Es lebt nicht nur aus einem spezifisch christlichen Universalitätsanspruch, der in Jesus Christus begründet ist und – verdeckt oder nicht – immer eine undialogische Überlegenheit ausstrahlt. Vielmehr ist dieser Universalitätsanspruch, wie das PWE aufzeigt, mit allen Weltreligionen und humanistischen Weltanschauungen deckungsgleich. Im PWE begegnen sie sich zum ersten Mal auf gleicher Augenhöhe. Von einem positiven Herrschaftsuniversalismus, der „allen möglichen Kulturen“ die eigenen Werte aufoktroyiert, kann keine Rede sein.13

(2) Umgang mit dem Leiden:

Eine zweite Stärke des PWE lässt sich gut an einer von Hille Haker wiederholt bemühten Gegenüberstellung illustrieren. Mit Zustimmung erkennt sie im Compassion-Programm von J. B. Metz14 einen „negativen Universalismus“, dem das Leiden an Ungerechtigkeit zugrunde liege; Metz lasse sich von konkreten geschichtlichen Leidenserfahrungen leiten. Küng dagegen gehe – sozusagen naiv Hermann Häring 248 positiv – von anerkannten Werten aus. Unterschwellig nährt Haker den Verdacht einer liberalistisch-willfährigen Kultur, die „niemandem weh tut und deshalb nichts verändern kann“ (Haker 2001, 436). Allerdings stößt diese Gegenüberstellung ins Leere, denn der Begriff „negativer Universalismus“ ist zu ungenau und wohl auch zu widersprüchlich, um irgendetwas zu definieren. Metz ergibt sich ja nicht in nihilistischer Attitüde negativen Erfahrungen hin, vielmehr hält er mit großer Leidenschaft an einer positiven Dynamik fest, die Haker als eschatologisch umschreibt. Im Gegenzug will das PWE der Welt gerade nicht einige Normen überstülpen, die das Böse überwinden sollen, vielmehr schlägt es einen komplexen Entgiftungsprozess vor, der die Friedenskompetenz der Weltreligionen geduldig zum Tragen bringt.15 Sollte Metz sein spezifisch christliches Compassion-Programm wirklich als „innertheologischen Counterpart“ zum PWE begreifen (Haker ebd.), dann hätte er es schlicht missverstanden, weil es auf einer interreligiös einvernehmlichen Dialog- und Handlungsebene angesiedelt ist.
Gerade weil das spezifisch christliche Programm der Compassion eine leidenschaftlich innovative Absicht stimuliert, kann es das weltethisch orientierte PWE nicht beunruhigen, sondern nur bereichern, denn das PWE bezieht möglichst viele Kulturen, natürlich auch die christliche Tradition, in den Friedensprozess ein. Es ist nicht nur wirklichkeitsbezogen und global dimensioniert, sondern auch interreligiös konsensfähig. Deshalb drängt es „die einzelnen Glaubensgemeinschaften“ dazu, „ihr ganz spezifisches Ethos zu formulieren“. Genau sie werden „das schon jetzt erkennbare Weltethos vertiefen, spezifizieren und konkretisieren“ (Erkl. IV, 3).

(3) Konkreter Blick auf die Menschheit:

Den genannten Programmen vergleichbar reagiert das PWE programmatisch auf das Leiden von Mensch und Menschheit. Einleitend geht die Erklärung zum WE von der fundamentalen Krise von Weltwirtschaft, Weltökonomie und Weltpolitik aus. Sie erinnert an „Arbeitslosigkeit, Armut, Hunger und Zerstörung der Familien“. „Kinder sterben, töten und werden getötet.“ Erinnert wird an Korruption, an „soziale, rassische und ethische Konflikte“, an „Drogenmissbrauch, organisiertes Verbrechen, ja Anarchie“. Verwiesen wird auf die Angst, die uns umgibt, und auf einen rücksichtslos geplünderten Globus. Dieses Übermaß an Problemen ist es, zu deren Bewältigung das PWE die Friedenskraft aller Weltreligionen aktiviert, verstanden als „eine Vision, welche Frauen und Männer von der Verzweiflung und der Gewaltbereitschaft und die Gesellschaften weg vom Chaos zu führen vermag.“ Bei jeder der vier Weisungen – Gewaltlosigkeit, Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit und Partnerschaft – wird diese menschliche und gesellschaftliche Krise unter neuen Aspekten vertieft. Eine Kultur der Gewaltlosigkeit hat es aufzunehmen mit Tötung und Gewalt in all ihren konkreten Formen.16 Eine Kultur der solidarischen Gerechtigkeit lebt aus dem leidenschaftlichen Kampf gegen alles soziale Unrecht.17 Eine Kultur der Wahrhaftigkeit und Toleranz nimmt den Kampf auf gegen alle politischen und gesellschaftlichen Gestalten von Schwindel und Heuchelei.18 Die vierte Weisung zu Gleichberechtigung und Partnerschaft zwischen Mann und Frau entlarvt alles unverantwortliche Handeln im Bereich von Liebe, Sexualität und Familie.19

Genau dies sind die Sprache und das Sprachniveau, in denen eine durchdringende interreligiöse Verständigung wachsen kann. Nicht vom Idealismus geschliffene und selbstreflexive brillante Formeln bringen uns weiter. Vielmehr muss die Sprache sachbezogen, in andere Sprachen gut übersetzbar und in anderen Kulturen verständlich sein. Wenn sie wirksam werden sollen, müssen selbst die hohen Begriffe wie Barmherzigkeit, Leidenschaft und Empathie nicht primär der Selbstvergewisserung dienen. Vielmehr gilt es, den Blick für die Katastrophen der Welt zu schärfen, in denen Menschen untergehen.

(4) Erinnerung an das Unrecht:

Das PWE kann auch die von der Politischen Theologie vorgetragene Forderung nach einer anamnetischen Vernunft nur bestätigen. Wer an die reale Weltsituation erinnern und aus ihr lernen will, muss sich, wie schon gesagt, konsequent mit dieser Wirklichkeit auseinandersetzen. Im globalen, interreligiös wirksamen Diskurs ist dies wichtiger als ein Übermaß an hermeneutischen Anweisungen, die aus einer spezifisch westlichen Tradition leben. Bei Küng deutet sich schon 1970 ein Paradigmenwechsel zur Sprache einer konkreten Erinnerung an.20 Schon 1974 führte dieser von der Schrift gebotene Bruch zu einer Erzählung, die die Erinnerung an Jesus von Nazareth konsequent zum Maßstab seines weiteren Denkens nimmt.21 Küng sprach damals von einer „Christologie von unten“, deren Brisanz (J. B. Metz spricht von „gefährlicher Erinnerung“) er und seine Kritiker sofort erkannten, weil dieser Entwurf im katholischen Raum zu einem theologischen Erdbeben führte.
So gelang es Küng in historisch kritischer Verantwortung, die menschliche und politische Dramatik der erstaunlichen Lebenspraxis Jesu darzustellen, eines Lebens nämlich, das in der Katastrophe endete (und dennoch zu einem Neubeginn führte). Denn Jesus stand denjenigen bei, die ihn gerade brauchten (Christ Sein, CS 325- 327). Er war parteiisch für die sozial und kulturell Benachteiligten (CS 335-345). In prophetischer Radikalität rüttelte er an den Fundamenten einer wohletablierten Religion (263-264) und wirbelte die politisch eingebürgerten Schemata seiner Epoche durcheinander. Die Erschütterung des jüdischen Heilssystems war nicht mehr zu überbieten. Mehr noch, unklar wurde plötzlich, ob Jesus ein Gesetzes- oder ein Irrlehrer war, ein Prophet oder ein Lügner, Gottes letzte Autorität oder Gotteslästerer, Opfer einer verstockten Priesterschaft oder Störer der gottgegebenen Ordnung (CS 369-373). In dieser de-konstruierenden Erinnerung erscheint Gott als „Gott der Befreiung“22 und als „Vater der Verlorenen“ (Existiert Gott?, EG 894-896), da sogar Jesus in Gottverlassenheit stirbt (EG 898). 
Hier ist genau zuzuhören, denn diese Texte halten dem kompromisslosen Verweis auf Situationen des Unrechts und des Leidens stand, der später auch die Erklärung zum PWE durchzieht. Dieser radikale Blick, der sich bis in den innersten Raum der christlichen Verkündigung einer Landschaft aus Schreien stellt, befähigte Küng zur radikalen Erweiterung seines Horizonts. Das PWE beschränkt sich nicht mehr auf eine spezifisch christliche Perspektive, sondern begibt sich auf eine interreligiöse, globale Plattform. Jetzt konnte das PWE einen global-operativen Ansatz zu einem Kampf gegen das Leiden entwickeln, der alle Religionen zu einem gemeinsamen Handeln zusammenführt.

(5) Heilige Leidenschaft:

Vermutlich erhält der Appell des Papstes so viel Aufmerksamkeit, weil er die moralische Pflicht zu Gerechtigkeit und Frieden mit einer emotionalen Beziehung zu anderen, besonders den benachteiligten Menschen verbindet. Auf Grund einer tief empfundenen Empathie rückt er eine Solidarität in den Mittelpunkt, die geradezu sinnlich und körperlich erfahren wird.23 Der Papst hat Recht. Zwischenmenschlich und politisch wirksam wird nur eine Ethik, die als sinnvoll erfahren, von Emotionen beflügelt und von inneren Haltungen stabilisiert, also zum erfahrbaren Ethos wird. Mit guten Gründen geht die amerikanische Moralphilosophin Martha Nussbaum solchen Zusammenhängen nach,24 die – anders als eine kantianische Ethik – für die Praxis der Weltreligionen selbstverständlich sind. Religiöse Askese, Spiritualität und Mystik arbeiteten schon immer hin auf die innere Integration von Existenz, Leidenschaft und verantwortlichem Verhalten.
Das PWE spricht wiederholt von „verbindenden Werten, unverrückbaren Maßstäben und persönlichen Grundhaltungen“ (Erkl. I). Damit fügt es nicht einfach pleonastisch verwandte Begriffe zusammen, sondern zielt auf deren innere und existentielle Integration, auf die Kohärenz von gelebter Bejahung, sinnstiftender Forderung und einer Gesinnung, die zur leibhaften Gewohnheit wird. Zur Sprache kommen, wie das PWE sagt, „die innere Einstellung, die ganze Mentalität“, eben das „Herz“ des Menschen, „Umkehr“ und spirituelle Erneuerung (Erkl. II). Von ihr werden ein individueller und kollektiver Bewusstseinswandel sowie ein Erwecken unserer spirituellen Kräfte erwartet, die durch Reflexion, Meditation, Gebet und positives Denken zustande kommen (Erkl. IV).
So kann das PWE einem Konzept nur zustimmen, das Kants Engführung auf rational ermittelte Pflichten hinter sich lässt. Die Ehre der Goldenen Regel ist zu retten, denn sie orientiert sich nicht an universal gültigen Folgerungen, sondern an konkreten Situationen, ruft also zu einer sensiblen und immer aktiven Achtsamkeit auf, bis die Wertigkeit von Ich und Anderen konsequent austauschbar ist. Fertige Regeln reichen dazu nicht aus. Gemäß dem PWE braucht die Menschheit „nicht nur politische Programme und Aktionen. Sie bedarf einer Vision des friedlichen Zusammenlebens der Völker, der ethnischen und ethischen Gruppierungen, und der Religionen in gemeinsamer Verantwortung für unseren Planeten Erde“ (Erkl. I). Um des Friedens der gesamten Welt willen sind wir auf eine interreligiös gespeiste leidenschaftliche Vision angewiesen, in die sich biblische und christliche Visionen einordnen können.

Die umfassende Vision: barmherzige Gerechtigkeit

Unbestreitbar ist also, dass Papst Franziskus mit seinem Aufruf zur Barmherzigkeit einen äußerst wichtigen Prozess angestoßen hat. Gerade für die römisch-katholische Kirche mit ihrem rigiden Rechts-, Wahrheits- und Ordnungssystem ist er besonders dringlich. Denn diese Lebenswirklichkeit fördert auch eine kritische Engführung, sie zeigt sich als ein täterorientierter und statischer, weil göttlich legitimierter Rechtsraum. So schrumpfen die Taten der Gerechtigkeit zu einer wohlbegründeten Veranstaltung, die den objektiven Normen zur Geltung verhilft. Gnadenlose Kollateralschäden führen nicht zur Änderung des Rechts, sondern sind durch Barmherzigkeit auszugleichen. Das hat erstaunliche Folgen: Gegebenenfalls dürfen trotz objektiver Schuld Wiederverheiratete aus Gründen der Barmherzigkeit zur Kommunion gehen. Wirklich barmherzig kann nur sein, wer sich seiner eigenen Sünden bewusst ist, also am eigenen Leibe die Abhängigkeit von Barmherzigkeit erlernt hat.25 Letztlich steht Barmherzigkeit über der Gerechtigkeit und nur diese Barmherzigkeit zeugt von Gott.26 Es besteht die Neigung, die Gerechtigkeit zu degradieren und die Barmherzigkeit zur Tugend der Überlegenen hochzustilisieren. Wie ist damit umzugehen? Die Details dieser von Ethel L. Behrendt aufgeworfenen Streitfrage27 seien hier nicht diskutiert. Es wird aber erkennbar: Die beiden Kernbegriffe Gerechtigkeit und Barmherzigkeit lassen sich einander unterschiedlich zuordnen. So lenkt die Friedensforscherin Linda Hogan das Interesse auf die oft ausweglose Situation der Opfer, denen kein klassischer, bloß vergeltender Strafprozess mit seinen traditionellen Gerechtigkeitszielen, sondern nur ein Prozess „heilender Gerechtigkeit“ weiterhelfen kann.28 Diese wurde etwa von Bischof Desmond Tutu mit der Einrichtung der „Wahrheitskommissionen“ vorangetrieben.29 Die Kommissionen sollten auf ein lange anhaltendes, politisch und gesellschaftlich geronnenes Unrecht reagieren, das von den klassischen Rechtsinstanzen allein nicht mehr in Ordnung zu bringen war. Die neuen heilenden Mittel waren: eine direkte Begegnung von Tätern und Opfern, offene Eingeständnisse der Schuld, Bitte und Gewährung von Vergebung, Ausblick auf eine versöhnte gemeinsame Zukunft. In dieser heilenden Gerechtigkeit wird nicht das verletzte Recht nachträglich durch Akte der Barmherzigkeit korrigiert, vielmehr wird die Barmherzigkeit zur Initiatorin einer neuen Gerechtigkeit. Beide gehören jetzt engstens zusammen. Ziel der Barmherzigkeit ist es nicht, Gerechtigkeit nachträglich zu korrigieren, sondern eine neue Gerechtigkeit herbeizuführen. Es geht, wie Hogan sagt, um eine „von Erbarmen durchdrungene Gerechtigkeit“.
Dieser Gedanke führt auf die Spur des Judentums, in dem der „Gerechte“ (zaddiq) zum Ehrentitel und Ideal des gottgefälligen und gemeinschaftstreuen Menschen geworden ist. Die jüdisch-prophetische Vision verlässt sich auf eine Gerechtigkeit (zeddaqa), die Barmherzigkeit (Huld, Gnade, Zuneigung, Liebe) mit einschließt. Gemäß der Interpretation von Mouhanad Khorchide unterscheidet der Koran zwischen dem sündenvergebenden Allerbarmer (ar-Raḥīm) und Allah, der die Barmherzigkeit schlechthin (ar-Ramān) ist.30 In endzeitlicher Perspektive werden diese Worte geradezu austauschbar.
Diese Austauschbarkeit lässt sich aus interkultureller Perspektive bestätigen. Jan Assmann31 zeigte schon vor Jahren: Das Ideal eines letzten, göttlich garantierten Gleichgewichts, in dem sich alle aufgehoben wissen, verweist in vielen Kulturen auf einen Leitbegriff, der sich am besten mit „Gerechtigkeit“ übersetzen lässt, aber Glück, Güte und Liebe mit einschließt. Schon in den altorientalischen Kulturen war es „der politische Zentralbegriff, unter dem das Ganze des gesellschaftlichen Zusammenhangs … gedacht wurde“32. Alle diese Begriffe meinen eine Weltordnung. „Gerechtes Handeln ist ein Handeln in Übereinstimmung mit dem der Welt inhärenten Sinn.“

Die Menschenrechte als weltpolitische Hoffnung

In allen Kulturen treibt diese große Gerechtigkeit, diese zur Vision erhobene Menschheitshoffnung, die kleine Gerechtigkeit des weltpolitischen Alltags an und man kann es als ein glückliches Zeichen der Zeit betrachten: Heute ist diese große Gerechtigkeit im Gewand der säkularen Menschenrechte zur weltpolitischen Hoffnung avanciert. Dem PWE ist es gelungen, die Wurzeln dieser Hoffnung in den Weltreligionen offenzulegen und zu zeigen, dass und warum diese auch heute noch als die großen moralischen Weltagenturen gelten können. Mehr noch, in der Weiterentwicklung eines zentralen, sie alle verbindenden Ethos können sie angesichts einer intensiv globalisierten Epoche miteinander kooperieren.
Gewiss, in diesem Ethos hat die Barmherzigkeit ihren unverzichtbaren Platz, aber sie darf nicht die Gerechtigkeit als leitende Orientierungsmaxime verdrängen.33 Denn es wäre verheerend, wollte man real existierendes Unrecht im Namen der Barmherzigkeit selbstgefällig mildern, statt es im Namen der Gerechtigkeit selbstkritisch anzuprangern und zu korrigieren. Nur der Einsatz für eine respektvolle und solidarische, glaubwürdige und verlässliche Gerechtigkeit findet Anschluss an das Weltgespräch. Dass sie sich ohne Barmherzigkeit nicht realisieren lässt, das hat Papst Franziskus gesehen. Aber das Gespräch darüber ist noch nicht zu Ende. Die römisch-katholische Kirche hat noch einiges zu lernen.

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