Totschlagargument Zeitgeist

Eine Wanderlegende, auf die Ignatius von Loyola in seinen „Geistlichen Übungen“ anspielt (GÜ 351), erzählt: Bernhard von Clairvaux war ein großer Prediger. Er wusste das auch. Als er eines Tages wieder in Clermont-Ferrand in der brechend vollen Kathedrale sprach, konnte man eine Stecknadel fallen hören, so gebannt lauschten die Menschen dem faszinierenden Prediger. Da kletterte der Versucher (Ignatius formuliert: „Der Feind“) auf Bernhards Schulter und flüsterte ihm ins Ohr: „Bernhard, du bist wirklich ein fantastischer Prediger!“ Darauf wandte sich Bernhard dem Versucher zu und erwiderte: „Wegen dir habe ich nicht angefangen, wegen dir werde ich nicht aufhören.“

Die geistlichen Versuchungen sind Versuchungen unter dem Anschein des Guten. Welcher Mönch, der täglich das Evangelium meditiert und Jesus nachfolgen möchte, will sich schon Eitelkeit unterstellen lassen? Stimmt es vielleicht doch, dass er sich letztlich um sich selbst dreht, nicht um das Evangelium? Wer will das schon ausschließen können? Lieber hört er also zu predigen auf, als diese Verdunklung seines Zeugnisses zu riskieren. Besser nichts tun als möglicherweise gegen die Demut zu verstoßen. Bernhard durchschaut die Versuchung und widersteht ihr.

Andere Menschen werden nach demselben Schema versucht, zum Beispiel Personen, denen Wahrheitsliebe und Überzeugungstreue wichtig sind. Wer von ihnen ließe sich schon gerne unterstellen, sie liefen dem Zeitgeist hinterher, wenn sie zu einer Erkenntnis gekommen sind, die dummerweise dem Zeitgeist entspricht? Lieber verzichten sie darauf, eigene Erkenntnisse ernst zu nehmen, als sich Zeitgeistkonformität unterstellen zu lassen. Das ist allerdings nicht Standhaftigkeit gegenüber dem Zeitgeist, sondern Kapitulation vor dem Zeitgeist-Vorwurf.

In aktuellen Auseinandersetzungen um Fragen der kirchlichen Disziplin und Moral spielt jedenfalls die Warnung vor dem „Zeitgeist“ eine wichtige Rolle. Man braucht nur in den einschlägigen Internetportalen den Suchbegriff einzugeben und wird auf eine Fülle von Belegen stoßen. Bevorzugtes Schlachtfeld ist gegenwärtig der Streit um die Fußnote Nummer 351 von „Amoris Laetitia“ zum pastoralen Umgang mit wiederverheirateten Geschiedenen. Man kann aber auch andere Themen einsetzen. Der wohlfeile Vorwurf lautet immer wieder: Anpassung an den Zeitgeist. Es wird zwar zugleich konzediert, man müsse sich natürlich um eine „zeitgemäße Sprache“ bemühen, aber die Botschaft Jesu sei eben doch kantig und eine Zumutung für den Zeitgeist und in diesem Sinne „unzeitgemäß“.

Es ist erstaunlich zu sehen, wie sehr der Vorwurf der Zeitgeist-Konformität verfängt und auch einzuschüchtern vermag, gerade die „feinen Seelen“ (GÜ 349), wie Ignatius formuliert, „Seelen“ also, denen es eigentlich um die Sache und um die 226 Deutung der „Zeichen der Zeit“ im Sinne des Evangeliums geht, gerade nicht um taktische Kategorien wie „Anpassung“ oder „klare Kante“. Dabei ist der Vorwurf doch, schaut man näher hin, denkbar platt. Haben sich die Konzilsväter dem Zeitgeist gebeugt, als sie die Religionsfreiheit anerkannten, die Ergebnisse der modernen Naturwissenschaften rezipierten und die historisch-kritische Bibelexegese als eine legitime Form des Umgangs mit der Bibel ins Recht setzten? Beugt sich heute der angebliche Mainstream in der (westlichen) Kirche dem Zeitgeist, wenn er auf Erkenntnisse der modernen Psychologie und Anthropologie, der Frauenbewegung oder gar der Genderforschung eingeht? Bloß „klare Kante“ kann genauso zu einem Irrweg werden wie bloße „Anpassung“. Wer mit solchen Kategorien arbeitet, erspart sich eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den Fragen, die die Zeit im Sinne des biblischen „kairós“ stellt. Es ist zum Beispiel nichtssagend, gegen die „Ehe für alle“ zu sein, weil man „klare Kante“ zeigen will, genauso wie es nichtssagend ist, sie zu befürworten, weil man meint, sich „anpassen“ zu müssen.

Weil der Hinweis auf den „Zeitgeist“ inhaltsleer ist, funktioniert er gut als Totschlagargument. Dabei steckt hinter dem Hantieren mit dem inhaltsleeren Begriff noch ein weiterer Trick des „bösen Feindes“. Er spielt nämlich ein Versteckspiel. Auch das wusste Ignatius sehr genau: „Er will verborgen sein und nicht entdeckt werden“ (GÜ 326). Unausgesprochen ist ja in dem Zeitgeist-Vorwurf vorausgesetzt, dass der Zeitgeist generell vom Evangelium wegführe, also schlecht sei. Aber so platt wird es nicht gesagt. Der „böse Feind“ sagt nichts Inhaltliches über den Zeitgeist aus. Er versteckt sich hinter Inhaltsleere. Sonst könnte man ja nach Abwägung von Pro und Contra ein Werturteil fällen. Aber darum geht es gar nicht. Es geht darum, ein negatives Klischee aufzubauen, um sich davon zu distanzieren und so als Kämpfer für Wahrheit und Überzeugungstreue zu erscheinen und damit „feine Seelen“ in Versuchung zu führen.

Der fragwürdige Gewinn für diejenigen, die sich auf solche Denkungsart einlassen, ist ein tragisch-heroisches Selbstgefühl. Tapfere Minderheiten stemmen sich gegen einen übermächtigen Zeitgeist und halten die Fahne des Evangeliums hoch. „Klare Kante“ eben. Da ist das Opfer-Gefühl nicht weit entfernt, Freund-Feind-Kennung verbunden mit einer verqueren Leidensmystik. Wahrheitsfragen werden zu Loyalitätsfragen degradiert. In den Selbstbestätigungs-Zirkeln verhärtet sich diese Sicht. Auch diesen Mechanismus kannte Ignatius: „Wenn die Seele grob ist, bemüht sich der Feind, sie noch gröber zu machen.“ (GÜ 349) Ein krawalliger Katholizismus entsteht, der einen sinnlosen Kampf gegen einen Zeitgeist kämpft, den er gar nicht als die Attrappe durchschaut, mit der er selbst genarrt wird. Was empfiehlt sich da? Einfach die taktischen Kategorien beiseitelegen und sich der Sache stellen. Wahrheitsfragen sind weder Fragen der Anpassung noch solche der Verweigerung von Anpassung. Das lehrt die Unterscheidung der Geister.

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