Was ist eigentlich „Digitale Bildung“? Zunächst: „Digitale Bildung“ kann bedeuten, dass die neuen, digitalen Medien genutzt werden, um Inhalte aus der Welt in die Schule hinein zu vermitteln. Diese Aufgabe erledigten früher Bücher und andere Druckmedien. Heute können sie weitgehend von digitalen Medien ersetzt werden, zumal diese die Vermittlung in der Regel schneller, aktueller und anschaulicher leisten. Das ist durchaus ein Gewinn für den schulpädagogischen Alltag. Ähnliches gilt für die vielfältigen kreativen Möglichkeiten, die durch die neuen Medien eröffnet werden, bis in den künstlerischen Bereich hinein.
Das Problem, über das gegenwärtig in der politischen Debatte gestritten wird, ergibt sich aus dem Befund, dass die Schulen insbesondere auch im ländlichen Bereich nicht über genügend oder genügend schnellen Zugang zum World-Wide- Web verfügen; auch sonst sind die meisten Schulen nicht entsprechend ausgestattet, um die Möglichkeiten des digitalen Mediums auch tatsächlich zu nutzen. Wenn in der Öffentlichkeit beklagt wird, Deutschland hinke im internationalen Vergleich hinterher, dann ist meist dieser Aspekt digitaler Bildung gemeint.
Dass es sich mit der Ausstattung so verhält, hat viel mit unterschiedlichen, gesellschaftlich tief verankerten Traditionen und Mentalitäten zu tun. Im angelsächsisch geprägten Raum wird die Ausstattung der Schulen – zu der personelle Investitionen gehören – oft von großzügigen Alumni-Netzwerken und anderen privaten Sponsoren mitfinanziert. Das ist in Deutschland anders, auch an den Schulen in freier Trägerschaft einschließlich der kirchlichen Schulen. Hierzulande ist Schule Staatsangelegenheit, noch genauer: Landesangelegenheit. Alle starren auf das angekündigte – und unzureichende – Milliarden-Paket der Bundesregierung sowie auf die komplizierten Zuständigkeitsverhältnisse zwischen Bund, Ländern und Kommunen, während die Lehrenden und Lernenden in der Schule mit der digitalen Ausstattung nur im Schneckentempo vorankommen.
Doch mit „digitaler Bildung“ ist mehr gemeint. „Digitale Bildung“ will das Medium selbst zum Thema machen. Zu Recht. Jugendliche kommen zwar heute als „digital natives“ in die Schule und sind den Lehrkräften in der Regel weit voraus, was die Nutzung der entsprechenden Geräte betrifft. Doch das bedeutet noch nicht, dass ihr Umgang damit souverän ist. Die Medien bloß zu nutzen garantiert keinen reflektierten Umgang mit ihnen. Reflexionsfähigkeit ist aber das Ziel von Bildung. Lehrerinnen und Lehrer brauchen, um dieses Ziel zu erreichen, keineswegs dieselben Fertigkeiten in der Nutzung der Geräte zu haben, wie sie Jugendliche heute meist mit in die Schule bringen.
„Digitale Bildung“ in diesem weiteren Sinne ist heute bereits zum festen Bestandteil des schulischen Alltags geworden. Hier hat sich in den letzten Jahren sehr viel getan. Das Fach Informatik ist im Curriculum verankert. Es dient im Wesentlichen dazu, dass junge Menschen lernen, algorithmisch zu denken, und zu verstehen, wie Programmiersprache funktioniert und wie Rechner und Netzwerke gesteuert werden. Das Fach beansprucht nicht, dass alle Schüler zu Programmierern ausgebildet werden. Aufbau und Funktion eines Ottomotors werden ja auch im Physikunterricht vermittelt, obwohl nicht alle später die Motoren bauen werden.
Unsere Kultur ist aufgrund der digitalen Revolution global in eine Wendezeit eingetreten. Diese wird aus vielen guten Gründen mit anderen revolutionären Wendezeiten verglichen, als zum Beispiel die Schrift oder der Buchdruck erfunden wurden. Andere meinen sogar, dass die „digitale Wende“ noch tiefer in die Menschheitsgeschichte eingreift, vergleichbar einer evolutionsgeschichtlichen Emergenz wie der Schritt zum homo sapiens. Wendezeiten verändern jedenfalls nicht bloß Einzelaspekte von Kultur, sondern verändern das Vorzeichen vor der Gesamtheit einer Kultur. Alles was vorher war, ist noch da, aber alles steht in einem anderen Licht und muss deswegen neu verstanden werden. „Digitale Bildung“ betrifft also nicht nur einzelne Fächer, sondern das gesamte Curriculum. Es entstehen quer durch alle Fächer neue Fragen: Wie verändert das Internet die Demokratie? Wie verändert es die Arbeitswelt? Was können Regierungen und Konzerne mit Big Data machen? Was ist künstliche Intelligenz? Welche neuen Gerechtigkeitsfragen entstehen – übrigens bereits schon in der Schule? Überwindet der Mensch sich selbst hin zum Homo Deus, wie der Titel des Bestsellers von Yuval Harari lautet, der bezeichnenderweise im Januar dieses Jahres als Redner auf das Weltwirtschaftsforum in Davos eingeladen wurde? Was bedeutet es zu sagen, dass Maschinen selbst „denken“ und „entscheiden“ – in der Pflege, in der Medizin, bei der Waffenentwicklung? Fragen über Fragen, die zu Recht schon in der Schule bedacht werden sollten.
Ein weiteres Kernelement „digitaler Bildung“ zeigt sich im schulischen Alltag durch neuartige disziplinarische Fragestellungen. Sie tangieren den klassischen Bereich der Erziehung und Wertevermittlung. Hier sind Phänomene wie „Cyber- Mobbing“, „Sexting“ und ähnliches zu nennen. In der Regel kommen sie alle in dem gemeinsamen Nenner überein, dass Kinder und Jugendliche die Differenz und das Zusammenwirken von virtueller und realer Welt nicht verstehen und mit gelegentlich unvorstellbarer Naivität in die entsprechenden Fallen hineintappen, die zu langfristigen Schäden führen können, zumal das Internet nichts vergisst. Ein ganzer Kranz von Präventionsaufgaben, aber auch von neuartigen und komplexen Interventionsaufgaben hat sich hier für Schulen aufgetan.
In diesen Zusammenhang gehören auch neue Baustellen im Zusammenhang mit Transparenz und Datenschutz. „Digitale Bildung“ als Befähigung zu einem ethischen Urteil schließt heute zwingend Standards einer „Ethik der digitalen Kommunikation“ 373 (Klaus Schweinsberg, Stimmen der Zeit 3/2018) ein. Diese betrifft nicht nur Standards für die Alltagskommunikation zwischen Jugendlichen untereinander, sondern auch zwischen Schule und Schülern und ebenfalls zwischen Lehrern, Eltern und Schülern. Was bedeutet es zum Beispiel für die Beziehung zwischen Eltern und ihren Kindern, wenn schulische Informationen über das Verhalten und den aktuellen Leistungsstand der Kinder für die Eltern über „digitale Klassenbücher“ zeitnah einsichtig sind, wie es in manchen Ländern bereits der Fall ist? Wie viel Raum für geschützte Beratungs- und Entscheidungsprozesse in Schulen oder Familien bleibt angesichts der Beschleunigungseffekte digitaler Kommunikation?
Seit Jahren erklingt, wie eingangs erwähnt, in Politik und Medien die Klage, Deutschland hinke international bei der „digitalen Bildung“ hinterher und müsse endlich einen Sprung nach vorne machen. Dabei sind neben den genannten Ausstattungsfragen auch oft neue Unterrichtsmethoden wie „flipped classroom“ oder Prüfungsformate gemeint, die eine komplette Ausstattung aller Schülerinnen und Schüler mit Laptops, Tablets und/oder Smartphones durch die Schule voraussetzen. Oft wird dann mit „digitaler Bildung“ intendiert, den Prozess des Lernens selbst durch den Umgang mit digitalen Medien zu verändern, z.B. radikal zu individualisieren, wenn etwa in Zukunft Algorithmen den Schülern persönlich angepasste Lernaufgaben zuteilen sollen und Lehrer und Lehrerinnen maximal nur noch als Lernbegleiter gefragt sind. Der Preis solcher Konzepte ist der Verlust von öffentlichem Lerndiskurs und der Abbau der Lehrer-Schüler-Beziehung. Gegen solche radikalen Konzepte steht allerdings die Erkenntnis der Hattie-Studie und anderer Fachleute: Eine vertrauensvolle, lebendige Lehrer-Schüler-Beziehung ist nach wie vor der bei weitem wichtigste Faktor für Lernerfolge. Und mit Immanuel Kant bleibt festzuhalten, dass Aufklärung öffentlicher Verstandesgebrauch ist – weswegen Schule als Öffentlichkeitsraum nicht der totalen Individualisierung geopfert werden sollte.
Was also ist „digitale Bildung“? Eigentlich ganz einfach: Über digitale Bildung verfügt, wer im Umgang mit digitalen Medien selbstständig denken und urteilen kann. Bildung besteht nicht bloß in der Vermittlung von Fertigkeiten aller Art, sondern darin, dass junge Menschen sich im Umgang mit den Medien als denkende und kreative Subjekte entdecken, um sich als solche auch verantwortlich in der Welt bewegen zu können. Zuerst kommt das Denken, dann das (digitale) Medium. Letzteres ist Mittel zum Zweck. Debatten um „digitale Bildung“ verlieren das eigentliche Ziel aus dem Blick, wenn sie die Bedeutung des Mediums so sehr nach vorne schieben, dass das inhaltliche Anliegen von Bildung nur noch hinterher hinken kann. Es darf auch in Zeiten der digitalen Revolution um nicht weniger gehen als um Bildung im Sinne einer vertieften und verantworteten Urteilskraft freier Subjekte, die sich auch dann noch qualifiziert positionieren können, wenn die heute modernsten Medien in zwanzig oder vierzig Jahren schon wieder veraltet sind.