Im Januar 2018 stellte Stadtdekan Johannes zu Eltz bei einem Frankfurter Stadtkirchenforum einen Vorschlag für Segensfeiern zur Diskussion. Die Segensfeiern sollen gläubigen Paaren eine kirchliche Feier ermöglichen, denen eine katholische Eheschließung kirchenrechtlich nicht offensteht: gleichgeschlechtlichen, zivil wiederverheirateten und auch solchen Paaren, die – wie es heißt – „nach eigener Einschätzung für die Hochform eines Sakramentes nicht hinreichend disponiert sind“. Der Vorschlag ist, auch wenn er noch keine Praxis herstellt, von vielen als ein heilsames Entgegenkommen begrüßt worden. Auch andere kirchliche Amtsträger sind in den vergangenen Monaten für Segnungsfeiern als seelsorgliches Angebot für gleichgeschlechtliche Paare eingetreten; einige sind im Laufe der Diskussion bei ihrem Standpunkt geblieben, andere sind zurückgerudert. Das Neue an dem Frankfurter Vorschlag ist, dass der zuständige Limburger Bischof Dr. Georg Bätzing, ohne sich mit dem Vorschlag zu identifizieren, die öffentliche Diskussion zugelassen hat und inzwischen auch ein vom bischöflichen Ordinariat koordinierter Diskussionsprozess anläuft. Mit dem Frankfurt-Limburger Schritt versteht sich die amtliche Kirche insofern neu, als sie zu den Segnungsfeiern in einem offenen Diskussionsprozess vom sensus fidelium (dem Sinn der Gläubigen) eine Antwort erfragt. Diese Chance eines offenen Amtsverständnisses darf nicht vertan werden.
Offen über Segen zu sprechen, fällt der Kirche im Blick auf gleichgeschlechtliche Paare schwerer als im Blick auf zivilrechtlich geschiedene Partnerschaften. Dies hängt auch damit zusammen, dass zur Homosexualität nur ganz wenige Schriftstellen angeführt werden, diese allerdings refrainartig immer wieder bemüht werden. Dagegen ist klar festzuhalten, dass keine der biblischen Schriften Homosexualität im heutigen Verständnis kennt. Daniel Boyarin meinte, heute leitende Vorstellungen von Homosexualität seien erst dadurch entstanden, dass Homosexualität bei der Idealisierung des heterosexuell zeugungskräftigen Mannes im 19. Jahrhundert als defizitärer Kontrast dissoziiert wurde. Diese Auffassung ist sehr pointiert, aber sie legt doch den Finger auf wunde Punkte an verbreiteten Vorstellungen von gleichgeschlechtlicher Liebe. Die Bibel jedenfalls kennt Homosexualität nicht als Kontrastbegriff zur Heterosexualität.
Wenn Paulus in Röm 1,27 davon schreibt, dass Männer den natürlichen Verkehr mit Frauen aufgegeben haben und in Begierde zueinander entbrannt sind, wird dies oft als neutestamentlicher Kronzeuge gegen Homosexualität angeführt. Dies lässt sich aber nur dann so verstehen, wenn man den Zusammenhang von Paulus‘ Argumentation überliest: Paulus spricht hier nicht von Liebe, sondern von gleichgeschlechtlicher Begierde. Der hier verwendete Begriff orexis stammt aus der antiken Triebtheorie. Paulus nimmt überhandnehmende homosexuelle Begierde als ein Beispiel dafür, wie Menschen Gottes Gerechtigkeit verloren haben. Den Verlust von Gottes Gerechtigkeit und den moralischen Verfall, der damit einhergeht, beschreibt Paulus in immer größer werdenden Kreisen, um am Ende jedem seiner Leser zu sagen: „Darum bist (auch) du unentschuldbar – wer du auch bist, Mensch, wenn du richtest!“ (Röm 2,1). Von diesem Punkt aus treibt Paulus seinen Argumentationsgang über die soteriologische Ziellinie: Alle haben jetzt in Jesus Christus Rettung erfahren, ohne eigenes Verdienst, durch Gottes Gnade (Röm 3,23 f). Alle bedürfen deshalb des Segens Gottes in der Kraft der Hingabe Jesu bis zum Kreuz.
Schon als Jesus die Kinder segnend in seine Arme nimmt, kritisiert er damit seine Jünger. Diese sahen sich offenbar befugt, darüber zu entscheiden, wer zu Jesus zugelassen wird und wer nicht. Die Kinder, die zu Jesus gebracht werden, damit sie seine heilende Nähe erfahren, gehören für die Jünger offensichtlich nicht dazu. Es wird kein genaues Motiv der Jünger genannt, aber es lässt sich ahnen: Die familia Dei (Familie Gottes) um Jesus war für sie eine Sache von Erwachsenen. Erst als Zeugungsfähiger, mit 13 Jahren, galt ein junger Jude als voll verantwortlich gegenüber Gott und der Tora. Jesus aber nimmt Kinder in die Arme und segnet sie. Es ist ein prophetisches Zeichen, dass sie und viele andere Menschen, die nichts zählen in der Gesellschaft, nicht weniger zum Reich Gottes gehören als all die Heilsbesitzer und Bedenkenträger, die es ihnen wehren wollten.
"Gottes Segen folgt nicht nur dem Verdienst und der Fruchtbarkeit"
Lukas lässt diese Begebenheit sinnfällig auf das Gleichnis vom Pharisäer und vom Zöllner folgen (Lk 18,9–17). Auch da ersehnen beide im Tempel den Segen, aber der Halsabschneider von der Zollstelle in der hintersten Bank erhält keinen Deut weniger an Segen als der schriftgelehrte Gottesdiener in seiner ganzen Gerechtigkeit. Mit der Nebeneinanderstellung der beiden Perikopen klagt Lukas alle an, die sich selbst zwischen Gott und jene stellen, die Gottes Segen ersehnen. Gottes Segen folgt nicht nur dem Verdienst und der Fruchtbarkeit, sondern er schützt und fördert sie. Der Frankfurter Vorschlag zitiert dazu die Einführung in das katholische Benediktionale, das vom Segen als urmenschlichem Bedürfnis spricht: „Der Mensch ist segensbedürftig. Er verlangt nach Heil, Schutz, Glück und Erfüllung seines Lebens. Darum sprechen sich Menschen gegenseitig Segen zu. Vor allem erhoffen und erbitten sie Segen von Gott“ (Benediktionale, Nr. 1).
In einer schlimmen Entgleisung der öffentlichen Diskussion wurden Segnungsfeiern für homosexuelle Paare ein „Gräuel an heiliger Stätte“ genannt. Aber auch die Gegner solcher Segnungsfeiern werden nichts dagegen einwenden wollen, dass Geschiedene, Schwule, Lesben oder heiratsunwillige Paare einzeln den Segen Gottes empfangen, auch wenn sie ihnen als Paar den Segen verweigern würden. An diesem Punkt setzt die Argumentation des Frankfurter Vorschlags ein: „Dem Angebot einer Segensfeier liegt die Überzeugung zugrunde, dass im gemeinsamen Leben der Partner sittlich Gutes da ist: Treue, Fürsorge, Verantwortung, Verpflichtung.“ Und hier greift der Vorschlag das griechische Grundwort im Neuen Testament für Segnen auf, eu-logeô – „gut-sprechen“: „Dieses Gute verdient Gutheißung und ist, wo Glauben ins Spiel kommt, segenswürdig.“
Gerade die Weite biblischen Segnens erlaubt es, eine Segensfeier von der sakramentalen Ehe zu unterscheiden. Dies lässt sich auch in der Feier nachvollziehen, wenn dabei, wie es der Frankfurter Vorschlag vorsieht, andere Zeichen verwendet werden als die charakteristischen Symbolhandlungen einer Hochzeit: die Fragen nach der Bereitschaft, das gegenseitige Eheversprechen, die Segnung und das gegenseitige Anstecken der Ringe oder die kirchenamtliche Bestätigung durch das Umlegen der Stola. Eine öffentliche Bekundung wie die Trauung auf dem Standesamt ist bei diesen kirchlichen Segensfeiern bereits vorausgesetzt; sie setzen keine weiteren Rechtsakte, sondern danken Gott und bitten ihn um seinen Schutz.
Der Frankfurter Vorschlag ermöglicht Feiern und Zeichen im vorsakramentalen Raum. Er lässt ja nicht nur gleichgeschlechtliche Paare um Gottes Segen bitten, sondern alle, für die der Weg zu einer sakramentalen Feier unter deren rechtlichen und dogmatischen Bedingungen verstellt ist. Gemeinsames Feiern und Handeln im Vorfeld der Sakramente hat die katholische Kirche bislang viel zu wenig für sich entdeckt. Dieser Ansatz könnte noch in anderen Zusammenhängen weiterführen als die herkömmliche sakramentale Praxis, eigentlich überall da, wo die Kirche Menschen begegnet, denen in allen Brüchen und Verletzungen eine Sehnsucht nach Gott und nach seinem Wort geblieben ist. Mit dem zu oft zitierten „niedrigschwelligen Angebot“ oder der geschmähten Kirche light hat das nichts zu tun. Segnen empfängt seine heilende Kraft aus der Taufe und im Blick auf sie. Die Großzügigkeit beim Segnen entspricht der anspruchsvollen Sendung Jesu am Ende des Matthäusevangeliums: den Menschen aller Völker Gottes Segen zu bringen, und ihnen weiterzugeben, was Jesus seinen Jüngern aufgetragen hat.