Von der Öffentlichkeit wenig zur Kenntnis genommen, hat der Landesverband Berlin-Brandenburg des Humanistischen Verbands Deutschlands (HVD) zum Jahresbeginn als erste Weltanschauungsgemeinschaft in der Hauptstadt den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts erhalten. Die Tatsache als solche wäre allein wenig bemerkenswert, denn auch die HVD-Landesverbände in Bayern, Baden- Württemberg, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen sind bereits als solche Körperschaften anerkannt, ebenso wie andere Weltanschauungsgemeinschaften, doch lohnt es sich, genauer hinzusehen, denn die Erfolgsgeschichte des Berliner Verbands in den vergangenen drei Jahrzehnten ist in vieler Hinsicht einzigartig. Der Berliner Kultursenator Klaus Lederer (Die Linke), der bei einem Festakt die Anerkennungsurkunde überreichte, war jedenfalls voll des Lobes. Der Berliner Senat habe seit über einem Jahrzehnt keine Körperschaftsrechte an eine Religionsgemeinschaft verliehen, sagte er in seiner Ansprache. „Das ist heute anders und mit gutem Grund.“ Die Körperschaftsrechte seien eine besondere Auszeichnung. „Wer in diesen Kreis aufgenommen wird, ist in der höchsten Klasse angekommen.“ So seien mit dem Körperschaftsstatus eine Reihe von Einzelbegünstigungen verbunden, aber auch die Erwartung, dass die in diesen Rechtsstatus erhobene Gemeinschaft ihre „zivilgesellschaftliche Aufgabe dauerhaft erfüllt“, meinte der Senator.
Eine Erfolgsgeschichte
Dass der Verband nun im zweiten Anlauf nach 1996 den begehrten Status erhalten würde, war Anfang der 1980er-Jahre nicht zu erahnen, als der damalige „Deutsche Freidenkerverband“ in Westberlin eine Neuausrichtung in Angriff nahm. Anders als der gleichnamige Verband in Westdeutschland gehörten die Westberliner nicht zum Umfeld der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP), sondern zum alteingesessenen sozialdemokratischen Milieu, wie etwa der Jugendverband „Die Falken“. Von den „Falken“ kam 1983 auch der neue Geschäftsführer Manfred Isemeyer (Jahrgang 1948), der die Vorstellung entwickelte, dass es neben der traditionellen „JugendNorbert Zonker 396 weihe“ – später umbenannt in „Jugendfeier“ – weitere Dienstleistungsangebote geben müsse, um den Verband aus seiner Stagnation herauszuführen.
Das erste Projekt war die Wiederbelebung des „Lebenskunde“-Unterrichts an den Berliner Schulen, den es in den 1950er-Jahren bereits gegeben hatte. Anders als in den westdeutschen Bundesländern war in Westberlin (und ist es bis heute im Land Berlin) der Religionsunterricht kein ordentliches Lehrfach, sondern ein freiwilliges Angebot der Kirchen; ebenso konnten Weltanschauungsgemeinschaften entsprechende Angebote machen. Die damalige Schulsenatorin Hanna-Renate Laurien (CDU) genehmigte 1983 einen Modellversuch und anschließend den Regelbetrieb – gemäß ihrer Überzeugung, dass nicht die „Eisdiele“ die einzige Alternative zum Religionsunterricht sein dürfe. Die engagierte Katholikin ging wohl auch davon aus, dass vor allem die Kinder von Verbandsmitgliedern die Zielgruppe bilden und nicht alle Nichtreligiösen vereinnahmt würden – tatsächlich ist längst nicht allen Eltern klar, dass das Fach keineswegs neutral, sondern einer bestimmten Weltanschauung verpflichtet ist.
Der Clou für den HVD lag aber darin, dass er für diesen Unterricht zunächst keine eigenen angestellten Lehrer – für die er kein Geld gehabt hätte – benötigte, sondern bereits im Schuldienst tätige Lehrer gewinnen konnte, die eine entsprechende Qualifikation hatten. Das zunächst an einer Schule im Bezirk Neukölln gestartete Angebot lief gut an und erreichte schon bis 1989 mehr als tausend Schüler. Bis 2017 konnte der Verband die Teilnehmerzahl auf 63.493 (18,1 Prozent aller Schüler) steigern;1 zum Vergleich: Den evangelischen Religionsunterricht besuchten 77.635 Schülerinnen und Schüler (22,1 Prozent), den katholischen Unterricht 24.178 (6,9 Prozent) und den islamischen Religionsunterricht 5.401 (1,5 Prozent).
Mit der deutschen Wiedervereinigung 1990 eröffneten sich dem Verband völlig neue Möglichkeiten. Da es im Ostteil Berlins keine freien Wohlfahrtsverbände gab, wurden neue Träger für zahlreiche Einrichtungen gesucht: Kindertagesstätten, Kinder- und Jugendfreizeiteinrichtungen, Sozialstationen. In der weitgehend konfessionslosen Bevölkerung gab es hierfür genug Nachfrage. Zunächst galt es aber einen Modus zum Umgang mit dem Ende 1988 gegründeten DDR-Freidenkerverband zu finden, der einen schlechten Ruf als Instrument der SED im ideologischen Kampf hatte. Die Westberliner Freidenker beschlossen, nicht mit dem Ostberliner Verband zu fusionieren, wohl aber dessen Mitglieder, die dies wünschten, als Einzelmitglieder aufzunehmen. Unter diesen waren, wie sich herausstellte, auch ehemalige Mitarbeiter der DDR-Staatssicherheit, ein größeres Problem wurde daraus aber nicht. Mit der Umbenennung in „Humanistischer Verband Deutschlands“ 1993 und dem gleichzeitigen Zusammenschluss mit anderen Organisationen machte der Verband sowohl seinen bundesweiten Anspruch deutlich wie auch, dass er ein neues Kapitel aufschlagen wollte. Wegen des neuen Namens wird er übrigens bis heute immer wieder mit der Humanistischen Union verwechselt, einer 1961 gegründeten Bürgerrechtsvereinigung, die zwar religionspolitisch (kirchenkritisch) ähnlich ausgerichtet ist, aber ansonsten andere Schwerpunkte setzt.
Das Wachstum des Berliner HVD zum Sozialkonzern, der er heute ist, war gleichwohl kein Selbstläufer, wie die Entwicklung in anderen Landesverbänden zeigt. Die Verbände in Sachsen-Anhalt und Brandenburg, die sich nach dem Berliner Vorbild als Träger von Sozialeinrichtungen etablieren wollten, mussten bald Insolvenz anmelden, was die Fusion des Brandenburger mit dem Berliner Verband zur Folge hatte. Dort setzte man auf „kontrolliertes Wachstum“, wie der langjährige Geschäftsführer Isemeyer in einem Interview2 ausführte. Isemeyer musste sich als gelernter Sozialpädagoge und Politologe erst die erforderlichen betriebswirtschaftlichen Kenntnisse aneignen, erwies sich dabei aber als sehr geschickt. Laut dem jüngsten Geschäftsbericht (für 2016) ist der Landesverband Träger von 60 Einrichtungen und Diensten mit 1200 Beschäftigten und 1000 ehrenamtlichen Mitarbeitern bei einem Umsatz von 60 Millionen Euro.
Ein empfindlicher Rückschlag war die Ablehnung des ersten Antrags auf Erlangung des Körperschaftsstatus durch den Berliner Senat. Das Verwaltungsgericht Berlin wies die dagegen eingereichte Klage des HVD ab und führte unter anderem aus, die als Indiz für die Körperschaftsanerkennung dienende Grenze von einem Promille der Bevölkerung sei bei der Mitgliederzahl „nicht ansatzweise erreicht“, und die Finanzierung des Verbands stehe „auf tönernen Füßen“. Seither war die Vergrößerung der Mitgliederzahl ein strategisches Ziel der Führung. 1996 hatte der Verband nach eigenen Angaben 3206 Mitglieder, davon 533 ordentliche, 262 fördernde und 2411 „betreute Mitglieder“ – letztere waren Teilnehmer an den jährlichen „Jugendfeiern“ der 14-Jährigen, die bis zur Volljährigkeit beitragsfrei und mit eingeschränkten Rechten dem Verband angehören konnten. 20 Jahre später will der HVD 13.000 Mitglieder in Berlin und Brandenburg haben und damit die Grenze von einem Promille überschreiten (bei rund 6 Millionen Einwohnern in den beiden Bundesländern – von denen zwischen 4 und 4,5 Millionen konfessionslos sind – wären das 6000).
Fragwürdiges Wachstum
Wie kommt das überraschende Wachstum zustande? In den Geschäftsberichten für 20153 und 20164 gibt der HVD folgende Mitgliederzahlen an: 2239 für 2006, 3189 für 2007, 4037 für 2008, 4819 für 2009, 5695 für 2010, 6627 für 2011, 7688 für 2012, 9520 für 2013, 12248 für 2014, 11581 für 2015 und 13025 für 2016. Jährlich wäre das ein Zuwachs zwischen 800 und 1500 Mitgliedern, ausgenommen einem Minus von 700 im Jahr 2015 (als Grund dafür wird eine „Datenbankbereinigung“ angegeben5). Das Wachstum betrifft bei genauerer Betrachtung allerdings vor allem den Jugendverband „Junge Humanist_innen (JuHus)“ – 2015 kamen 1500 Jugendliche hinzu, 2016 waren es 1280. Bei den Jugendlichen handelt es sich nach den Angaben vor allem um Teilnehmer an den „Jugendfeiern“. 2016 waren dies in Berlin und Brandenburg 6700 Jungen und Mädchen, von denen demnach ein Fünftel für eine Mitgliedschaft geworben werden konnte. Das Wachstum findet also offenbar vor allem im Jugendverband statt – streng genommen ist der HVD angesichts dieser Verteilung also ein ein Jugendverband mit angeschlossener „Seniorenabteilung“.
Dies bestätigt auch ein Blick auf die Entwicklung der Mitgliedsbeiträge. Der Finanzbericht 2015 weist „Mitglieds- und Förderbeiträge“ in Höhe von rund 157.700 Euro aus, der „Lage- und Finanzbericht 2016“ beziffert diese auf rund 186.000 Euro. Umgerechnet pro Mitglied bedeutet dies einen Jahresbeitrag von rund 14 Euro. Die Beitragsordnung sieht einen Mindestbeitrag für natürliche Personen von fünf Euro pro Monat vor, der empfohlene Regelbeitrag beträgt 0,5 Prozent des Nettoeinkommens. Mitglieder ohne Einkommen sollen einen symbolischen Beitrag von einem Euro monatlich entrichten, Jugendliche bis 18 Jahre, Auszubildende, Studenten und Teilnehmer an Freiwilligendiensten sind beitragsfrei. Legt man den Mindestbeitrag zugrunde, käme die Jahressumme von 186.000 Euro bei gut 3000 zahlenden Mitgliedern zusammen. Bei einem Beitrag von 250 Euro jährlich, wie ihn etwa der durchschnittliche Kirchensteuerzahler aufbringt, würden dafür 750 Mitglieder reichen. Tatsächlich zahlen die meisten Mitglieder somit entweder gar keinen oder nur den symbolischen Beitrag. Im Verhältnis zur gesamten Geschäftstätigkeit des Verbands ist das Beitragsaufkommen jedenfalls marginal. Es macht gerade einmal 0,3 Prozent des Gesamtumsatzes von 60 Millionen Euro aus. Zum Vergleich: Die zwanzig Gliedkirchen der Evangelischen Kirche in Deutschland erzielen mehr als 50 Prozent ihrer Gesamteinnahmen von mehr als zehn Milliarden Euro aus der Kirchensteuer, also aus Mitgliedsbeiträgen. Bei den Humanisten kommen hingegen mehr als 78 Prozent der Erträge aus öffentlichen Zuwendungen.
Politisch gut vernetzt
Für die Frage der Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts scheint die Frage des Nachweises der Mitgliederzahl mit Blick auf die Ein-Promille-Grenze keine Rolle gespielt zu haben. Angesichts der guten Vernetzung des HVD mit der Politik in Berlin und Brandenburg verwundert dies auch nicht. Kultursenator Lederer ist ausweislich seiner Angaben zur Person zwar kein HVD-Mitglied, kann aber als langjähriger Sympathisant gelten. 2004 stellte er als junger Abgeordneter eine Parlamentarische Anfrage zum Thema „Sonderrechte und Privilegien für Großkirchen“, die dann entgegen seiner Intention eine in diesem Ausmaß weitgehend unbekannte Privilegierung des HVD an die Öffentlichkeit brachte.6
Die Einbindung von aktiven Politikern war von Anfang an eine Taktik des Verbands. Der langjährige Geschäftsführer Isemeyer war ebenso SPD-Mitglied wie sein ursprünglich von der DKP gekommener Kollege Bruno Osuch, doch suchten sie ebenso Verbündete im Lager der Grünen und später der PDS/Linken, auch bei der politisch in Berlin freilich eher bedeutungslosen FDP. Die Liste der Politiker im Präsidium und anderen Gremien des HVD in den vergangenen Jahrzehnten ist lang;7 bemerkenswert ist vor allem die Präsenz der Bildungspolitiker der Regierungsfraktionen der rot-roten Koalition unter dem Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD), als der Konflikt um die Einführung des Ethikunterrichts und die Stellung des Religionsunterrichts einen Höhepunkt erreichte. Aktuell sind die Brandenburgische Finanzstaatssekretärin Daniela Trochowski (Die Linke) und das frühere Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses, Felicitas Tesch (SPD), Vizepräsidentinnen des Landesverbands. Nach dem Eintritt von Geschäftsführer Isemeyer in den Ruhestand 2014 kam der neue Vorstandsvorsitzende Martin Beck aus der Abgeordnetenhaus-Fraktion der Grünen.
„Moderner weltlicher Humanismus“
Vom bis in die 1980er-Jahre dominierenden Westberliner sozialdemokratischen Traditionsmilieu hat sich der HVD damit erfolgreich emanzipiert. Umso mehr stellt sich die Frage, wo genau er heute weltanschaulich zu verorten ist. In den vergangenen Jahren changierte der Verband zwischen Religions- und Kirchenkritik einerseits mit besonderer Ablehnung der kirchlichen Privilegien und andererseits dem Aufbau eigener humanistischer Dienstleistungsangebote von der Wiege bis zur Bahre, für die jetzt die mit dem Körperschaftsstatus verbundenen Privilegien gerne selbst in Anspruch genommen werden.
2005 gab der HVD aus Anlass des hundertjährigen Bestehens der Freidenker eine Allensbach-Umfrage in Auftrag, die dem Verband erwartungsgemäß ein „großes Potenzial“ bescheinigte, da jeder zweite Deutsche dessen Lebensauffassung zumindest überwiegend zustimme. Nur 7 Prozent der Befragten gaben dabei jedoch an, die Auffassung des HVD entspreche „voll und ganz“ ihrer eigenen. Diese Auffassung wurde für die Umfrage durch drei Elemente gekennzeichnet: „ein eigenständiges, selbstbestimmtes Leben, das auf ethischen und moralischen Grundüberzeugungen beruht; ein Leben frei von Religion, ohne den Glauben an einen Gott; andere weltanschauliche und religiöse Lebensauffassungen zu achten, zu respektieren“. Wie auch immer die Umfrage im Detail zu bewerten ist, konnte man aus ihr jedenfalls den Schluss ziehen, dass eine dezidiert atheistische oder kirchenkämpferische Positionierung für den Verband eher kontraproduktiv wäre.
In seiner aktuellen Satzung8 definiert der HVD seine „Ziele und Aufgaben“ denn auch ganz moderat:
„1. Im Humanistischen Verband haben sich [...] Menschen zusammengeschlossen, die einen modernen weltlichen Humanismus vertreten und leben. Der Verband betrachtet es als seine Aufgabe, ethische Orientierung zu geben und zur Humanisierung der Gesellschaft beizutragen. Insbesondere wirkt er auf politische, kulturelle und gesellschaftliche Einrichtungen im humanistischen Sinne ein.
2. Der Verband befürwortet eine demokratische und pluralistische Gesellschaftsordnung, in der alle Weltanschauungs- und Religionsgemeinschaften gleichberechtigt die Interessen ihrer Anhänger vertreten können. Er will dazu beitragen, die verfassungsmäßig garantierte Weltanschauungsfreiheit durchzusetzen und tritt für die Einhaltung der Trennung von Religions- bzw. Weltanschauungsgemeinschaften und Staat ein. Er vertritt die Interessen religionsfreier Menschen gegenüber dem Staat und in der Gesellschaft. [...]
4. Der Verband erstrebt eine gerechte Weltwirtschaftsordnung sowie eine internationale Völkerverständigung auf friedlichem Wege und wendet sich grundsätzlich gegen die Anwendung von Gewalt zur Lösung politischer Konflikte.“
Was er unter „Weltlichkeit“ versteht, definierte der HVD 2006 in seinen „Prinzipien des Humanismus“: „Wir gewinnen unsere Ansichten ohne Bezugnahme auf einen Gott oder auf andere metaphysische Instanzen. Wir brauchen kein höheres Wesen als eine von Menschen geschaffene Instanz des Trostes, der Liebe, der Hoffnung, der Bestrafung oder des Ansporns.“ Ausführlicher stellte der HVD 2015 in einer 28-seitigen Broschüre sein „Humanistisches Selbstverständnis“9 vor. Auch darin finden sich viele Allgemeinplätze und unumstrittene Thesen à la „Humanismus – „Liebe zum Leben, selbstbestimmt und solidarisch“. Zugleich macht der Verband seinen Anspruch deutlich, „Interessen von Humanist*innen“ zu vertreten (nicht: „die Interessen der Humanist*innen“). Humanistisches Denken sei „mehr als 2500 Jahre alt“, heißt es weiter. Es wurzele in der Antike, in der Renaissance und in den Ideen der europäischen Aufklärung. Dafür beruft sich der HVD auf „Sokrates, Epikur, Cicero, Erasmus von Rotterdam, Galilei, Voltaire, Hume, Herder, Kant, Feuerbach, Darwin, Marx, Freud, Sartre oder Russell“ – ohne deren durchaus verschiedenes Verhältnis zur Religion auch nur anzudeuten. Humanistisches Denken sei „wissenschaftlich und philosophisch begründet. Es ist geschichtsbewusst und für ständige Weiterentwicklung offen“.
Zu den zwölf „Essentials“ dieses Selbstverständnisses gehört der „Humanistische Eigensinn“ als das „Bestehen auf persönlicher Urteilskraft gegenüber weltanschaulichen, wissenschaftlichen oder religiösen Wahrheitsansprüchen“. In Abgrenzung zu letzteren wird weiter ausgeführt: „Menschen haben weder übernatürliche Feinde noch übernatürliche Beschützer. Götter, Engel, Dämonen oder andere Mächte gibt es nach allem, was wir wissen, ebenso wenig wie ein Jenseits, Wiederauferstehung oder Seelenwanderung. Unser Humanismus ist weltlich orientiert.“ An anderer Stelle heißt es: „Das Engagement für humanistische Überzeugungen und humanistische Praxis ist neben einer rationalen immer auch eine sehr persönliche emotionale und sinnliche Haltung zur Welt.“
Abschließend werden die politischen Ziele und Forderungen des HVD formuliert. Die auf der Enteignung der Kirchengüter von 1803 basierenden „staatlichen Ausgleichszahlungen“ an die Kirchen seien einzustellen. Gefordert wird ein „gleichberechtigter rechtlicher und finanzieller Rahmen für die stabile institutionelle Förderung der Träger weltanschaulicher Arbeit“ im Sozial-, Bildungs- und Kulturbereich „wie auch die humanistische Beratung in Gefängnissen, Krankenhäusern oder der Bundeswehr“. Der Einzug der Kirchensteuer durch den Staat wird abgelehnt, die „Gleichbehandlung des Humanistischen Lebenskundeunterrichts mit dem Religionsunterricht, entsprechend der jeweiligen landesgesetzlichen Regelung“ angemahnt. In der Öffentlichkeit müsse Sorge dafür getragen werden, „dass keine Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft bevorzugt oder benachteiligt wird“ – etwa durch Zeichen religiöser oder weltanschaulicher Art in öffentlichen Schulen oder Gerichtsgebäuden. Andererseits müssten nichtreligiöse Menschen zur Sicherung ihrer Interessen in den Rundfunkräten vertreten sein. Zudem fordert der HVD die Einrichtung von „Lehrstühlen für Humanistik bzw. von humanistischen Hochschulen“. Die letzte aufgeführte Forderung betrifft anders als die vorangegangenen eine nicht institutionelle, sondern individuelle Problematik: das „Recht auf Selbstbestimmung bis zum Lebensende“. Dabei sei der Wunsch unheilbar Kranker nach einem ärztlich assistierten Suizid zu respektieren.
Fazit: Der HVD in Berlin und Brandenburg beschreibt ein Selbstverständnis, das oszilliert zwischen der hergebrachten Kirchenkritik nebst Eintreten für einen laizistischen Staat und dem Anspruch der eigenen Institutionen und Praktiken, die sich vielfältig an den entsprechenden kirchlichen Ritualen orientieren, auf Anerkennung und Gleichbehandlung. Zum Verbandsleben gehören neben den „Jugendfeiern“ auch Hochzeits- und Trauerfeiern sowie unterschiedliche kulturelle Angebote. Insgesamt achtet der Verband darauf, potenzielle Kunden seiner Dienste nicht durch radikales Auftreten zu verschrecken.
Auffällig ist, dass sich der HVD trotz seines umfassenden Anspruchs in den öffentlichen Debatten mit weltanschaulichem Hintergrund kaum zu Wort meldet. Ausnahmen bilden die durch die eigene Arbeit abgedeckten Bereiche Bildungspolitik und Sterbehilfe. Auch gehört der HVD zu den dezidierten Verteidigern des Berliner „Neutralitätsgesetzes“, das Mitarbeitern im Öffentlichen Dienst das Tragen jedweder religiöser Symbole verbietet. Zu aktuellen Diskussionen etwa um die Integration von Flüchtlingen und den Kampf gegen Rechtspopulismus und -extremismus gibt es jedoch kaum wahrnehmbare humanistische Stellungnahmen, sieht man von entsprechenden Likes auf der Facebookseite ab.
Generationswechsel
Die Verleihung des Körperschaftsstatus fällt für den HVD in eine Zeit, in der die – wenn man so will – Gründergeneration abtritt oder schon abgetreten ist und ein Generationswechsel vollzogen wird. Dieser geht, soweit sich dies in den Diskussionen auf den einschlägigen Internetseiten widerspiegelt, nicht ohne Kontroversen über die Bühne.10 Ein strukturelles Problem bleibt dabei die Rückbindung der Unternehmen auf den verschiedenen Geschäftsfeldern an den Weltanschauungsverband, der als Mutterorganisation die gemeinsame ideologische Grundlage verantwortet – zumal mit dem neuen Status –, ohne dass er aber die dafür notwendige Größe und Stärke hätte. Selbst wenn man die offizielle Mitgliederzahl für bare Münze nähme, entspräche sie gerade einmal einer mittelgroßen Berliner Kirchengemeinde. Trotz der vielfältigen Kontakte zu nach eigenen Angaben pro Jahr 300.000 Menschen aller Altersgruppen gelingt es dem HVD kaum, sie für eine Mitgliedschaft zu gewinnen. Dies gilt allem Anschein nach auch für die hauptamtlichen Mitarbeiter, wie Isemeyer in dem bereits zitierten Interview von 2013 einräumte: „Die zweite Generation identifiziert sich häufig nicht mehr so stark mit den weltanschaulichen Zielen des Verbandes. Viele Kollegen kommen primär zu uns, weil es einen attraktiven Arbeitsplatz gibt und erst in zweiter Linie, weil wir eine Weltanschauungsgemeinschaft sind.“ In dieser Hinsicht geht es dem HVD demnach ähnlich wie Caritas und Diakonie. Nur dass der Humanismus als Bezugspunkt schwammiger bleibt als das Selbstverständnis der Kirchen.
Der Landesverband strebt ungeachtet dessen nun auch in Brandenburg die Anerkennung als öffentlich-rechtliche Körperschaft an und will seine Stellung durch Staatsverträge in den beiden Ländern festigen. Dabei dürfte er sich weiter darum bemühen, die Konfessionslosen mehr oder weniger unterschiedslos für sich zu vereinnahmen. Was die mit dem Körperschaftsstatus verbundenen Rechte betrifft, so ist davon auszugehen, dass der HVD nicht von allen Gebrauch machen wird, etwa von der Möglichkeit, Beiträge von den Finanzämtern einziehen zu lassen. Beim Arbeitsrecht hat sich der Verband mit seiner neuen Satzung bereits positioniert und festgeschrieben, dass er die betriebliche Mitbestimmung auf der Grundlage und nach den Bestimmungen des Betriebsverfassungsgesetzes organisiert – zugleich eine Spitze gegen die Kirchen, die auf ihrem eigenen Arbeitsrecht bestehen.
Interessanter sind für den HVD die Vergünstigungen im Steuerrecht, nimmt er doch laut Geschäftsbericht deutlich mehr als durch Mitglieds- und Förderbeiträge durch Spenden und Erbschaften ein; 2016 waren es 2,67 Millionen Euro. Da kommt es gelegen, dass er künftig von der Körperschaftssteuer, der Umsatzsteuer und der Erbschaftssteuer befreit ist. Zudem unterliegt er als Körperschaft des öffentlichen Rechts nicht der „zeitnahen Mittelverwendung“. „Wir müssen Gelder dann nicht mehr innerhalb einer festen Frist ausgeben, sondern können das machen, wenn es sinnvoll ist“, erläutert Vorstand Katrin Raczynski.11 Beim Festakt zur Verleihung der Körperschaftsrechte in Berlin betonte Verbandspräsident Jan Gabriel den Anspruch des HVD etwa „bei der Besetzung des rbb-Rundfunkrates, bei der Schaffung humanistischer Forschungs- und Qualifikationsstrukturen an Hochschulen und bei der Würdigung unserer Beiträge für das Stadtleben im Rahmen von staatlichen Projektförderungen“.
Insgesamt gibt der HVD somit ein diffuses Bild ab, wie es auch der Direktor der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW), Reinhard Hempelmann, wahrnimmt. Der Verband müsse sich entscheiden, ob es ihm um eine stärkere Beteiligung etwa im Bildungs- und Sozialbereich oder um die strikte Trennung zwischen Staat und Kirche gehe. „Eine religionsähnliche Organisiertheit passt nicht zum Plädoyer für einen laizistischen Staat.“12 Es fehle dem Verband eine „plausible Zielperspektive“.
Bereits 2002 hatte der damalige EZW-Referent Andreas Fincke in einer Studie über die Freidenkerbewegung13 den HVD als „ernst zu nehmenden Konkurrenten“ für die Kirchen14 eingeschätzt – im Unterschied zu den „politisch einflusslosen“ anderen traditionellen Freidenker-Organisationen in Deutschland. Angesichts dessen ist die Zurückhaltung erstaunlich, die sowohl das Erzbistum Berlin als auch die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz im Blick auf den Verband an den Tag legen. Dies mag mit einem Verständnis von Toleranz zusammenhängen, das das Recht der Konfessionslosen anerkennt, sich in Weltanschauungsgemeinschaften zu organisieren – vielleicht auch mit dem Bestreben, den Konkurrenten nicht durch Kritik aufzuwerten und ihm eine Bühne zu bereiten, zumal sich der HVD anders als etwa die „Giordano-Bruno-Stiftung“ seinerseits mit antikirchlicher Polemik zurückhält.
Dabei bedürfte das singuläre Konglomerat aus Jugendverband, Weltanschauungsverband mit Körperschaftsstatus und Sozialkonzern, das der HVD-BB derzeit darstellt, durchaus der kritischen Beobachtung. Der angestrebte Staatsvertrag in Berlin – mit der katholischen Kirche hat das Land bisher keinen solchen abgeschlossen! 15 – sollte für die Opposition im Abgeordnetenhaus, die das Thema bisher nicht aufgegriffen hat, Anlass sein, die Nachfragen zu stellen, die der Senat unterlassen hat. Zumindest sollte die Latte hier nicht niedriger gelegt werden als bei den Islamverbänden, bei denen die staatliche Seite genauer hinsieht, ob sie die Kriterien für den Körperschaftsstatus erfüllen. Dabei ist unumstritten, dass der HVD eine Weltanschauungsgemeinschaft ist und als solche auch entsprechende Rechte hat wie die großen und kleineren Religionsgemeinschaften. Eine Art „privilegierte Partnerschaft“, wie sie der in den vergangenen Amtsperioden nicht eben religionsfreundliche Berliner Senat mit dem HVD praktiziert hat, ist dabei gleichwohl begründungspflichtig.