Zwei Richtungen kämpfen in der Kirche gegeneinander: Die eine sieht die Kirche nach wie vor als Gesellschaft (societas), die zwar nicht ganz so perfekt ist, wie ursprünglich gedacht, aber doch vor allem ein Rechtsverband bleibt, mit klaren Regeln und einer ehrwürdigen, gottgegebenen Ordnung (ordo). Ihre Identität bezieht sie aus der Orthodoxie und der Orthopraxie ihrer Mitglieder. Die Letztere wird vor allem von der Individualmoral her verstanden. Die Zugehörigkeit zur Kirche ist eindeutig und objektiv geregelt und erkennbar. Geleitet wird die Kirche vom Papst und seiner Kurie; diese ist eine Behörde, die die Weltkirche fleißig und gewissenhaft nach Recht und Ordnung verwaltet. Diese Kirche ist Erbin des römischen Reiches: Sie hat deren Rechtsdenken übernommen und in chaotischen Zeiten bewahrt; der Sinn für die Rechtsordnung half der Kirche, 2000 Jahre lang durch alle Brüche der Geschichte und der Kulturen hindurch fortzubestehen. Anhänger dieser Kirche betonen im Evangelium die Aussagen zur klaren Abgrenzung der Gläubigen von der Welt sowie die Texte zu geistlichen Vollmachten bis hin zum Primat des Petrus.
Die andere Richtung sieht die Kirche als Volk, das aus der Liebe und Barmherzigkeit Gottes lebt und diese an alle Menschen und Völker vermittelt. Die Kirche gibt den – spirituell und materiell – Armen und den Opfern von Gewalt und Unrecht, was sie zum Leben brauchen. Klare Identitäten oder Ab- und Ausgrenzungen sind weniger wichtig. Die soziale Praxis ist wichtiger als die Individualmoral und wird öffentlich, auch politisch, eingeklagt. Anhänger dieser Kirche betonen im Evangelium Texte, die von barmherzigem Handeln erzählen, und solche, nach denen der Sabbat für den Menschen da ist und die Herrschaft von Menschen über Menschen im Reich Gottes entthront ist.
Papst Franziskus empfindet, denkt, lebt und regiert eher im zweiten Kirchenbild, dem der Volks-Kirche – der Gegensatz beider Bilder ist ja nicht absolut. Er liest die Bibel anders als die Anhänger der Ordo-Kirche, mehr auf das soziale Verhalten des Einzelnen hin, mehr von der persönlichen Glaubenserfahrung her und damit auch mehr von einem „subjektiven“ Kriterium der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft – wer glaubt und geistlich dürstet, darf grundsätzlich Anteil an der Communio der Kirche haben, auch wenn objektiv-rechtlich Hindernisse dagegen stehen. Papst Franziskus interessiert sich weniger für die Verwaltung des Apparates, dafür mehr beispielsweise für die Entsendung von „Priestern der Barmherzigkeit“. Zeigt sein Handeln nicht deutlicher eine Kirche im Geiste Jesu Christi als eine Kirche, die als Erbin Roms die Zeiten überdauern will? Ist deren Primat des Rechts und der Doktrin wirklich biblisch? Und ist die alte Idee der Kirche als einigermaßen konforme societas nicht eine Kirchengestalt, die sich erst im 19. Jahrhundert strukturell durchsetzen?
Nun wird Papst Franziskus – neben den rechtskatholischen Medien profiliert sich dafür neuerdings das Feuilleton der FAZ – mit dem Vorwurf der Häresie konfrontiert: Er beachte die Ordnung nicht, die Grenze, die Doktrin, die Moral, übrigens auch nicht die liturgische Ästhetik. Und das Gewicht, das er der persönlichen Erfahrung und der Besonderheit des Einzelfalls gibt, protestantisiere die Kirche oder verkaufe sie an postmoderne Permissivität. Trifft der Häresie-Vorwurf zu?
Zunächst enthält er einen Selbstwiderspruch: Gerade die Anhänger der Ordo- Kirche betonen die kirchliche Ordnung, nach der allerdings in letzter Instanz der Papst das Evangelium im Blick auf die Rechtsordnung der Kirche auslegt und ihr das Recht stiftet. Ändert der Papst das Recht, dann ist, wer sich dieser Änderung verweigert, im Selbstverständnis des Ordo-Denkens ungehorsam. Also spaltet sich die Ordo-Kirche mit dem Häresie-Vorwurf, denn wer wie sie diesen Vorwurf erhebt, fällt nach ihren eigenen Kriterien selbst in Häresie. Anders gesagt: Mit ihrem – im Wortsinn unverschämten – Anspruch stellen sich solche Papstkritiker über den Papst und machen sich zum Richter über ihn und zum Lehramt über sein Lehramt.
Der Häresie-Vorwurf steht aber auch im Widerspruch zum Evangelium: Jesus bezeichnete als gerecht den barmherzig handelnden Samariter, nicht den vorbeigehenden Priester. Er aß mit Zöllnern und Sündern, nicht mit „Gerechten“. Er heilte am Sabbat. Er ließ die Sünderin nicht steinigen, sondern vergab ihr, indem er zwischen der Sünde und der Sünderin unterschied. Er verweigerte dem Verräter Judas nicht das Abendmahl und bestellte den Verleugner Petrus zum Hirten. Er half Armen, ohne sie nach Zugehörigkeiten zu fragen. Schonungslos kritisierte er die etablierten Religionsvertreter. Brauchte es einen Papst aus der jungen und dynamischen Kirche Lateinamerikas, um die alte und kraftlose Kirche Europas an das Evangelium zu erinnern?
Woher kommt der Häresie-Vorwurf? Aus intellektueller Streitlust und Arroganz? Oder aus Ängsten – Angst vor Verlust von Ordnung, Orientierung, Identität? Aus Nostalgie für eine früher angeblich geordnete und kultisch formvollendete Kirche? Aus Abneigung gegen alles zeitgemäß Vielfältige und Bunte, alles Subjektive und Kreative? Aus Furcht vor dem Zerbröseln und Zerfallen der Kirche – was ja ein vor allem europäisches Phänomen ist, also eines der Ordo-Kirche?
Weiterführend ist die Reaktion des Papstes auf den Häresie-Vorwurf: Er könnte seine Kritiker ja ausgrenzen, etwa den ihm gegenüber öffentlich illoyalen Kardinälen mit der Begründung, er habe kein Vertrauen mehr zu ihnen, die Kardinalswürde entziehen – in jeder Regierung oder jedem Großkonzern geschähe Vergleichbares sofort und mit Konsequenz. Nein, er ignoriert einfach das Getöse – vielleicht deswegen, weil er mit Absetzungen ja gerade die Erwartungen der gerne ausgrenzenden Vertreter der Ordo-Kirche bedienen würde. Immerhin hat ihn ja das Kardinalskollegium gewählt, unter Mitwirkung des Heiligen Geistes. Der Papst vertraut: In seiner – des Heiligen Geistes – Kirche wird ebendieser Geist den Richtungskampf schon richten.