Vor einiger Zeit verbrachte ich eine Kontemplationswoche im nach der Wende neu gebauten Dominikanerkloster St. Albert in Leipzig. Abends ging ich in der Gegend spazieren. Alle Häuser der Umgebung herausgeputzt, eine ordentlich gepflegte Gartenanlage, dann der Neubau des Benno-Verlages. Alles schien farbenfroh und friedlich. Dennoch spürte ich eine seltsame Traurigkeit und Leere. Hat der Sozialismus mit seinem naiven wissenschaftlichen Materialismus den Menschen die Seele ausgetrieben? Woher nimmt man sein Selbstwertgefühl, wenn letztlich nichts Geistiges oder Religiöses existiert? Was für ein schweres Erbe…
Und dann ein denkwürdiger Brief, Absender: BSTU – der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen. Etwas nervös öffne ich den Brief. Jetzt werde ich also wissen, welche Informationen die Stasi über mich gesammelt hat. Zwei Schriftstücke gibt es: Einmal die Erfassung in einer VSH („Vorverdichtungs-, Such- und Hinweiskartei“) der Abteilung XX/7 Karl-Marx-Stadt und eine Akte mit der Signatur Kul 349/1. Darin ein Zettel meiner damaligen Ausbildungsstätte, der „Städtischen Theater Karl-Marx-Stadt“, mit meinen Personenangaben von 1987 und die Kopie eines Reiseantrags vom 24. Januar 1989. „VSH, n.l.“ hat der Stasi-Mitarbeiter von Hand darauf geschrieben, will heißen: „nicht löschen“. Damit wurde die Stasi-Akte zu meiner Person aufrechterhalten. Wieso war ich als Lehrling von Interesse für die Stasi? Was wäre gewesen, wenn die DDR weiter existiert hätte?
In der Stasi-Akte über meinen Vater – ein ganzer A4-Ordner! – kam ich ebenfalls vor. Und zwar weil meine Klassenlehrerin mit meinen Eltern darüber reden wollte, weshalb „ihr Sohn nicht Mitglied der Pionierorganisation ‚Ernst Thälmann‘ werden darf, obwohl er sehr gute schulische Leistungen erreicht und selbst gern an der Pionierarbeit teilnehmen möchte.“ Der Mann meiner Klassenlehrerin war Major bei der Stasi und sie muss ihm von mir erzählt haben. Noch heute bewundere ich die Klarheit meiner Eltern, die sich als praktizierende Katholiken nicht der Ideologie der DDR unterordneten und meine Geschwister und mich davor bewahrt haben. Erst hatte ich gedacht, dass ich die Akte einfach so würde lesen können, aber nach den ersten Seiten war mir klar, dass ich ja überhaupt keinen Kontext dafür hatte.
Einen ganzen Tag haben mein Vater und ich dann gemeinsam damit verbracht. Es war emotional anstrengend, vor allem jene Berichte von informellen Mitarbeitern der Stasi zu lesen, die offensichtlich freiwillig geschrieben worden waren. Meine Mutter hat uns dann ermahnt, wir sollten uns nicht so aufregen. Nach so langer Zeit müssten wir damit auch unseren Frieden finden. Aber es sind zwei elementare Dinge, die unser Gemüt erschütterten: Die Bespitzelei in der Gesellschaft hatte das Grundvertrauen in den Menschen aufs übelste verletzt. Wem konnte ich denn wirklich trauen? Wo konnte ich wirklich frei denken und das auch laut sagen? Das Zweite ist eher eine Charakterfrage: Kaum einer steht zu seiner Täter-Rolle, und viele, die damals obenauf waren, sind es heute wieder – von prominenten Ausnahmen wie Gerhard Gundermann einmal abgesehen. Man denke nur an den Fall Gregor Gysi, bei dem 1998 der Immunitätsausschuss des Deutschen Bundestages zum Schluss kam, Gysi habe „seine herausgehobene berufliche Stellung als einer der wenigen Rechtsanwälte in der DDR genutzt, um als Anwalt auch international bekannter Oppositioneller die politische Ordnung der DDR vor seinen Mandanten zu schützen. […] Das Ziel dieser Tätigkeit […] war die möglichst wirksame Unterdrückung der demokratischen Opposition in der DDR“. Wie gehen die Menschen und die Gesellschaft, die von der DDR-Mentalität geprägt worden sind, dreißig Jahre später damit um? Und wie sehen es jene, die das nicht erleben mussten?
Der Unterschied zwischen den beiden deutschen Staaten bestand nicht nur im politischen System, freiheitliche Grundordnung versus Diktatur des Proletariats, oder in zweierlei Wirtschaftsordnungen, hier soziale Marktwirtschaft, dort sozialistische Planwirtschaft. Auch die Erfahrung von Kirche war ein andere. Ich bin in einer Parallel-Welt großgeworden: auf der einen Seite meine Schulfreunde und auf der anderen Seite meine Freunde in der Kirchengemeinde. Die hatten keine Berührungspunkte. Getrennte Beziehungskreise, getrennte Gedankenwelten. Die Kirche bot eine echte Alternative zum real existierenden Sozialismus. In gewisser Weise führte die Indoktrinierung im Staatsbürgerkundeunterricht schon zu einer frühen Politisierung in meiner Jugend. Sich im Alter von 13 Jahren mit Subsidiarität, Solidarität und Personalität, also katholischer Soziallehre zu beschäftigen, käme heute wohl nicht vielen jungen Menschen in den Sinn. Für uns war das damals normal – und wir genossen die Gedankenfreiheit in unserer Enklave. Die Kirche war ein Ort der Freiheit. Sollte es nicht auch in der heutigen Zeit möglich sein, die Kirche immer wieder als einen solchen Ort zu erfahren?