Was treibt einen Nichtgläubigen, der eine liberale Erziehung im kirchenfernen Südengland genoss, dazu, einen Film über das Leben und Wirken des konservativen Kardinals Joseph Ratzinger, seine krisenbehaftete Amtszeit als Papst Benedikt XVI. und die für die katholische Kirche insgesamt symbolische Bedeutung seines Rücktritts in Angriff zu nehmen? In den vielen Jahren, in denen ich an dem Film gearbeitet habe, ist das die Frage, die mir immer wieder gestellt wurde. Sie begegnet mir natürlich jetzt, da der Film fertig ist, mehr denn je, und man würde denken, dass ich inzwischen eine gute Antwort parat hätte. Doch tatsächlich habe ich weiterhin große Schwierigkeiten, sie zu beantworten.
Die Idee, den Film zu machen, wurde im Jahr 2012 geboren. Ich hatte gerade „Und wir sind nicht die Einzigen“ fertiggestellt, einen Dokumentarfilm zum Thema Missbrauch an der Odenwaldschule, und war in der Vorbereitung meines Spielfilms „Die Auserwählten“, der sich ebenfalls mit Missbrauch an dieser Schule – diesmal mit dem Phänomen des Wegschauens des Umfelds – beschäftigt. In diesem Zusammenhang hatte ich engeren Kontakt mit Betroffenen aus dem katholischen Kontext, allen voran mit den ehemaligen Schülern des Berliner Canisius-Kollegs, deren Verdienste in der Aufklärung der Missbrauchsfälle unmittelbar zur Aufdeckung des Skandals an der Odenwaldschule beigetragen haben. Ich traf mich mit dem Betroffenenvertreter des Eckigen Tisches, Matthias Katsch, und mit dem damaligen Rektor, Pater Klaus Mertes, dessen wegweisender Brief vom Januar 2010 maßgeblich dazu beigetragen hat, dass die Verantwortlichen der Odenwaldschule gezwungen wurden, sich endlich mit ihrer eigenen Missbrauchsvergangenheit auseinanderzusetzten. Zusammen mit Matthias Katsch wurde ich von Prof. Jörg Fegert, dem renommierten Psychiater und Forscher,1 nach Ulm in sein Uniklinikum eingeladen, um polizeiliche Präventionsmaßnahmen zu begutachten. Und so kam es, dass wir am Abend in einer Kneipe am Fuß des Ulmers Doms beisammensaßen und über die Ähnlichkeiten und Unterschiede – systemisch betrachtet – zwischen dem Missbrauch an der liberalen reformpädagogischen Odenwaldschule und der katholischen Kirche gesprochen haben. Ob man einen ähnlichen Film über die katholische Kirche machen könnte, wie den über die Odenwaldschule, haben wir uns gefragt? Und dann kam uns die Idee: Wir machen nicht einen Film über die katholische Kirche. Ein solches Projekt wäre viel zu groß. Nein. Sondern wir machen einen Film über die Person Ratzinger, dessen Biografie auf eigenartige Weise die Geschichte der Kirche der letzten 60 Jahren samt ihrem Liebäugeln mit Reformen in den 1960er-Jahren, ihrem darauffolgenden Zurückschrecken vor der Öffnung der „Büchse der Pandora“ und ihren anschließenden Restaurationsbemühungen umspannt und wiederspiegelt.
Soweit so gut. Doch man hat als Filmemacher immer viele Ideen, und viele davon sind am nächsten Tag wieder verschwunden. Nach anfänglicher Euphorie erweisen sie sich als zu schwierig, als nicht machbar, oder bei nüchterner Betrachtung schlicht als nicht gut genug. Hinzu kommt, dass von vornherein klar war, dass ein solches Projekt gerade für mich mit enormen Herausforderungen und Risiken verbunden sein würde, die eigentlich eine abschreckende Wirkung auf mich hätten haben sollen. Schließlich ist Ratzinger ein Politikum, eine zutiefst umstrittene Figur, die spaltet. Für die einen ist sie eine Galionsfigur, für die anderen ein Schreckensgespenst. Da begibt man sich, gerade als Nichtkatholik, sehr schnell auf Glatteis. Aber auch aus drehtechnischen Gründen war das Projekt mit mannigfaltigen Risiken behaftet. Ohne dass es gelingt, Zugang zu Insidern, zu Vertrauten, zu den Bildarchiven, zu Drehmotiven zu erhalten – alles Dinge, die beim notorisch geheimnisvollen Vatikan keine Selbstverständlichkeiten sind – ist ein solcher Film zum Scheitern verurteilt. Doch trotz diesen Hürden und Schwierigkeiten war ich bereit, den Film in Angriff zu nehmen und durchzuziehen. Warum?
Die Frage ist für mich deswegen schwierig zu beantworten, weil die Entscheidung, den Film zu machen, zunächst mit einem Gefühl zu tun hatte. Mit einer Intuition. Ich habe mir Fotografien und Archivaufnahmen von Joseph Ratzinger angeschaut und instinktiv eine Möglichkeit gesehen, über seine Person hinaus eine weit größere Geschichte zu erzählen. Es gab etwas Paradigmatisches an ihm. Etwas Exemplarisches. Wie unter einem Brennglas sah ich in dem Menschen Ratzinger das Potential, über sein Privatleben und seinen Lebenswandel hinaus eine universelle Aussage über die institutionelle Kirche treffen zu können: über ihre Kultur, ihre Art zu denken, über ihre Motivationsgründe und ihre Art zu Handeln.
Damals, Anfang 2012, war Vatileaks noch nicht passiert und nicht einmal klar, dass Papst Benedikt zurücktreten würde. Dass mir die Ereignisse im Vatikan noch so viele dramatische Wendungen liefern würden, hätte ich nie für möglich gehalten! Und mehr noch: Mit Benedikts Rücktritt hatte ich plötzlich für meine Geschichte nicht nur eine Symbolfigur als Hauptprotagonisten, sondern auch noch einen tragischen Helden. „Die eigentlichen Intentionen, Absichten, sein Lebenswollen, das aufs Gute, aufs Heile, auf die Liebe Gottes für den Menschen gerichtet war – das hat er nicht verwirklichen können,“ sagt Professor Wolfgang Beinert, ein Weggefährte Ratzingers und sein Assistent zu Regensburger Zeiten, in meinem Film dazu. „Er ist ja gerade da immer wieder auf tragischer Art und Weise gescheitert.“ Tatsächlich ist Vielen Ratzingers tragisches Scheitern und sein verhängnisvoller Abgang, die beinahe spielfilmartig durch die Aufnahmen seines Wegfliegens im päpstlichen Hubschrauber zum Ausdruck gebracht worden sind, nicht entgangen. In seinem Interview redet Klaus Mertes sogar von einer „Tragödie im klassischen Sinne“: „Hier war einer, der wirklich der Kirche dienen wollte und das Evangelium verkünden wollte, aber durch die Art und Weise, wie er es tat, dem Ganzen Schaden zugefügt hat.“
Wobei sich Mertes auf die Tragödienhelden des antiken Griechenlands – auf Ödipus, Iokaste und Laios – bezieht. Je mehr ich über Ratzinger erfuhr, desto mehr fragte ich mich, ob Ratzinger nicht viel eher mit den tragischen Helden Shakespeares zu vergleichen wäre. War er tatsächlich blind wie Ödipus, oder hat er, wie Macbeth, sehenden Auges Schuld auf sich geladen? Schließlich war er ein Mann, der scheinbar bereit war, einiges in Kauf zu nehmen, um die vermeintlich göttlichen Ziele der Kirche verwirklicht zu sehen. Er glaubte, dass eine autoritär geführte, hierarchisch strukturierte, konform-orthodoxe Kirche notwendig sei, um ein „Bollwerk“ gegen das Böse zu bilden, das er als eine „Diktatur des Relativismus“ bezeichnete. Um das Gute zu schützen und zu wahren, müsse man für Ordnung sorgen, und zwar von oben herab. Es sei eben notwendig, gegen andersdenkende Theologen und progressive Bischöfe, die eine unorthodoxe Auslegung des Lehramts vertraten, vorzugehen. Und mehr noch als das: Tony Flannery, der irische Priester, der wegen unorthodoxer Meinungen über Themen wie Frauenordination und Pflichtzölibat von der Glaubenskongregation gemaßregelt wurde, erzählt im Film, wie er bespitzelt wurde. „Man fühlte sich fortwährend beobachtet und fragte sich ständig: Was werden die Vorgesetzten denken? Was wird der Bischof denken?“ Flannery beschreibt, wie Gläubige während seiner Predigten vor ihm auf den Kirchenbänken saßen und Notizen machten. „Es gab Menschen, die es als ihre Aufgabe ansahen, dem Vatikan alles zu berichten, was sie als ordnungswidrig empfanden, oder als ‚ketzerisch‘, wie sie es nannten. Und das Ungeheuerliche dabei war: Der Vatikan hörte ihnen zu.“
System der Kontrolle
In meinem Film wird Prof. Hermann Häring die Rolle zuteil, das resultierende System „der Kontrolle“ zu beschreiben, das aus „Angst und Vorsicht“ entstand. „Man hatte nicht mehr den Mut, sich kritisch zu äußern, weil man wusste, dass die Augen und die Ohren des Vatikans überall sind,“ sagt er. Dass ein solches System zwangsläufig dazu führt, dass Opfer produziert werden, ist die eine Seite. Dass es eigentlich den Keim des eigenen Scheiterns in sich trägt, ist die andere Seite. Mindestens ein Ergebnis dieses autokratisch geführten Systems war, wie Flannery im Film erklärt, „dass Männer unter den Päpsten Johannes Paul II. und Benedikt XVI. in die Führungsriege der Kirche befördert wurden, die ultraorthodox waren... und damit fast zwangsläufig jeder Führungsqualität entbehrten, weil sie unfähig waren, eigenständig zu denken.“ Gerade im Zusammenhang mit der Missbrauchskrise würde sich diese Personalpolitik, die bedingungsloses Gehorchen gegenüber der Institution forderte und selbstständigem Denken misstraute, als eine schwere Hypothek erweisen.
Dass Ratzingers Konzept einer autoritär geführten Kirche den Missbrauch nicht verhinderte, sondern im Gegenteil begünstigte, hat er selbst nie sehen können. Das war sein „blinder Fleck,“ sein tragischer Fehler, wenn man so will. Dabei sind die Lehren aller ernstzunehmenden wissenschaftlichen Studien zu diesem Thema eindeutig: Institutionen, die flache Hierarchien und transparente, demokratische Strukturen haben, in denen die Grundsätze von Rechenschaftspflicht, Gewaltenteilung und verantwortungsvolle Staatsführung gewährleistet werden, haben eher eine Chance, Missbrauch Einhalt zu gebieten. Weil Missbrauch immer mit Machtmissbrauch einhergeht, sind Menschen, die zur Autonomie erzogen worden sind und keine Angst haben, Autoritäten infrage zu stellen, eher gewappnet, sich zu wehren. Das sind die Erkenntnisse aller Experten. Sie zeigen, dass die Ursachen von Missbrauch systemisch zu betrachten sind. Da bleibt es gleich, ob dieses System ideologisch „links“ einzuordnen ist – wie im Falle der BBC oder Hollywoods oder der 68er-Bewegung, um das beliebte Beispiel von Ratzinger zu nehmen – oder „rechts“ – wie im Falle von streng-religiösen Gemeinschaften und Vereinigungen.
Das zeigt auch das Beispiel der Odenwaldschule perfekt. Nur nach Außen hin war diese Schule freizügig und liberal. Tatsächlich herrschte hinter der Fassade ein autoritäres System, in dem der Schulleiter Gerold Becker wie ein Puppet-Master alle Fäden in der Hand hielt. Er schuf eine regellose Kultur, in der erpresst wurde und Abhängigkeiten entstanden, indem beispielsweise Lehrer an die Schule geholt wurden, die keine pädagogische Ausbildung hatten und die eigentlich an einer Schule nichts zu suchen hatten. Derweil schmückte man sich mit dem Mythos des vielgerühmten „Leuchtturms der deutschen Pädagogik,“ während man die bösen „kinderseelenfeindlichen Paukanstalten“ der Außenwelt verteufelte. Wer diese verklärten Dogmen nicht teilte oder gar kritisch hinterfragte, wurde gemobbt und musste gehen. Nur diejenigen, die sich angepasst haben, durften bleiben – und ermöglichten mit ihrer Komplizenschaft bewusst oder unbewusst, wissentlich oder unwissentlich ein System, in dem schwache Kinder dem autoritären Schulleiter Gerold Becker und seinen Mittätern gefügig gemacht wurden und schutzlos ausgeliefert waren. So sah das System in der Odenwaldschule aus. Diese grundsätzlichen Mechanismen sind aber übertragbar auf alle Institutionen und Systeme – eben auch auf die katholische Kirche.
Ratzinger hatte für diese systemischen Ursachen der Missbrauchskrise aber keinen Blick. Die Gründe hierfür sagen viel über ihn aus, wie auch über das System Kirche. Deswegen nimmt der Missbrauchsskandal einen so großen Raum in meinem Film ein. Im Gegensatz zu anderen Kardinälen und Amtsträgern, die den Missbrauch schlichtweg leugneten, begriff Kardinal Ratzinger zwar ab Mitte der 1980er-Jahre die Dimension des Missbrauchsproblems und die damit einhergehende Gefahr für die Kirche zunehmend. Nachdem angelsächsische Bischöfe ab Ende der 1980er und Anfang der 1990er-Jahre wegen einer Vielzahl von erschütternden Skandalen immer mehr in Panik gerieten und händeringend nach Lösungsansätzen in Rom suchten, sah sich Ratzinger sogar gezwungen, zu handeln. Mit dem Motu Proprio Sacramentorum Sanctitatis Tutela sorgte er 2001 dafür, dass alle weltweiten Verdachtsfälle gegen missbrauchende Priester direkt an ihn geleitet werden sollten. Was danach geschah und wie entsetzt Ratzinger darauf reagierte, erzählt Erzbischof Charles Scicluna in meinem Film.
Aber der springende Punkt ist, dass zugleich schon wieder autoritär agiert wurde: Nicht an der Basis sollte das Problem gelöst werden, sondern zentral in der Glaubenskongregation. Außerdem sollten die Strafverfahren mit Verweis auf das „Päpstliche Geheimnis“ unter strengster Geheimhaltung laufen. Damit gelang es Ratzinger zwar, einige priesterliche Sexualstraftäter unter Ausschluss der Öffentlichkeit aus dem Verkehr zu ziehen, doch ansonsten blieb das Problem in seinen Grundsätzen ungelöst. Seine Vorgehensweise wurde den Opfern von sexuellem Missbrauch nicht gerecht, und letzten Endes war auch der Kirche damit nicht geholfen – weil sich zum einen die Kirche selbst auch der Vertuschung schuldig gemacht hatte, zum anderen weil der Kirche so die Chance genommen war, aus ihren Fehlern zu lernen. Gewiss, Ratzinger wollte mit seinem Handeln die Kirche schützen. Doch er bewirkte genau das Gegenteil. Das bezeugt die bis heute andauernde Krise, in der die Kirche steckt. Eine effektive Aufarbeitung hätte dagegen zum Verständnis der systemischen Ursprünge von Missbrauch und Vertuschung führen müssen. Wären die einzelnen Fälle richtig aufgeklärt worden, wären sogar einige der absurderen Vorstellungen, die manche Amtsträger bis heute noch vertreten – beispielsweise dass es eine Kausalität zwischen sexuellem Missbrauch und Homosexualität gebe – aus der Welt geschafft. Was die Institution vielleicht auch begriffen hätte, wäre, wie die Vertuschung funtkioniert, die für die Kirche den eigentlichen institutionellen Skandal darstellt.
Trotz aller Kritik, und auch wenn ich aus atheistischer Perspektive einen Blick auf die Institution der Kirche werfen wollte, war es mir in meinem Film wichtig, Ratzingers Schutzinstinkt zunächst zu verstehen. Überhaupt wollte ich erst einmal seinen Glauben ernstnehmen, seine kirchenpolitischen Ziele akzeptieren, ihn beim Wort nehmen. Schließlich wollte ich ihn nicht an meinen, sondern an seinen Maßstäben messen. Es war mir deswegen wichtig, seiner Liebe zu seiner Kirche, die ohne Zweifel authentisch und innig war, Rechnung zu tragen und filmisch durch expressionistische Bilder und Töne für den Zuschauer erfahrbar zu machen: durch Aufnahmen, wie ich sie beispielsweise in Bayern und Irland gemacht habe. Daher lasse ich den Film mit Statements beginnen, die schildern, was es bedeutet, zu einer Glaubensgemeinschaft wie zu einer Familie dazuzugehören: „Das ganze Leben ist durchtränkt von einer großen Freude daran, dazugehören zu dürfen und in dieser Kultur mitleben zu dürfen.“ Dieser Satz wird von Klaus Mertes gesprochen, aber könnte genauso von Ratzinger stammen. Das gleiche gilt für Georg Gänsweins Satz: „Wer solches erlebt, hat großes Glück. Oder empfängt dadurch ein großes Geschenk. Wohl dem, wohl der, der diese Erfahrung machen darf für das ganze Leben.“ Für einen Nichtgläubigen, wie ich es bin, sind das Gefühle, für die man erst einmal einen Sinn entwickeln muss. Durch meine Begegnungen mit Katholiken aus vielen Ländern habe ich in der Tat schätzen gelernt, was es für Menschen heißt, solche Glaubenserfahrungen zu machen. Ich habe sogar ein Verständnis dafür entwickelt, was daran so schützenswert ist. Es stellte sich mir bloß die Frage: Um welchen Preis? Doch nicht, wenn das Ideal von Kirche zum Selbstzweck und wichtiger wird als die Schicksale einzelner Menschen.
Pakt mit dem Teufel: Die Legionäre Christi
Im Film kann der Preis, der im schlimmsten Fall gezahlt wird, an keiner Stelle deutlicher sichtbar werden als anhand der Figur Marcial Maciel. Ratzinger dachte, in dem charismatischen Maciel und in seinen straff-organisierten Legionären Christi die Realisierung einer katholischen Utopie erblickt zu haben. Maciel und seine Legionäre lehnten die Reformen des Zweiten Vatikanischen Konzils ab und schienen auch sonst Verbündete im Kampf gegen „den Rauch Satans“ zu sein, „der durch die Ritzen der Gemäuer in die Kirche gekommen ist“ (Häring). Ratzinger nannte sie eine „spirituelle Miliz“, und mit ihnen zusammen wollte er der Kirche zurück zu ihrer Stärke verhelfen. In Wahrheit aber hatte der Glaubenspräfekt einen Pakt mit dem Teufel geschlossen. Das zeigt die lange Liste von Maciels Verbrechen, die nach und nach ans Licht kamen. Diese Vergehen sind so atemberaubend, abgründig und düster, dass ich sie im Film unmöglich in Gänze darstellen konnte, weil es sonst einfach unerträglich geworden wäre.
Maciel war ein serieller Missbrauchstäter, ein Drogensüchtiger, Plagiator, Betrüger und Bigamist. Mit einer Frau hatte er eine Tochter. Als Maciel bei seinem 60. Priesterjubiläum in Rom von Papst Johannes Paul II. und der Hierarchie mitbejubelt wurde, hatte er seine Familie in Begleitung dabei. Während sein zölibatäres Leben gefeiert wurde, übernachtete er mit ihr in einem der vielen Apartments, die er in Rom hatte. Mit einer anderen Frau, die 22 Jahre alt war, als er sie als 60-Jähriger kennenlernte, zeugte er weitere zwei Söhne. Er missbrauchte den älteren von beiden und dessen Halbruder ebenfalls. Viele Einzelheiten dieser abscheulichen Geschichte wurden erst 2009 bekannt, aber Ratzinger war nachweislich schon weit vorher über die Missbrauchsvorwürfe und über die Existenz der Tochter informiert. Er wusste jedenfalls genug, um eigentlich eingreifen zu müssen.
Trotz der Schwere seines Verbrechens wurde Maciel lediglich zu einem Leben in „Buße und Gebet“ verurteilt. Wie im Film gezeigt wird, hielt er sich nicht einmal daran und lebte den Rest seines Lebens in Luxus. Doch trotz aller Beweise zeigte sich Benedikt nicht willens, die Dimension von Maciels Betrug zu begreifen. Er bezeichnete ihn lediglich als eine „mysteriöse Gestalt“, der trotz seines „abenteuerlichen, vertanen, verdrehten Lebens“ eine Gemeinschaft voller „Kraft“ und „Dynamik“ aufgebaut habe: „Das ist das Merkwürdige, der Widerspruch, dass sozusagen ein falscher Prophet doch eine positive Wirkung haben konnte.“ Doch auch diese „guten Früchte“ erwiesen sich als Illusion. Das bezeugt eine Schar von Priestern und Seminaristen, die aus dem Orden der Legionäre ausgetreten sind und der Legion kultartige Zustände vorwerfen. Xavier Leger spricht für viele, die Opfer dieses „spirituellen Missbrauchs“ geworden sind. Auf eindrucksvolle Art und Weise beschreibt er im Film, wie Legionäre-Mitglieder in totale Abhängigkeitsbeziehung hineingerieten und ihres eigenen Willens beraubt wurden. Das sind Phänomene religiöser Versklavung von Menschen, die man auch im Kontext außerchristlicher Sekten kennt.
„Der Engel der Finsternis erscheint zuweilen in der Gestalt eines Engels des Lichtes,“ sagt Beinert in Bezug auf die Legionäre. Wie konnte sich aber ein so großer Theologe wie Ratzinger in der Unterscheidung der Geister so irren? Hat nicht selbst Jesus gesagt, dass ein fauler Baum keine guten Früchte hervorbringen kann? Hat Maciels Priesterutopie Ratzinger blind gemacht für die Betrügereien, Lügen und sonstigen Verbrechen, die hinter der Fassade stattfanden? War seine Sehnsucht nach einer goldenen, verlorenen Zeit, in der die Welt vermeintlich noch in Ordnung war, seine Achillesverse? Ließ er sich vom „genialen Verführer,“ wie der ehemalige Legionär Pablo Perez im Film Maciel beschreibt, manipulieren? Oder war er einfach bereit, die Schattenseiten Maciels und der Legionäre in Kauf zu nehmen? Sah er in den Legionären Christi die Zukunft der Kirche? War für ihn die Hauptsache, dass die Legionäre angeblich weiter imstande seien, der Kirche mit ihren „guten Früchten“ oder mit ihren „tollen, begeisterten jungen Priestern“ zu dienen und zu ihrer alten Stärke zu verhelfen? Da haben wir es wieder, die Frage: Ödipus oder Macbeth?
Sinnbildlich gesehen verkörpern die Legionäre in meinem Film jedoch weit mehr als nur Korruption und Missbrauch. Sie stellen auch eine manichäische Mentalität dar, die von Ratzinger geteilt wurde, und die sich wie ein roter Faden durch den ganzen Film zieht. Es ist eine Mentalität, die die Kirche in Besitz der absoluten Wahrheit sieht. Sie ist eben zum Heil der Welt da und darf deswegen nicht angegriffen werden, auch nicht in Gestalt von kritischen Fragen. Sie ist „ein Haus voll Glorie hoch wider alle Stürme“, das aber von „Feinden“ und vom Teufel umzingelt ist und deswegen unbedingt geschützt werden muss. Diese Mentalität zieht sich wie ein roter Faden durch Ratzingers Leben. „In seinem Elternhaus war immer alles in bester Ordnung. [...] Es gab nichts Böses im Innern des Kreises. Außen ja, aber nicht im Innern,“ sagt Beinert. Wohin diese Logik jedoch führen kann, zeigt in letzter Instanz die Vertuschung der Missbrauchsfälle, die durch diese Mentalität gerechtfertigt und legitimiert wurde. Wohin das ebenfalls führen kann, zeigt Marie Collins Geschichte über den Bischof, der sich erst dann über den sexuellen Missbrauch von Kindern echauffiert, als er erfährt, dass Maries Täter sie mit derselben Hand missbrauchte, die er kurz danach nutzte, um die für ihn so heilige Hostie zu halten (Hätte ihr Körper aber nicht genauso heilig sein sollen, fragt Marie?). Wenn man so weit gekommen ist, dass man den Glauben der Kirche als das eigentliche Opfer sieht und nicht mehr die Kinder, dann wird deutlich, dass irgendetwas nicht mehr stimmt.
Realitätsverweigerung
Und vielleicht ist es das, was ich intuitiv die ganze Zeit in Ratzinger gesehen habe, aber immer schwierig zum Ausdruck zu bringen fand: Ich habe in seiner Person die Verkörperung dieses absoluten Wahrheitsanspruchs gesehen, der um alles in der Welt geschützt werden muss, was zur Folge hatte, dass andere Wahrheiten nicht zugelassen werden durften. Doch eine solche Verweigerung, sich mit der eigentlichen Realität auseinanderzusetzen, kann nicht lange gut gehen, denn irgendwann kommt der Punkt, an dem man diese Wahrheiten nicht mehr leugnen kann – erst recht nicht, wenn es sich um die würdevoll vorgetragenen Wahrheiten von Opfern handelt, die nach Gerechtigkeit schreien. Irgendwann wird die kognitive Dissonanz zu groß. Irgendwann steht man vor der Wahl, entweder die eigenen Ideale und die eigenen absoluten, unveränderbaren Wahrheiten aufzugeben und auf die Menschen zuzugehen – oder auf dem utopischen Ideal zu beharren – weil man es für heilig erklärt hat – und in Kauf zu nehmen, dass damit die Wahrheiten von anderen Menschen geleugnet werden. Es ist dieser zweite Weg, der meines Erachtens in die Sackgasse, in die Krise geführt hat. Er hat dazu geführt, dass gute und gläubige Menschen mit ihren Wahrheiten diffamiert, diskreditiert, desavouiert, oder, wie es Tom Doyle in meinem Film zum Ausdruck bringt, zugunsten der Hierarchie „aufgeopfert“ wurden.
Vielleicht bedurfte es eines kirchenfernen Außenseiters, der ungläubig aufgewachsen ist und nicht so sehr an dem hing, was am katholischen Glauben so schön und schützenwert ist, um genau das zum Ausdruck zu bringen.