Röhls Ratzinger

Christoph Röhl ist ein Mann mit einer Mission. In der Münchner Hochschule für Philosophie stellt er seinen Film „Verteidiger des Glaubens“ vor: eine Dokumentation über Josef Ratzinger. Wortreich und mit leidenschaftlicher Emphase legt er dar, warum er diesen Film gemacht hat. Röhl will dem Publikum klarmachen, dass Menschen, die sich im Besitz der absoluten Wahrheit wähnen, eine Gefahr darstellen. Natürlich hat er selbst seine Wahrheit: Es gibt keinen Gott, und das ganze Universum hat keinen tieferen Sinn. Dazu bekennt er sich sympathisch offen. Aber auf diesem Hintergrund der unergründlichen Dunkelheit des Ganzen erscheint es ihm gefährlich, wenn einer fälschlicherweise meint, er habe das Licht der Welt entdeckt. Ein solcher Mensch wird zwangsläufig über Leichen gehen, um „seine Wahrheit“ zu schützen.

Und damit sind wir beim Film: Einer, der menschliche Schicksale auf dem Altar seiner Wahrheit opfert, ist Josef Ratzinger. Das ist die Sinnspitze, die erst nach und nach offenbar wird. Zunächst wird Ratzinger als platonischer Idealist porträtiert, als einer, für den es einen transzendenten Bereich ewiger und vollkommener Realität gibt, für den die irdische Welt nur ein unvollkommener Schatten ist. Röhls Ratzinger ist kein aufrichtiger Held, der im Kampf für das unerreichbare Gute tragisch scheitert. Röhls Ratzinger ist eine vielschichtige und zwielichtige Gestalt. Er ist einer, der auch Böses in Kauf nimmt, um seine Ideale zu schützen. Röhl vergleicht ihn mit Shakespeares Macbeth, dem tapferen schottischen General, der die Weissagungen von Hexen falsch interpretiert und – blind diesem Leitstern folgend – in immer tiefere Abgründe der Schuld stürzt. Durchaus mit Empathie und Verständnis, aber auch ein wenig spöttisch zeichnet der Film ein Bild der Biografie des späteren Papstes Benedikt XVI.: zum Beispiel wie er in den Wirren der 68er-Jahre zum ersten Male konkret mit der Art von Wahrheitsrelativismus konfrontiert wurde, die er fortan zu bekämpfen sich schwor. Ratzinger wird für Röhl zum „Defender of the Faith“, ein päpstlicher Titel, den erstmals ein schottischer König, James IV., trug.

Papst Johannes Paul II. wird im Film hingegen eher heilige Einfalt attestiert. Er merkt es nicht, dass ein krimineller Betrüger und gewalttätiger Narzisst wie der Gründer der Legionäre Christi, Marcial Maciel, ihn an der Nase herumführt. Ratzingers Intellekt war hingegen darauf geschult, die Verunreinigung des Ideals zu entdecken und auszumerzen. Ihm blieben als Präfekt der Glaubenskongregation die Umtriebe des angeblich heiligen Mannes nicht verborgen. Er wusste wohl auch schon länger, dass Marcial Maciel ein Serientäter sexueller Gewalt gegenüber Minderjährigen und Abhängigen war. Aber selbst als späterer Papst verlangte er vom Gewalttäter nur, fortan ein Leben in Abgeschiedenheit zu führen. Zu einem wirklich harten Durchgreifen mit allen juristischen Konsequenzen konnte sich Benedikt XVI. nicht durchringen. Das hätte zu viel Staub aufgewirbelt: Staub, der dann die weiße Fassade der Kirche beschmutzt hätte. Wäre die Kirche beschädigt, so wäre auch ihr Kampf für die Wahrheit geschwächt. Und hier erreichen wir nun die schon angedeutete Aussageabsicht des Films: Er will am Beispiel Ratzingers eine Erklärung dafür bieten, warum der Missbrauch sich so tief im Inneren der katholischen Kirche einnisten konnte. Man war bereit, im Kampf für die ewige Wahrheit die konkreten Opfer sexueller Gewalt als Kollateralschäden hinzunehmen. Hätte man auf ihren Schrei gehört und sichtbar reagiert, dann hätte die „Wahrheit der Kirche“ einen irreparablen Schaden erlitten. Daher vertuschte man lieber. Röhl meint, dass die Kirche nur ihre eigene Wahrheit und nicht die Wahrheit der Opfer gesehen habe.

Und an genau dieser Stelle geht seine Analyse in die Irre. Sein Relativismus erlaubt es ihm nicht, das Problem in seiner ganzen Härte zu sehen. Wahrheit ist niemals nur eine Wahrheit für jemanden oder für eine Gruppe. Es gibt keine Wahrheit der Kirche, die sich gegen eine Wahrheit der Opfer hätte ausspielen lassen. Es gibt auch keine Wahrheit der Opfer, die nun gegen die Wahrheit der Kirche gestellt werden müsste. Es gibt genau eine einzige Wahrheit über das, was geschehen ist. Das moralisch Böse, das sich in der sexuellen Gewalttat an Wehrlosen manifestiert, ist objektiv. Es ist von allen Seiten sichtbar, wenn man den Verstand nicht vernebelt und das Herz nicht verhärtet. Der Fehler der kirchlichen Hierarchie war nicht, dass sie ihren Kopf aus der platonischen Höhle heraus in den Bereich der ewigen Wahrheiten streckte und dabei die konkrete Wirklichkeit missachtete. Hätte sie sich so erhoben, hätte sie den moralischen Abgrund des Missbrauchs in gleißend hellem Licht erkannt und bekämpft. Die Idee des Guten hätte die Schleier der Vertuschung durchdrungen. Der Fehler der kirchlichen Hierarchie war ein anderer. Sie hatte ihren Kopf tief unten in der platonischen Höhle, im Reich der Schatten. Dies sind die Schatten von Einfluss und Ansehen, Anerkennung und Ehren: jene nur im flackernden Anschein der Höhle bedeutsamen Insignien der Macht auf der Bühne des menschlichen Lebens, die in Wahrheit nichts anderes sind als Windhauch. Ist es Tragik, wenn einer den Glanz ewiger Ideen mit Leidenschaft sucht, aber im Moment der Bewährung im Reich der Schatten verharrt? Oder ist es ein Mangel an Mut?

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