Zwei Kräfte walten in der Kirche: Amt und Charisma. Das Amt steht für Tradition, Ordnung, Verwaltung, Lehre, Recht – und agiert hoffentlich aus echter Autorität. Das Amt wird durch Weihe übertragen und verleiht die Weihegnade. Das Amt ist schon immer männlich bestimmt, es ist monarchisch verfasst – einer regiert – und außerdem hierarchisch – eine gestufte und heilige Ordnung ist etabliert. Hingegen steht das Charisma für den Geist, der weht, wo und wie er will, für spirituelle Bewegungen, für Aufbrüche zu Neuem und Anderem. Das Charisma wirkt aus sich, von unten, in Vielfalt, bisweilen unordentlich oder chaotisch, manchmal auch autoritär, was wiederum die Unterscheidung der Geister notwendig macht. Jedenfalls: Ohne den Geist entsteht nichts Neues. Das Charisma ist oft weiblich bestimmt, oft auch durch starke charismatische Persönlichkeiten.
Amt und Charisma stehen in einem gewissen Antagonismus, der schon biblische Wurzeln hat – im Petrusamt und im Paulusamt. Wenn beide gut zusammenarbeiten, ergänzen und befruchten sie sich. Wenn sie jedoch im Konflikt erstarren und sich blockieren, behindern sie das kirchliche Leben. Gut zusammenarbeiten bedeutet: Sie verstehen sich nicht immer, aber sie bleiben im Dialog, angstfrei, also vertrauend, und sie respektieren sich: Das Charisma respektiert im Amt den Auftrag zur Einheit, zur Führung und zur Kontrolle; das Amt respektiert im Charisma die spirituelle Freiheit, das Radikale – das an der Wurzel Zupackende – und das Energische, auch das Anarchische – Mon- und Hierarchien relativierend – und das Kreative. Übrigens waren große Bischöfe und Päpste Männer mit Amt und mit Charisma, beides nicht verschmolzen, aber aktiv gelebt, zum Segen der Kirche. Papst Franziskus ist wohl – definitiv beurteilen wird das erst die Geschichte – ein solcher Mann: Das führt zu einigen schmerzhaften Antagonismen in ihm selbst, auch zu Konflikten mit den Amtsmännern seiner Kurie – aber einer sich erneuernden Kirche gereicht es zum Heil. Alle werden das niemals verstehen; etwa die FAZ, wie immer der Wahrheit verpflichtet, bezeichnet ihn neuerdings als „einfach irre“ (14.9.2019, S. 8).
In der Neuzeit wurde das Amt stärker als das Charisma. Wichtiger wurden das Recht, die Doktrin, die Abwehr von Neuem – die Modernismuskrise war ein Höhepunkt. Im Zweiten Vatikanischen Konzil setzte sich das Charisma stärker durch, ein ungeahnter und begeisternder Aufbruch. Seit einigen Jahrzehnten ergreift jedoch wieder das Amt das Zepter, mit Zentralismus und Kontrolle, mit Betonung der Amtsgnade und der Amtsvollmacht. Das Amt – vor allem das Petrusamt in Rom – will die Einheit der Kirche retten gegen das Auseinanderfallen in vielfältige Kulturen und ebenso ihre „Lehre“ gegen den Zeitgeist.
Die dramatische Kirchenkrise in unseren Landen zeigt: Die Verfassung der Kirche taugt nicht mehr recht; versagt hat sie u.a. gegen den Missbrauch. Das Amt hat in weiten Kreisen jede Autorität verloren – die Menschen achten es nicht mehr oder laufen gleich ganz weg. Die Polarisierung zwischen reformorientierten und traditionellen Katholiken ist so hart, dass der Dialog gestört ist: Ist die Kirche überhaupt noch eins? Offensichtlich funktioniert das Amt nicht mehr; je mehr es in der Spaltung selbst Partei ist, desto eher wirkt es spaltend. Haben die Amtsträger das schon gemerkt?
Der „synodale Weg“ der deutschen Kirche versucht, die Krise anzugehen. Die Themen der vier Foren (Macht, Sexualmoral, Priestertum, Frauen) sind allerdings, vereinfacht gesagt, eher Amts-Themen. Will man so dem Charisma Raum geben? Fehlt nicht ein Schwerpunk auf der geistlichen Erneuerung, auf der Evangelisierung, letztlich auf der Gottesfrage in gottferner Zeit? Kommen die charismatischen Kräfte der Kirche – geistliche Bewegungen und Gemeinschaften – genügend vor?
Papst Franziskus (im Brief vom 29.6.2019) ermutigt ganz paulinisch zur freimütigen Rede und zur Unterscheidung der Geister. Kardinal Ouellet hingegen (im Brief vom 4.9.2019) betont das geltende Recht, die Entscheidungsmacht der Bischöfe, die Genehmigung alles Neuen durch „Rom“ – hier will Rom die Kontrolle behalten und Neues, Kreatives von vorneherein unterbinden; der Brief ist dünkelhaft, verächtlich, ein Machtgestus – der deutschen Kirche und ihren Bischöfen traut er nicht zu, geistgeleitet voranzugehen. Allerdings sind das Amt und die Verfassung in der Krise, also muss man über diese reden: freimütig, geisterfüllt, kreativ.
Hat das Amt Angst? Vor Bedeutungs- und vor Kontrollverlust, vor Unordnung, vor Buntheit, oder einfach davor, in einigen Weltregionen nicht mehr alles zu verstehen? Offensichtlich weiß man in Rom über die dramatische Kirchenkrise in Deutschland (und anderswo) nicht viel. Oder man will von ihr nichts wissen – aus Angst, das eigene Kirchenbild zu verlieren? Die Einheit der Kirche – Argument derer, die den petrinischen Durchgriff betonen – ist schon lange massiv brüchig und wird durch „Rom“ derzeit keineswegs gefördert. Warum klammern sich manche der hohen Herren an Strukturen und an formale Einheit? Warum vertrauen sie nicht auf den Geist? Haben sie Angst vor ihm und seiner Erneuerungskraft? Angst war schon immer ein schlechter Ratgeber, vor allem in Krisen.