Fundamentalisten sind immer die anderenÜberlegungen zu katholischen, evangelischen und muslimischen Milieuverengungen

Ausgehend von Samuel Huntingtons Begriff des „Clash of Civilisations“, der für eine rechtskonservative Begründung kulturell bedingter Konflikte steht, stellt Joachim Valentin ein anderes Modell vor, das sich vor allem auf soziale Faktoren des Miteinanders in einer globalisierten und multikulturellen Welt konzentriert. Valentin ist apl. Professor für christliche Religions- und Kulturtheorie in Frankfurt am Main und Direktor des „Haus am Dom“ ebendort.

Ob man von Radikalismus und Extremismus, von Salafismus oder Dschihadismus oder einfach von reaktionärer oder konservativer Religion redet – es geht immer um Formen von Religion, die im aktuellen Diskurs westlicher Gesellschaften, mit guten oder schlechten Gründen, nicht mehrheitsfähig sind oder als Problem wahrgenommen werden. Für mich ist das allerdings eigentlich keine theologische Fragestellung im engeren Sinne – regelt in rechtsstaatlichen Gesellschaften doch das Gesetz, was in religionibus geht und was nicht. In dieser Debatte befinden wir uns seit 09/11. Ob homeschooling, Abtreibung, Kopftuch oder Scheitl, ob Schächten oder Beschneidung: Was von der positiven Religionsfreiheit gedeckt ist und was andere Rechte beschneidet und die Freiheit Dritter bedroht, ob eine Moschee gebaut oder nicht gebaut werden darf, wer bei uns als Religionsgemeinschaft anerkannt wird und als Partner des Staates Religionsunterricht erteilen darf, wird durch staatliche Prozesse entschieden und hinterher haben sich alle daran zu halten. Aufgabe von Theologie und Kirchenvertreterinnen scheint mir schon aus strategischen Gründen zunächst immer erst einmal zu sein, die positive Religionsfreiheit gegen eine immer aggressiver laizistisch werdende Gesellschaft zu verteidigen.

Doch all diese Fragen klammere ich hier aus und versuche eine vertretbare Fassung des ursprünglich innerprotestantischen Kampfbegriffs „Fundamentalismus“ und seines scheinbaren Pendants „Aufklärung“. Das nötige Rüstzeug dafür wurde bereits beim letzten Jahrtausendwechsel bereitgelegt. Hier stehen sich bis heute zwei Positionen gegenüber, von denen die erste durch ein polares und die zweite durch ein intern und global-plurales Modell von Religionen und Kulturräumen gekennzeichnet ist.

Die erste Position, am prägnantesten und zuerst gefasst von Samuel Huntington in The Clash of Civilisations (New York 1996) denkt „Religionen“ oder „Kulturen“ vor allem in einem feindlichen Gegeneinander und ist Vordenker der Falken oder rechtskonservativen Denker um George W. Bush, welche sich ansonsten auf die beiden aus dem deutschnationalen Umfeld der Weimarer Republik stammenden Denker Leo Strauss und Carl Schmidt stützen. Huntington schrieb 1996, nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes sei die Weltpolitik zwar multipolar und multikulturell geworden. Nicht mehr Ideologien, sondern Kulturen bestimmten die Weltordnung. Der Westen müsse also, um neue weltweite Konflikte zu vermeiden, auch andere kulturelle Wertvorstellungen beobachten. Es sei ein Irrtum, Modernisierung mit westlicher Kultur oder Verwestlichung gleichzusetzen. Die Werte des Westens würden in anderen Kulturkreisen nämlich gerade nicht als universelle Werte anerkannt. Im Buch heißt es dazu wörtlich:

„Der Westen eroberte die Welt nicht durch die Überlegenheit seiner Ideen oder Werte oder seiner Religion (zu der sich nur wenige Angehörige anderer Kulturen bekehrten), sondern vielmehr durch seine Überlegenheit bei der Anwendung von organisierter Gewalt. Oftmals vergessen Westler diese Tatsache; Nichtwestler vergessen sie niemals.“1

Huntington hat mit dieser Absage an Dialog und der Fokussierung auf den bewaffneten Konflikt zwischen Kulturen, eben dem „Clash of Civilisations“ und seiner Verweigerung einer differenzierten Wahrnehmung dessen, was er als „Nicht-Westler“ bezeichnet, nicht nur die US-amerikanische Außenpolitik massiv beeinflusst. Die Folgen, die sie im mittleren Osten für die heute völlig außer Kontrolle geratene Lage dort hatte, sind offenkundig, aber bis heute findet man auch in Westeuropa in großer weltanschaulicher Breite einflussreiche Multiplikatoren, Thilo Sarrazin und Alice Schwarzer sind hier zwei Personen, interessanterweise aus dem linken Spektrum, die meinen, auch in europäischen Gesellschaften eindeutig bestimmbare Kulturräume identifizieren und deren Konfrontation inszenieren zu können. Auch aktuelle Wahlergebnisse in Deutschland und Europa sind in diesem Zusammenhang zu verstehen. Die hier aufgerufene unterschwellige Bedrohungs-, ja Kampfsituation macht dann auch gerne einmal die Geltung von Menschenrechten und Völkerrecht für die „nicht-westlichen“ „Feinde“ vergessen.

Die Rückkehr der Religionen

Eine frühe und bis heute schwer überholbare Gegenposition zu diesem Manichäismus findet sich in Martin Riesebrodts Buch Die Rückkehr der Religionen aus dem Jahr 2001,2 auf das ich mich für einen ersten Blick auf die Szene stütze. Der Chicagoer Soziologe führt im Fahrwasser Ulrich Becks und in Abgrenzung sowohl von neokonservativen (Huntington) wie von auf Klassengegensätze und Kapitalismuskritik enggeführten neomarxistischen Denkmodellen die Begriffe „Klassenkulturen“ und „Kulturmilieus“ ein. Damit wird er der empirischen Vielfalt, der Komplexität und diversen Logik von „fundamentalistischen“ Gruppenbildungen weit eher gerecht: Die Kampflinie, der Clash, liegt nicht zwischen verschiedenen Kulturen also zwischen innen und außen, sondern innerhalb eigentlich aller Kulturen zwischen Klassen und Milieus. In dieser pluralen Sicht kann man Huntingtons unversöhnlichen Kultur-Manichäismus selbst als Fundamentalismus verstehen.

Riesebrodt leugnet nicht, dass gerne unscharf als „fundamentalistisch“ bezeichnete nicht-westliche Gruppen durchaus eine höhere soziale und weltanschauliche Homogenität aufweisen, als ihnen nach der Auflösung der Klassen und Milieus in der späten Moderne eigentlich zukommen dürfte. Er schreibt:

„Gerade unsicher gestellte Gruppen bilden Milieus aus, […] und von denen gibt es in den westlichen Industrieländern eine Vielzahl, ob es sich um Türken [Marokkaner, Syrer, Kroaten, Eritreer] in Deutschland, Pakistaner, Inder und Jamaikaner in England oder Nord- und Westafrikaner in Frankreich handelt. Sie alle sind keineswegs im Schmelztiegel des Individualismus verschwunden.“3

Damit beschreibt Riesebrodt zugleich Milieus, die uns in unserer religionspolitischen Lage heute auch noch beschäftigen, allerdings eher als konservative Import-Religionsgemeinschaften, mit denen wir uns auch innerchristlich herumzuschlagen haben. Wir haben es nur noch nicht bemerkt: In Deutschland bildet etwa die große Zahl von Katholikinnen und Katholiken mit konservativ-katholischem Migrationshintergrund, also etwa Kroaten, Eritreer, Polen und Italiener, eine der unsichtbarsten und zugleich größten Herausforderungen für pastorales und religionspädagogisches Handeln.

Riesebrodt identifiziert allgemein einen „Fundamentalismus der marginalisierten Mitte“ (78) und beschreibt weltanschauliche Merkmale: „die ‚gute alte Zeit‘ der eigenen Kindheit oder einer idealisierten Vergangenheit [etwa der islamischen Salafia oder der christlichen Urgemeinde bzw. des katholischen 19. Jahrhunderts]“ (79) repräsentiert ein Ideal, das verpasste oder fernliegende Aufstiegsziele ersetzt. Die Zugehörigkeit zu einer weltanschaulichen Elite und deren Triumph über reale Eliten in naher Zukunft kompensiert verweigerte gesellschaftliche Akzeptanz oder aus verschiedenen Gründen unmögliche Ausbildung einer starken Ich- oder Gruppen-Identität.

Diese für unsere Zwecke notwendig knappe erste stark soziologisch geprägte Skizze dessen, was man mit gewissem Recht „Fundamentalismus“ nennen kann und zugleich in westlichen wie nicht-westlichen Kulturen findet, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Riesebrodt sozialwissenschaftlich noch weiter unterscheidet und etwa zwischen Armen-, Mittelschichts- und Intellektuellen-Fundamentalismus differenziert, aber auch bezüglich der Weltanschauung von mindestens drei Aggregatzuständen des Fundamentalismus spricht. Nämlich von charismatischem, der wie etwa in den Pfingstkirchen oder dem mystischen Islam vom direkten Empfangen höherer Wahrheiten in ekstatischen Ritualen lebt und als besonders frauenfreundlich gilt, politischem, also auf gesellschaftliche Umsetzung zielenden und legalistisch-literalistischem Fundamentalismus, der eher auf der Ebene des patriarchal gefassten Dogmas oder der Theorie agiert (Riesebrodt 97 ff.).

Bei allen evangelischen und sowieso bei den muslimischen Fundamentalismen handelt es sich übrigens um fast reine Laienbewegungen. Diese Erkenntnis hilft nicht nur bei der, wie ich meine grundlegenden Unterscheidung zwischen evangelischem und islamischem Fundamentalismus einerseits und katholischem Traditionalismus andererseits. Es zeigt auch, wie alt unsere nur scheinbar aktuellen (auch die innerkatholischen) Probleme sind. Der Religionssoziologe MaxWeber konnte sie schon vor fast hundert Jahren auch für uns heute noch erhellend auf den Punkt bringen: „Die drei im Kreise der Laien wirksamen Mächte aber, mit welchen das Priestertum sich auseinanderzusetzen hat, sind 1. Die Prophetie, 2. der Laientraditionalismus, 3. Der Laienintellektualismus.“4 Zu den heute klaren strategischen Vorteilen des evangelikalen Fundamentalismus in Lateinamerika (und Afrika) gegenüber der katholischen Kirche schreibt Riesebrodt:

„Besonders in dieser Konkurrenzsituation erweisen sich die Partizipationsmöglichkeiten für Frauen im charismatischen Protestantismus als großer strategischer Vorteil, gerade auch gegenüber stärker intellektualisierten katholischen Basisgemeinden. Die direkte unvermittelte nicht erwerbbare Gnadenerfahrung unabhängig von Status, Einkommen, Bildung oder Geschlecht erklärt die Attraktivität charismatischer Religion speziell für Personenkreise, die ansonsten von der Erlangung religiöser Qualifikationen ausgeschlossen sind.“5

Auch Riesebrodts Definition der Gegner, welche sich fundamentalistische Gruppierungen wählen, gilt bis heute: 1. die neue politische Klasse, Produkt universitärer Bildung 2. Angehörige der neuen Ober- und oberen Mittelschicht 3. Intellektuelle 4. Minoritäten wie Katholiken oder Christen allgemein, Juden, Sikhs, Ahhmadija, Hindus, da wo sie in der Minderheit, also störend und angreifbar erscheinen. Riesebrodt fasst die Definition solcher Gegner allgemein als politische Agenten des Wandels, Praktiker einer Säkularisierungspolitik und Gewinner dieser Umstrukturierungsprozesse zusammen. Es drängt sich hier die Feststellung auf, dass sich in Europa in den letzten Jahren neben dem bekannten religiösen ein politischer Fundamentalismus herausgebildet hat, der sich als „Verteidiger des christlichen Abendlandes“ ebenfalls religiös verbrämt, ansonsten aber alle Merkmale mit seinen erklärten Gegnern teilt.6

Die Antwort des Fundamentalismus auf diverse – vor allem ökonomische und soziale – Marginalisierungserfahrungen liegt also in einer „radikalen Zurückweisung des modernistischen Werterelativismus, individualistischer Selbstverwirklichung und Fortschrittsutopien wie auch moderner Bürokratisierungs- und Versachlichungstendenzen.“7

An dieser Stelle kann nur angerissen werden, dass sich diese rechtspopulistischen Grundmuster gut sowohl auf pietistische oder andere evangelikale Gruppen wie auch – das hat Ahmad Mansour in seinem Buch Generation Allah8 gezeigt – natürlich auf salafismusgefährdete – ja gar nicht immer autochthon muslimische Jugendliche übertragen lässt. Hier kommt allerdings oft echte Ausgrenzungserfahrung durch den in unserer Gesellschaft besonders weit verbreiteten antimuslimischen Rassismus und die Krise einer in diesen Kulturen zentralen männlichen Führerfigur durch Abwesenheit oder ökonomische Schwäche des eigenen Vaters, aber auch durch die als ehrenrührig erlebte Gleichberechtigung von Frauen hinzu.

Neben dem nun grob skizzierten soziologischen Verständnis des weit, keineswegs nur im Islam, verbreiteten Phänomens „Fundamentalismus“ – der Begriff leitet sich bekanntermaßen von einer US-amerikanisch-evangelikalen Zeitschrift her – ist nun auf die interne Komplexität aller Hoch- oder Weltreligionen hinzuweisen und davor zu warnen, die Religion des eigenen Milieus, das in unserem Fall das Milieu akademisch Gebildeter und in der Regel begüterter Bevölkerungsteile sein dürfte, zu universalisieren und normativ zu überhöhen. Vor allem nach den Reformen des Zweiten Vatikanischen Konzils ist dem westeuropäischen Katholizismus zuweilen das Gespür für jene zahlenmäßig bedeutenden Schichten verloren gegangen, deren Glaubenspraxis von Rosenkranz, Maiandacht, Wallfahrt und Heiligenverehrung geprägt ist. Die von Michael N. Ebertz zu Recht beklagte Milieuverengung der katholischen Gemeinden9 ist in Teilen eben auch Ergebnis einer flächendeckenden Austilgung als vormodern empfundener Frömmigkeitspraxen und der Verlust jener Klientel, deren Zugehörigkeit sich primär genau darüber definiert hatte.

Virtuosen-, Intellektuellen- und Massenreligiosität

Es wäre darüber hinaus interessant, den offenkundigen Konflikt zwischen europäischen und islamischen Kulturen einmal nicht als Kulturkonflikt, sondern als Konflikt zwischen Massen- und Intellektuellen-Religiosität zu verstehen. Denn: So wie das europäische Christentum, katholisch wie evangelisch, seine massenreligiösen Milieus verloren hat, hat der Islam im Laufe fast tausend Jahre zurückliegender Ereignisse seine intellektuellenreligiösen Milieus verloren.

Unerlässlich für eine angemessene Darstellung der Lage in unserem Themenfeld oder gar zur Fassung einer Handlungsalternative ist es nämlich, mit einem soziologisch adäquaten Begriff von dem zu hantieren, was man unter „Religion“ versteht. Ich schlage vor, Religion als soziale Größe mit Max Weber zu begreifen als organisches Ganzes komplexer autopoietischer Felder der Vergemeinschaftung und Selbstkonzeption, das heißt für die theologische Perspektive aktuell also: als Geflecht von sowohl theoretischen als auch praktischen, oder besser: sowohl reflexiven als auch performativen religiösen Vollzügen. Beide Dimensionen sollten dabei nicht gegeneinander ausgespielt, sondern komplementär gedacht werden, sie bedürfen einander – Performanz ist aber per se eher unvernünftig, Reflexion per se eher leiblos.

Max Weber charakterisiert die drei Grundtypen religiöser Grundphänomene Massen-, Virtuosen- und Intellektuellenreligiosität bereits dichotomisch, ja konfliktiv10 einander zugeordnet. Das Feld, auf dem er sich bewegt, sind die in den drei Milieus unterschiedlichen Erlösungserwartungen. Zunächst zur Massenreligiosität, die Weber zuerst als eine Religiosität der Unterprivilegierten fasst:

„Jedes Erlösungsbedürfnis ist Ausdruck einer ‚Not‘, und soziale oder ökonomische Gedrücktheit ist daher zwar keineswegs die ausschließliche, aber naturgemäß eine sehr wirksame Quelle seiner Entstehung. Das spezifisches Bedürfnis [der negativ Privilegierten] ist die Erlösung vom Leiden. Sie empfinden dieses Erlösungsbedürfnis nicht immer in religiöser Form, – so z.B. nicht das moderne Proletariat. Vor allem kann sich [ihr Erlösungsbedürfnis] in sehr verschieden ausgeprägter Art mit dem Bedürfnis nach gerechter ‚Vergeltung‘ paaren. Vergeltung von eigenen guten Werken und Vergeltung von fremder Ungerechtigkeit. Nächst der Magie und verbunden mit ihr ist daher eine meist ziemlich ‚rechenhafte‘ Vergeltungserwartung und Vergeltungshoffnung die verbreitetste Form des Massenglaubens auf der ganzen Erde.”11

Der Terminus ‚Masse‘ bezieht sich bei Weber allerdings nicht primär auf die Quantität der Gläubigen, sondern eher auf einen bestimmten Modus ihrer Religiosität, so dass er sowohl auf (quantitativ abnehmende) volksreligiöse Strömungen in den christlichen Großkirchen als auch auf die zwar großen, aber an die übrigen christlichen Konfessionen quantitativ nicht heranreichenden Endzeitkirchen oder den Islam im Sinne einer einfachen, wenig Bildung voraussetzenden Religiosität anwendbar bleibt, die sich vor allem in sichtbarer Orthopraxie (Wallfahrten, gottesdienstliche und ethische Observanz etc.) niederschlägt. Der Terminus bezeichnet bei Weber zudem zunächst ein zu versorgendes Laientum, das nicht genügend Energie aufbringt, um die Lebensführung der religiösen Eliten und ihrer Sonderethiken zu teilen.12

Als religiöse Heroen oder Virtuosen charakterisiert Weber diejenigen Charismatiker13 oder religiös „Höchstbegabten”, deren „Ansprüche [...] Höchstansprüche [sind], aber für die Alltagsethik nicht maßgebend.”14 Konkret nennt Weber die „ausdrücklich als besonderer Stand in der Gemeinde anerkannten altchristlichen ‚Asketen‘, die paulinischen und erst recht die gnostischen Pneumatiker, die pietistische ‚ecclesiola‘, alle eigentlichen Sekten, das heißt soziologisch: Verbände, welche nur die religiös Qualifizierten in sich aufnehmen, endlich alle Mönchsgemeinschaften”.15

Die Unvereinbarkeit, die die Situation der christlichen Kirchen und Denominationen im Westen und Norden innerchristlich aber vor allem auch zwischen christlicher einer- und islamischer Hemisphäre andererseits noch immer wesentlich bestimmt, könnte also gut – und das ist mein wesentlicher Vorschlag hier – als die zwischen Massen- und Intellektuellenreligion gefasst werden. Weber macht die Geburtsstunde des religiösen Intellektuellen bei den Trägern der ‚jüdischen Aufklärung‘, also den Propheten aus.16 Auch dieses Erlösungskonzept ist ein schichtspezifisches und in den Augen Webers letztlich sozioökonomisch katalysiert:

„Stets ist die Erlösung, die der Intellektuelle sucht, eine Erlösung von ‚innerer Not‘ und daher einerseits lebensfremderen, andererseits prinzipielleren und systematischer erfassten Charakters, als die Erlösung von äußerer Not, welche den nicht privilegierten Schichten eignet. Der Intellektuelle sucht auf Wegen, deren Kasuistik ins Unendliche geht, seiner Lebensführung einen durchgehenden ‚Sinn‘ zu verleihen, also ‚Einheit‘ mit sich selbst, mit dem Menschen, mit dem Kosmos. Er ist es, der die Konzeption der ‚Welt‘ als eines ‚Sinn‘-Problems vollzieht. Je mehr der Intellektuelle den Glauben an die Magie zurückdrängt, und so die Vorgänge der Welt entzaubert werden […] desto dringlicher wächst die Forderung an die Welt und ‚Lebensführung‘ je als Ganzes, dass sie bedeutungshaft und ‚sinnvoll‘ geordnet seien.”17

Bis hierher ist deutlich geworden, dass die Webersche Unterscheidung zwischen Massen- und Intellektuellenreligion eine grundlegende ist, die als Ergebnis je spezifischer soziokultureller Schicht- oder Milieubildung vor allem beim Blick auf außerweltliche Erlösungsvorstellungen – also die der monotheistischen Religionen, vor allem des Christentums und des Islam – immer mitbedacht werden sollte. Erst beide gemeinsam, ggf. ergänzt durch eine dritte schmale Schicht aus Klerus und / oder religiösen Virtuosen in den Orden, ergeben eine Hochreligion. Jedes Milieu für sich alleine dagegen ist kaum überlebensfähig, wie wir gerade mit umgekehrten Vorzeichen unter Bedingungen der reflexiven Moderne sowohl im Christentum wie im Islam erleben. Erst das geregelte Miteinander aller von Weber beschriebenen religiösen Subsysteme ist ganz biblisch, vor allem gemäß dem paulinischen korporativen Kirchenverständnis als „Leib Christi“ existentiell und zugleich in der beschleunigten Moderne überlebensfähig, aber zugleich wegen ihrer differenzierenden und damit zentripedalen Kräfte offenbar gerade besonders bedroht.

Religion und Aufklärung

Der Begriff „Aufklärung“ ist inzwischen leider wie viele andere Begriffe seiner Unschuld und Reinheit verlustig gegangen. Das hehre sapere aude aus Kants Schrift „Was ist Aufklärung?“ ist – in einer starken Rezeption des französischen, also religions- und kirchenfeindlichen Aufklärungsparadigmas á la Voltaire – zu einer Waffe gegen jene geworden, die „noch glauben und noch nicht denken“18, verkommen. Das fällt uns eher auf, wenn das Voltairsche Paradigma sich gegen uns Christen richtet, aber leider weniger, wenn es – wie im Moment andauernd – gegen Muslime gerichtet wird.

Es dürfte aber bisher schon deutlich geworden sein, dass ein Denken in der Alternative einer unaufgeklärten (muslimischen) Religion einerseits und einer (christlich-) europäischen Aufklärung gar im Sinne zweier komplett trennbarer „Kulturen“, im Sinne Huntingtons, nicht funktioniert. Beide Religionen und auch die nichtreligiösen Teile aktuell valenter Weltanschauungen sind von einer umfassenden Dialektik der Aufklärung betroffen, der Islam aber in völlig anderer Weise.

Selbst renitente Islamkritiker, ja vielleicht „-feinde“ wie der Freiburger Wissenschaftler Abdel-Hamid Ourgi,19 gestehen dem Islam ja eine historisch bereits einmal verwirklichte Nähe zu Traditionen der rationalen oder philosophischen Kritik zu, noch dazu in seiner formativen, also theologie-bildenden Epoche in den Machtzentren Bagdad, Kairo, Fes oder Cordoba zwischen dem 8. und 12. Jahrhundert. Hier war der Islam dem christlichen Nordwesten Eurasiens in jeder Hinsicht und eben auch in Theologie und Philosophie um Längen voraus. Von einer essentiellen Unfähigkeit des Islam zur Reflexion kann also nicht Rede sein. Die Eroberung Bagdads durch die Mongolen und die Übernahme der Macht im liberalen Cordoba durch orthodoxe Berber sowie die christliche Reconquista und die Entstehung des Osmanischen Reiches, also weltgeschichtliche, nicht ideengeschichtliche Ereignisse, beendeten diese segensreiche Epoche. Das Tor des Iqtihad, also der freien theologischen Reflexion auf die normativen Quellen des Islam, wurde damals ein für allemal geschlossen und vier Rechtschulen und die konservative qaritschitische Theologen-Schule Al Gahzalis übernahmen die Federführung. Gemeinsam mit der politischen Macht, die der saudische Wahabismus, die nordafrikanischen Muslimbrüder sowie die türkische AKP Erdoğans im letzten Jahrhundert erlangten, entwickelte sich eine Zeitbombe, die seit 9/11 nicht aufgehört hat, zu explodieren.

Notwendig wäre auf islamischer Seite also eine „Wiederöffnung“ der im 12. Jahrhundert geschlossenen „Pforte des igtihãd“ und zwar nicht nur an deutschen oder nordamerikanischen Universitäten. Damit würde die alte Tradition eines kontroversen theologischen Diskurses an den islamischen Universitäten wieder den ihr gebührenden Platz erhalten. Gleichzeitig aber müsste den Muslimen überall auf der Welt (wie in nostra aetate geboten) mit Achtung vor ihrer persönlichen Würde und ihrem alten intellektuellen und kulturellen Erbe sowie ihrer kolonialen Leidensgeschichte entgegengetreten und mit ihnen auf gleicher Augenhöhe diskutiert werden. Dabei handelt es sich um eine Aufgabe, deren Lösung angesichts des mit der Terrorgefahr gewachsenen Misstrauens auf allen Seiten heute fast unmöglich erscheint.

Um einen solchen Dialog auf breiter Basis zu eröffnen, ohne dabei der islamischen Religion ihren moderne-kritischen Stachel zu nehmen oder sie gar ihrer Auflösung im Säurebad des Laizismus zu überantworten, müssten in den genannten Regionen zunächst auch wirtschaftliche und politische Entspannung und ein Ende der ungerechten Diktaturen eintreten, die nur ein pervertiertes Bild von Menschenrechten und Demokratie vermitteln. Denn nur auf der Basis geordneter Verhältnisse und eines gewissen Wohlstandes lässt sich in Ruhe theologisieren. Nur so werden die unbeschäftigten Massen Nordafrikas und des mittleren Ostens unempfänglich für fundamentalistische Hassprediger, welche für deren komplexe Situation immer nur einen Schuldigen kennen: den korrupten und gottlosen Westen, der schon immer mit gespaltener Zunge sprach.

Aber auch die westlichen Intellektuellen werden umdenken müssen, wenn sie in Zukunft einer unterkomplex argumentierenden und bisweilen heillos agierenden Politik nicht mehr tatenlos zusehen, sondern alternative – und das heißt vor allem komplexe und dialogorientierte – Herangehensweisen an einen unausweichlichen Konfliktherd anbieten wollen. Ob es ihnen gelingen wird, sich vom antireligiösen Rationalitätsbegriff der französischen Aufklärung zumindest partiell zu verabschieden, ist zurzeit noch offen. Erste Ansätze zu einem solchen Umdenken sind allerdings bei bisher säkular orientierten Denkern, etwa Jürgen Habermas,20 dort deutlich wahrnehmbar, wo diese begonnen haben, das Phänomen Religion wieder affirmativ in ihr Denken einzubeziehen.

Eine Selbstkritik bezüglich der christlichen Gewaltgeschichte liegt vor, sollte aber ab und zu ins Gedächtnis gerufen werden. Eine Selbstkritik des europäischen Kolonialismus steht aus und wäre dringend erforderlich. Darüber hinaus sind weitere selbstkritische Fragen zu stellen: Wie alt sind unsere Modernisierungsbemühungen? Wo bleibt gerade die katholische Kirche bis heute dahinter zurück? Was hat das Christentum normativ an Eigenem zu bieten, was nicht ebenfalls ordentlich unmodern genannt werden muss? Hilft schlichte Modernisierung? Wie konsequent nehmen wir „Modernen“ die Untiefen der Moderne wie Sexismus, Totalitarismus, Konsumismus, Ökonomismus, Postkolonialismus immer schon unkritisch in Kauf?

Wer sich selber als Teil eines komplexen Religionssystems versteht, wird vielleicht den Anderen deutlicher sehen, weil er oder sie den „fundamentalistisch“ oder „intellektuell“ oder „modernistisch“ Glaubenden nun eher als benachbarten Teil eines Ganzen seiner eigenen Religion sehen kann. Er oder sie wird die Unhintergehbarkeit von Herkunft und sozialer Platzierung nicht intellektualistisch unterschätzen und respektvoller mit ihr umgehen, wo er ihr beim Anderen begegnet. Vielleicht wird der oder die Intellektuelle sogar eigene Sehnsüchte nach unhinterfragbaren Gewissheiten im eigenen Herzen oder der eigenen Glaubenspraxis entdecken.

Ein solches komplementäres Modell á la Max Weber kann vielleicht im „verbohrten südeuropäischen Katholiken“ das Interesse an der Erkundung seiner eigenen rationalen Anteile wecken. Ich erlebe seit Jahren junge Muslime im Rahmen der wissenschaftlichen Studiengänge der islamischen Theologie als extrem aufstiegs- und also wissenshungrig – hier greifen wieder einmal soziologische und theologische Motive ineinander. Ebenso geht es uns im „Haus am Dom“ in Frankfurt am Main mit einer Gruppe freikirchlicher junger Erwachsener, die sich auf der Suche nach einer theologischen Durchdringung ihres Glaubens ausgerechnet an uns Katholiken mit unserer großen Vernunftfreundlichkeit und nicht an die Brüder und Schwestern der evangelischen Landeskirche gewandt haben.

Und schließlich darf das appelative Mantra der Dialogerfahrenen in diesem Lande nicht fehlen: Baut die Strukturen der Angst, der Ausgrenzung und der Klassengesellschaft ab, lasst Muslime und andere Migranten in die Tresorräume und Machtzentralen unserer Gesellschaft, lasst sie den Geschmack der Freiheit spüren, ohne sie zu Laizismus zu zwingen. Wer nur Pflichten sieht und keine Rechte einräumt, wer die eigene Kolonialgeschichte und aktuelle Unterdrückungszusammenhänge leugnet, muss sich über den Hass der Opfer und ihre Verführbarkeit durch schlaue und demagogische Rattenfänger nicht wundern. 

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