Rezensionen: Theologie & Kirche

Seewald, Michael: Reform. Dieselbe Kirche anders denken. Freiburg: Herder 2019. 174 S. Gb. 20,–.

Nachdem 2018 Seewalds Buch „Dogma im Wandel“ (vgl. StdZ 143. 11/2018, 823 f.) die Geschichte der Lehre über die Dogmenentwicklung nachgezeichnet hat, legt der Verfasser nun ein zweites, schmaleres Buch vor, das systematisch-theologisch bearbeitet, ob und wie und warum die Lehre der Kirche sich in der Geschichte weiterentwickeln und ändern muss – gerade beim derzeitigen Reformstau.

Ein erster Teil weist nach, dass die starke Selbstdefinition der Kirche über ein Lehramt, das „entscheidungsförmig und autoritätssanktioniert“ (50) dogmatische Lehren festlegt und im Gehorsam einfordert, erst seit dem 19. Jahrhundert existiert und damit ein spezifisch modernes Phänomen ist – hier muss sich die Kirche nicht modernisieren, sondern sie ist schon modern. „Moderne“ wird verstanden als Wandlungskontinuum, das die Kontingenz alles Bestehenden aufzeigt und sich folglich gegenüber religiösen Institutionen kritisch zeigt. Weil die Moderne Entscheidungen herausfordert, müssen die Autoritäten der Kirche Entscheidungen fällen. Der Papst wird so vom Zeugen zum Monarchen, das Kirchenrecht wird zur dogmatischen Festlegung.

Der zweite Teil fragt, wie Kirche lernt und wie sie dogmatische Änderungen, die es trotz aller Kontinuitätsbehauptungen zu Hauf gibt, erklärt. Die Autorität des Lehramts ist weniger eine epistemische – sie würde auf innere Einsicht zielen –, sondern eine juridische – sie zielt auf Gehorsam. Änderungen der Lehre werden in drei Modi verarbeitet: 1. Die Kirche korrigiert sich selbst; Seewald erzählt ein spannendes und kaum bekanntes Beispiel: Pius XII. korrigiert 1947 massiv die Ämterlehre, erklärt dies auch – es wird fraglos akzeptiert. 2. Die Kirche baut darauf, dass die Änderung bald vergessen wird. 3. Sie verschleiert die Änderung. – Klar, dass die Selbstkorrektur sehr selten ist; klar, dass mit den beiden anderen Modi die Kirche ihre Glaubwürdigkeit untergräbt.

Warum muss – so der dritte Teil – die Kirche ihre Lehre immer wieder ändern? Die Form muss immer wieder reformuliert werden, damit sie in neuer Zeit und neuer Kultur verständlich ist. Das Lateinische „reformare“ bedeutet als Lehnwort vom Griechischen her (bei Paulus) nicht so sehr, Altes wiederherzuholen, sondern Bestehendes „umzugestalten“ auf Zukunft hin. Das Evangelium ist „eine gegenwärtige Macht, die sich in Bekenntnis und Zeugnis der Kirche immer neu Ausdruck verschafft, ohne jemals in diesem Bekenntnis aufzugehen“ (130) – das Evangelium bleibt gleich, das Bekenntnis und damit das Dogma entwickeln sich. Wenn die Kirche in der Geschichte die Offenbarung besser versteht, muss sie die Lehre neu formulieren und alte, nicht oder nicht mehr verständliche Aussagen korrigieren. Die Kontinuität kirchlichen Zeugnisses ist eine ekklesiale, nicht eine doktrinale.

Seewald schreibt bisweilen recht fachlich, aber immer präzise formuliert und verständlich. Mit ausgefeilter Begrifflichkeit und durchdachten Argumenten formuliert er seine Thesen, und er belegt sie mit gewichtigen und hervorragend dokumentierten Beispielen. Zu der aktuellen, oft ja sehr polarisierten, bisweilen ideologischen und oft oberflächlichen Reformdiskussion der Kirche liefert er gewichtiges „Futter“ – auf hohem intellektuellen Niveau und ohne Polemik, aber mit einer selbstverständlichen und für jeden denkenden Christen eigentlich unumgänglichen Positionierung auf der Reformseite.

Stefan Kiechle SJ

 

Enxing, Julia: Schuld und Sünde (in) der Kirche. Eine systematisch-theologische Untersuchung. Mainz: Grünewald 2018. 322 S. Kt. 40,–.

Bei der Suche nach den Ursachen für die zahlreichen Fälle von sexuellem Missbrauch bei Priestern, Ordensleuten und kirchlichen Mitarbeitern wird häufig auf systemische Faktoren in der katholischen Kirche wie z.B. Klerikalismus, Machtmissbrauch, Zölibat oder den institutionell begünstigten Hang zur Vertuschung verwiesen. Julia Enxing stellt sich in ihrer Habilitationsschrift unter anderem die Frage, wie die Rede von der Heiligkeit der Kirche nicht nur mit dem sündigen Verhalten ihrer Glieder, also der Sünde in der Kirche, sondern verschärft und bisher noch unbeantwortet mit einer sündigen Kirche zusammenpasst. Muss man angesichts des Umfangs des eklatanten schweren Fehlverhaltens nicht doch auch von einer sündigen Kirche sprechen? Kann dann aber die Rede von ihrer Heiligkeit noch gerettet werden?

Im Glaubensbekenntnis sprechen wir: „Ich glaube an die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche.“ Es läge auf der Hand, die Brisanz dieser drängenden Frage zu entschärfen, indem man sagt, die Kirche sei auch institutionell für das sündhafte Verhalten ihrer Mitglieder, insofern dadurch anderen Menschen schweres Unrecht und Leid zugefügt werde, im Sinne der Haftung verantwortlich, doch von der Kirche als einem kollektiven Handlungssubjekt könne nicht gesprochen werden. Immerhin spricht das Lehramt der Kirche wie die Theologie von den sozialen Wirkungen der Sünde, von Strukturen der Sünde oder struktureller Sünde. Lehramt wie Theologie wollen damit zum Ausdruck bringen, dass die Wirkungen der Sünde in den Ordnungsstrukturen der Kirche wie der Gesellschaft zu Deformationen führen können, die ihrerseits zu sündigem Verhalten verleiten können, wenn sie nicht erkannt und korrigiert werden, denen man aber andererseits auch nicht einfach entkommen kann.

„Strukturen der Sünde“ sind aber nicht gleichzusetzen mit Erbsünde oder Kollektivschuld; und Strukturen begünstigen sündhaftes Verhalten, verursachen es aber nicht. Dieser Frage widmet sich Enzing in einem eigenen Abschnitt (105-122): Mit Karl Jaspers unterscheidet sie die Dimension der politischen Schuld (Deutschlands an den Folgen des Nationalsozialismus), die auch die Rede von Kollektivschuld zulasse, von krimineller Schuld, die jeweils Einzelnen zuzurechnen sei. Gibt es nach Jaspers eine Verantwortung für vergangene Schuld, dann tragen in Entsprechung zu diesem Ansatz auch die Kirche und ihre Glieder Verantwortung für vergangenes Unrecht, denn aus einem „politischen“ Sinn von Kollektivschuld folge auch eine Kollektivverantwortung. Das gilt für die Kirche als Gemeinschaft in „verschärfter“ Weise, insofern sie in besonderer Weise Verantwortung für ihren „Ursprung und die Aufrechterhaltung dieser Gemeinschaft“ (122) trägt.

Kann man theologisch legitim auch von der „Sünde der Kirche“ sprechen? (125-227). Zwischen der Societas-perfecta-Ekklesiologie des Ersten Vatikanums und der Communio-Theologie des Zweiten Vatikanums bewegt sich die Kontroverse der Konzilsväter. Jene, die zwar die Position einer Sünde in der Kirche und von sündigen Gliedern der Kirche vertreten, neigen der Societas-perfecta-Ekklesiologie zu, die anderen können sich auch auf die Rede von einer sündigen Kirche oder Sünde der Kirche verständigen. Ausdrücklich werden aber in den Konzilstexten diese Begriffe nicht verwendet. Die Kirche hat in den letzten Jahrzehnten mehrfach Schuldbekenntnisse über Vergehen in der Vergangenheit abgelegt (vgl. 231-287). Der große Glaubwürdigkeitsverlust zeigt, dass die Kirche nicht nur von der Sünde des sexuellen Missbrauchs, sondern eigentlich von jeder Sünde betroffen ist. Sie mag deshalb für vergangene Verfehlungen die Betroffenen um Verzeihung bitten, aber ist sie auch als ganze Subjekt der Sünde? Sie kann als Gemeinschaft Schuld solidarisch mittragen und zu Buße und Erneuerung aufrufen, doch damit ist sie selber noch nicht Handlungssubjekt der Sünde.

Enzing kommt das Verdienst zu, mit ihrer Untersuchung eine Thematik aufgegriffen zu haben, die an den Nerv des kirchlichen Selbstverständnisses geht. Der „Stachel im Fleisch“ bleibt und regt zu weiterer theologischer Arbeit an. Insgesamt kann die Lektüre dieses Buches nur empfohlen werden.

Josef Schuster SJ

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