Leszek KołakowskiZur Bedeutung eines philosophischen Mahners

Vor 10 Jahren verstarb der polnische Philosoph Leszek Kołakowski. Sowohl seine langjährige kritische Auseinandersetzung mit dem Christentum als auch sein Eintreten für eine auf christlichen Werte basierenden europäische Kultur verdienen es, sich seiner zu erinnern. Theo Mechtenberg ist Theologe und Germanist, deutsch-polnischer Übersetzer und Publizist.

Vom überzeugten Marxisten wandelte sich Leszek Kołakowski (1927-2009) zu einem scharfsinnigen Kritiker des kommunistischen Systems und näherte sich mehr und mehr dem Christentum an, das er für das Überleben der europäischen Kultur für unverzichtbar hielt. Bedingt ist dieser Wandel durch die ethische Konstante in seinem Denken. Die brachte ihn in Konflikt mit den kommunistischen Machthabern, so dass er nach den antisemitischen Reaktionen auf die Studentenproteste im März 1968 seine polnische Heimat verließ. Im westlichen Exil wurde er zu einem einflussreichen Philosophen. Im Oktober 1977, zur Zeit des RAF-Terrors, wurde Kołakowski mit der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels geehrt. In seiner Dankesrede wandte er sich entschieden gegen den zerstörerischen Hass und berief sich auf die religiöse Tradition als Kraftquelle seiner Überwindung und als Befähigung zur Feindesliebe. Auch wenn es nur eine Minderheit sei, die eine derart konsequente Haltung lebe, „auf den Schultern dieser wenigen ruht das Gebäude unserer Zivilisation.“

Kołakowskis Verhältnis zum Christentum

1953 schrieb Kołakowski in seiner „Skizze über katholische Philosophie“: „Der Thomismus, seine Philosophie und seine sozio-politische Lehre sind heute nichts anderes als ein Werkzeug des Kampfes gegen die Arbeiterbewegung und die Länder des Sozialismus. Doch die Agitation des Vatikans geht ins Leere. Es fällt nicht schwer, außerhalb des Nebels süßer Phrasen das heuchlerische Antlitz der Lobredner imperialistischer Politik, der Apologeten der Unterdrückung, der Unwissenheit und der Ohnmacht der Menschen zu erkennen.“ Deutlicher kann man seine Ablehnung des Katholizismus nicht zum Ausdruck bringen, wobei anzumerken ist, dass das katholische Polen damals einen äußerst harten Kirchenkampf zu bestehen hatte. Das Zitat zeigt im Übrigen, dass Kołakowski vom Katholizismus keine sonderliche Ahnung hatte, denn was er über ihn aussagt, das sind die damals in allen kommunistischen Ländern üblichen, geradezu standardisierten Plattitüden.

Sechs Jahre später ist bei Kołakowski von dieser aggressiven Polemik nichts mehr zu finden. In dem 1959 erschienenen Essay „Der Priester und der Narr“, versehen mit dem Untertitel „Das theologische Erbe in der heutigen Philosophie“, sucht man sie vergeblich. In diesem Text vertritt Kołakowski die These, alle bedeutenden Probleme zeitgenössischer Philosophie hätten ihren Ursprungsort in der Theologie. Zudem erweist er sich als Kämpfer an zwei Fronten – gegen gewisse Erscheinungsformen des Christentums sowie gegen den praktizierten Marxismus. „Am Hofe des Königs gibt es mehr Priester als Narren, ebenso wie es in seinem Reich mehr Polizisten als Künstler gibt. Anscheinend kann es nicht anders sein.“ Die Priester „mit dem Halsband des Katechismus“ stützen mit ihren unverrückbaren Glaubenssätzen und Verhaltensnormen das jeweilige System, nicht nur das kirchliche, sondern – in der Rolle des Funktionärs – auch das marxistische. Dagegen erscheint der Narr, ausgestattet mit der „Nadel des Hohns“, als ihr Widerpart. Es ist die Rolle, in der sich Kołakowski selbst sieht. Ihm obliegt das ständige Nachdenken, „ob nicht die entgegengesetzten Ideen recht haben“. Doch nicht die „Sucht zum Widerspruch“ treibt den Narr, den Philosophen, sondern das „Misstrauen gegenüber der stabilisierten Welt.“

Kołakowski sieht in Christus einen Mitstreiter von gleichem Geist und gleicher Art. Ist nicht – so fragt er – „das dem Narren eigene unvermeidliche Risiko der Lächerlichkeit und des Misstrauens gegenüber jeder Art festgefügter Welt ein Merkmal der Gestalt Christi?“ Die Konsequenz dieser Grundhaltung ist die Absage an jede Form eines marxistischen wie kirchlichen Fundamentalismus und Totalitarismus. Mit „Der Priester und der Narr“ beginnt für Kołakowski seine Abwendung vom Marxismus. Und in dem Maße wie er sich von ihm abwandte, wandte er sich dem Christentum zu; genauer: der Person und Lehre Jesu. Er suchte einen direkten Zugang zu den biblischen Texten, ohne theologische Kommentare zu Rate zu ziehen, ohne sich mit Fragen der Textkritik zu befassen. Er erwies sich dennoch als ein hervorragender Kenner der Evangelien, aus denen er reichlich zitierte. Dabei blieb er im Rückgriff auf die Botschaft Jesu gegenüber bestimmten Erscheinungsformen des Christentums, insbesondere gegenüber der „polnischen“ Kirche, zeitlebens kritisch. Als nach dem Ende kommunistischer Herrschaft in seinem Heimatland die Kirche Anfang der 1990er-Jahre der Versuchung des Triumphalismus erlag und beim Aufbau der Demokratie auf höchst undemokratische Weise ihre Ansprüche geltend machte, gehörte er zu denen, die sich öffentlich zu Wort meldeten und vor der Errichtung einer Theokratie warnten.

Demaskierung des Marxismus

Die Generalabrechnung mit dem Marxismus vollzog Kołakowski, bereits im Exil, mit seinen 1977 erschienenen drei Bänden „Die Hauptströmungen des Marxismus“. Dieses Hauptwerk ist mehr als eine historische Darlegung. Kołakowski deckt in ihm sowohl das moralische als auch das intellektuelle Scheitern des Marxismus auf. Unter moralischem Aspekt sei er zu einer ideologischen Rechtfertigung der in seinem Namen begangenen unzähligen Verbrechen geworden und habe sich als ein inhumanes System per excellence erwiesen. Damit verbunden sei sein intellektuelles Scheitern, weil der Marxismus seine philosophische Eigenständigkeit verloren habe und lediglich dazu diene, die Politik der Kremlherren zu rechtfertigen. „Der Mechanismus dieser Metamorphose war im übrigen völlig durchsichtig; wenn die Sowjetunion per definitionem das Zentrum des Menschheitsfortschritts ist, dann ist alles, was ihren Interessen dient, fortschrittlich, und alles, was ihren Interessen widerspricht, reaktionär.“

Und weiter: „Heute ist der Marxismus eine Ideologie, die die Welt weder erklärt noch verändert; er ist nichts als ein Vorrat an Schlagworten, die der Organisierung unterschiedlicher Interessen dienen, von Interessen, die in der Regel nichts mit jenen zu tun haben, mit denen der Marxismus in seiner ursprünglichen Form sich identifizierte.“ Kołakowski zeigt, dass die Menschen in diesem System in einer permanenten Lüge zu leben haben, und dies mit der Konsequenz, dass „alle Bürger durch die ständige Wiederholung der amtlichen Lügen – in dem Wissen, daß es Lügen waren – zu Komplizen der Partei und des Staates in der Lüge wurden.“ Der Totalitarismus des Systems bedingte damit auch eine totale Verstrickung seiner Funktionäre. Sie waren schließlich „an den massiven Gewalttätigkeiten beteiligt, die zuvor in der Gesellschaft verübt worden waren; als sie dann selbst zu Opfern der Gesetzlosigkeit wurden, konnten sie sich auf nichts berufen […]“ Kołakowskis Fazit: An diesem Marxismus gibt es nichts zu verbessern; er muss aus der Welt geschafft werden.

Die Bedeutung einer apokalyptischen Sichtweise

1965 veröffentlichte Kołakowski den Beitrag „Christus – Prophet und Reformator“, und dies ausgerechnet in „Argumenty“, der Zeitschrift für Atheisten und Freidenker. Er nennt Jesus eine „erstaunliche Gestalt, die in uns ein Gefühl der Finsternis weckt, in der wir leben, und zugleich ein Gefühl für den Weg, der aus der Finsternis führt.“ Das „Gefühl der Finsternis“ resultiere aus der apokalyptischen Botschaft Jesu, und ein Reformator sei er in seiner Auseinandersetzung mit dem jüdischen Gesetz, das er dem Primat der universalen Liebe unterstellt habe. Damit wird Jesus für Kołakowski zum „Vorbild einer radikalen Authentizität, in der erst jedes menschliche Individuum seinen eigenen Werten wirklich Leben verleihen kann.“

In seiner gleichfalls 1965 in „Argumenty“ erschienenen Schrift „Unsere fröhliche Apokalypse“ befasst sich Kołakowski auf ungewöhnliche, geradezu faszinierende Weise mit der endzeitlichen Botschaft Jesu, nach der sich alle auf das Weltenende vorbereiten sollen. Kołakowski versteht sie im Sinne einer neu gewonnenen Perspektive. „Von diesem Augenblick an vergehen alle Dinge der Welt im Schatten der Apokalypse.“ Mit dem apokalyptischen Bewusstsein verändere sich zugleich das Bewusstsein von der Bedürftigkeit des Menschen. Auf diesem Hintergrund erscheine Jesus als Retter, der die Bedürftigkeit und Angst unseres Menschseins zugleich bestätige und überwinde. Gleiches gelte für das apokalyptische Ende der Welt, das mit Jesu Botschaft vom Reiche Gottes zugleich Gericht und Vollendung bedeute. Kołakowski ist der Überzeugung, dass ohne dieses apokalyptische Bewusstsein eine Situation der Selbstvernichtung heraufbeschworen werde, eine Situation der „Selbstvernichtung der Welt und des Menschen.“ Ohne die apokalyptische Botschaft Jesu sei unsere europäische Kultur dem Untergang geweiht.

Kołakowski konkretisiert seine apokalyptische Weltsicht, indem er auf den Vorrang der Liebe gegenüber der bloßen Gesetzlichkeit betont. Eine lediglich auf die Gesetzlichkeit basierende menschliche Gemeinschaft sei inhuman. Sie bedürfe des wechselseitigen Vertrauens und der Solidarität. Wo immer es daher im menschlichen Leben wie in der Gesellschaft zu Konflikten zwischen Gesetz und Liebe komme, müssten sie im Sinne der Liebe gelöst werden. Wer denkt bei dieser Aussage nicht an die 2015 von Bundeskanzlerin Angela Merkel getroffene Entscheidung, die Grenze für den Flüchtlingsstrom zu öffnen, eine Entscheidung, die viele unter Berufung auf Recht und Gesetz entschieden verurteilen und die zu erheblichen Protesten und innenpolitischen Verschiebungen geführt hat?

Die Priorität der Liebe impliziere die Gewaltfreiheit. Sie erscheine auf den ersten Blick utopisch und naiv, denn wer werde schon nach einem Schlag auf die eine Wange die andere hinhalten? Selbst das Christentum habe in seiner Geschichte reichlich Gewalt ausgeübt, nachdem es durch Gewaltfreiheit an Macht und Einfluss gewonnen habe. Dabei dürfe Gewaltfreiheit nicht mit Passivität verwechselt werden, wie dies Jesus vorbildhaft zeige. Eine kämpferische Gewaltfreiheit könne durchaus zum Erfolg führen, wofür sich als Beweis nicht nur das Beispiel Mahatma Gandhi anführen lasse. So gelten „nicht die als naiv, die denken, man könne den Gebrauch von Gewalt mindern, die darum kämpfen, dass sie abnimmt – naiv sind jene, die glauben, dass Gewalt alles vermag.“

Eine weitere für die europäische Kultur bedeutsame Einsicht sei jene, dass der Mensch nicht allein vom Brot lebt. Der Hunger als Selbsterkenntnis unaufhebbarer Bedürftigkeit sei nicht allein materiell zu befriedigen; es gehe um die Anerkennung von Werten, die durch einen praktischen Materialismus bedroht seien.

Des Weiteren greift Kołakowski die Idee des auserwählen Volkes auf, die Jesus auf alle Völker ausgeweitet habe. Damit habe er einen Universalismus begründet, der für den Bestand europäischer Kultur unverzichtbar sei und jede Art von Nationalismus ausschließe. Angesichts der gegenwärtig bedrohlich anwachsenden nationalistischen Tendenzen in der Europäischen Union besitzt gerade diese Einsicht höchste Aktualität und fordert insbesondere die christlichen Kirchen heraus, ihnen entschieden entgegenzuwirken.

Auch die „organische Not der Endlichkeit“ versteht Kołakowski als Teil seines apokalyptischen Weltverständnisses. Jesus lehre die Menschen, dass sie Notleidende sind, aber oftmals diese ihre Not nicht reflektieren. Sie sollen sich angesichts ihrer der negativen Folgen von Resignation und einem bloßen Sichabfinden bewusst sein. Es gehe darum, sich ständig zu bemühen, die Lebensbedingungen zu verbessern, wobei man sich durchaus bewusst sei, dass eine absolute Verbesserung unerreichbar sei. Im Übrigen sei dies ein Thema, mit dem sich die Philosophie ständig beschäftige.

Dank Jesu seien diese Einsichten und Werte Teil des schöpferischen Geistes Europas; und dies dauerhaft und unabhängig vom christlichen Dogma. Dieser geistige Schatz müsse weiterhin als Impuls wirksam bleiben. „Daher ist jeder Versuch, Jesus für ‚unwichtig‘ zu erklären, ihn unter dem einen oder anderen Vorwand aus unserer Kultur zu entfernen oder unter Hinweis darauf zu ignorieren, dass wir nicht an Gott glauben, an den er glaubte, lächerlich und nutzlos.“ Jeder Versuch dieser Art führe zum Niedergang unserer Kultur. Dies impliziere jedoch eine große Verantwortung des Christentums, das sich auf dieses Erbe konzentrieren, aus ihm schöpfen und es kulturell vermitteln müsse. Doch dieser Verantwortung stehe eine gewisse Erscheinungsform des Christentums entgegen, wobei Kołakowski vor allem den polnischen Katholizismus im Visier hat. Ihm gilt seine Kritik, „dem finsteren klerikalen Nachtgespenst, einem fanatischen, stumpfsinnigen Katholizismus, der seit vier Jahrhunderten unsere Kultur für sich vereinnahmt und sterilisiert.“ Diese Kritik mag für die vom Kirchenkampf gezeichneten 1960er-Jahre als ungerecht und unpassend erscheinen, doch auf die aktuelle Situation der „polnischen“ Kirche bezogen, hat sie ihre Berechtigung.

Christentum und europäische Kultur

Vor einiger Zeit wurde im Nachlass von Kołakowski ein mit „Der verspottete Jesus“ betiteltes, unfertiges Manuskript entdeckt, das in französischer Sprache verfasst ist. Es stammt aus den 1980er-Jahren. Ins Polnische übersetzt erschien der Text kürzlich im Krakauer Verlag Znak.

In diesem Beitrag greift Kołakowski Motive auf, die er bereits in seinen beiden Schriften aus dem Jahr 1965 behandelt hatte. Besonders deutlich betont er in diesem Text die Bedeutung des Christentums für die europäische Kultur. Die Verstärkung seiner früheren Argumente dürfte durch die Erfahrung des Jahres 1968 bestimmt sein, durch den Protest der polnischen Studenten im März jenes Jahres, durch die gewaltsame Reaktion des kommunistischen Systems und den von den Machthabern verbreiteten Antisemitismus, aber auch durch die westliche Kulturrevolution sowie durch das Zweite Vatikanische Konzil und die Wahl des „polnischen“ Papstes.

Auf dem Hintergrund dieser Erfahrungen befasst sich Kołakowski erneut mit der apokalyptischen Verkündigung Jesu und betont ihre kulturkritische Bedeutung. Er warnt vor jeder Art ideologischer und politischer Erlösung sowie vor einem überbordenden Konsumdenken. Die wachsende Spirale materieller Bedürfnisbefriedigung führe in die Katastrophe. Sie sei der Weg zur Autodestruktion der Menschheit: „Sich an eine apokalyptische Sicht der Welt zu gewöhnen, ist die Voraussetzung dafür, dass die Menschheit überleben und sie die apokalyptische Selbstvernichtung vermeiden kann.“ Angesichts der uns drohenden ökologischen Katastrophe, deren Vorboten wir bereits zu spüren bekommen, ist dies eine für die 1980er-Jahre äußerst hellsichtige prophetische Botschaft.

Bei aller Annäherung an das Christentum – einer kirchlichen Gemeinschaft ist Kołakowski nicht beigetreten. Er blieb seiner Rolle treu, indem er vehement dafür eintrat, dass die Person Jesu und seine Lehre auch für den im dogmatischen Sinn Nichtglaubenden seine Bedeutung besitzt, und dies nicht allein im rein persönlichen Bereich, sondern als ein unverzichtbares Element europäischer Kultur, das sie vor ihrem Niedergang zu bewahren vermag.

Kołakowski gleicht dem fremden Dämonenaustreiber des Evangeliums. Während die Jünger ihm sein Wirken „im Namen Jesu“ verbieten möchten, weil er ja keiner der Ihren ist und er sich ein Recht herausnimmt, das ihm ihrer Meinung nach nicht zusteht, gibt Jesus ihnen zu verstehen, dass auch er, wenngleich außerhalb ihrer Nachfolge, in gewisser Weise einer der Ihren ist (Mk 9, 38-41). 

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