Ramb, Martin W. / Zaborowski, Holger (Hgg.): Heimat Europa? Göttingen: Wallstein 2019. 431 S. Gb. 22,–.
Kaum einer der vielen Beiträge, die hier vorliegen, bekennt sich explizit zu Europa als Heimat. Vielmehr sind die meisten sich darin einig, dass Heimat dort ist, „wo wir herkommen“. Damit sind regionale Herkunftsmilieus gemeint, die uns emotional, kulturell und nicht zuletzt auch sprachlich geprägt haben. Insofern thematisiert ein Teil der Beiträge Europa als eine Größe, die durch ihren Verwaltungszentralismus und als ein „Europa der Eliten“ – nicht zuletzt auch durch ihren „Sprachimperialismus“ (Arnold Stadler) – das Gefühl regionaler Beheimatung bedroht.
Damit ist zugleich eine notwendige Voraussetzung des Heimatgefühls oder -bewusstseins angesprochen: Eine Heimat, die uns fraglos umgibt, wird uns nicht als solche bewusst. Zum Bewusstsein gelangt sie erst im Moment der Gefährdung oder des Verlustes. In dieser Hinsicht gilt, „dass Heimat überhaupt erst dann in den Blick gerät, wenn man sie von außen betrachtet“, und Martin Heidegger wird mit den Worten zitiert: „Das Wesen der Heimat gelangt erst in der Fremde zum Leuchten.“ Dabei gewinnt die Region, die wir als unsere Heimat erfahren, in dem Maße eine immer größere Ausdehnung, in dem wir sie hinter uns lassen. Das Bewusstsein, ein „Ruhrgebietler“ zu sein, kann ich unter anderem von Bayern oder von Schleswig-Holstein her entwickeln, und als Deutscher erlebe ich mich etwa in Italien oder Frankreich. Um mich als Europäer zu fühlen, muss ich schon einen anderen Kontinent bereisen. Mit dieser Feststellung ist ein roter Faden gegeben, der sich durch viele Beiträge dieses Sammelbandes zieht.
Unter dieser Voraussetzung ist es dann nur konsequent, wenn als Gegenbewegung zu einem zusammenwachsenden Europa sich Gefühle regionaler Herkunft nicht nur bedroht fühlen, sondern verstärkt ihre Geltungsansprüche anmelden. Wer dann wie in einem der hier gedruckten Beiträge gleich vom „Gift des Nationaldenkens“ spricht, hat offensichtlich diesen Zusammenhang nicht gesehen. Es gibt vielmehr einen Universalismus, der genau denjenigen Partikularismus produziert, den zu überwinden er sich anschickt.
Vor diesem Hintergrund versucht eine zweite Gruppe von Beiträgen Europa als eine Größe zu begreifen, welche die Diversität der Nationen überhaupt erst möglich macht, wenn sie sich zum Beispiel auf de Gaulles Diktum von einem „Europa der Vaterländer“ bezieht. Die Einheit Europas bestünde dann darin, die Pluralität der Heimatländer nicht nur zu ermöglichen, sondern auch zu schützen. Das setzt allerdings seitens der partikularen Kulturen die Bereitschaft voraus, sich selbst nicht als die einzig wahre oder allen anderen überlegene vorzuführen. Eine solche Bereitschaft zur Selbstrelativierung ist allerdings selbst noch einmal eine Kulturleistung, und zwar die Leistung einer ganz bestimmten Kultur, deren Werthaltungen überhaupt erst den Rahmen dafür bereitstellt, dass Kulturen und Nationen auf friedliche Weise ihre spezifischen Prägungen entwickeln können. Diese Rahmenkultur zeichnet sich durch die Anerkennung der Menschenwürde aus und findet ihre historischen Wurzeln in der europäischen Antike und ihrer Symbiose mit der Wirkungsgeschichte des biblischen Monotheismus. Sie darf ungeachtet ihrer partikularen Genese ihren Universalitätsanspruch nicht zur Disposition stellen. Anderenfalls schaffte sie ein Vakuum, das durch den Imperialismus solcher Kulturen besetzt würde, welche die Menschenwürde und die daraus abzuleitende Toleranzforderung nicht kennen – auch wenn sie ihre europäische Präsenz denjenigen Werthaltungen verdanken, von denen sie hinsichtlich ihrer eigenen Lebensform nichts wissen wollen.
In diesem Sinne wurde bereits zu Beginn des letzten Jahrzehnts – freilich auf weniger differenzierte Weise – die Forderung nach einer „Leitkultur“ laut. Sie wurde seinerzeit bis hin zum damaligen deutschen Außenminister auf eine Weise veralbert, als sollten sämtliche Migranten in Deutschland „germanisiert“ und mit Eisbein und Sauerkraut zwangsernährt werden. Vor diesem Hintergrund kann man den referierten Überlegungen des vorliegenden Sammelbandes nur eine breite gesellschaftspolitische Rezeption wünschen.
Gerd Neuhaus
Pauen, Michael: Macht und soziale Intelligenz. Warum moderne Gesellschaften zu scheitern drohen. Frankfurt am Main: S. Fischer 2019. 320 S. Kt. 22,–.
Um das aktuelle Phänomen des Rechtspopulismus zu verstehen, setzt der Berliner Philosophieprofessor Michael Pauen grundsätzlich an. In seiner theoretischen Grundlegung von Macht geht er nicht von einem Ansatz des Konfliktes, sondern von dem des Konsenses aus. Entscheidend für Macht ist demnach die soziale Intelligenz als evolutionär ausgebildeter Fähigkeit, die gewaltsame Konflikte vermeidet und das soziale Leben koordiniert. Wirksam sind in diesen Prozessen unbewusste und scheinbar irrationale Verhaltensweisen, die mithilfe von Erkenntnissen aus der Sozialpsychologie erklärt werden können und die positive Auswirkungen haben. So wird ein Fairnessprinzip beachtet, das nicht nur rational, sondern auch emotional fundiert ist. Dass ein „Egalitarismus in frühen menschlichen Gesellschaften“ von hierarchischen Machtstrukturen abgelöst wird, kann auf ökonomische und psychologische Gründe zurückgeführt werden, die sich in der Geschichte der Menschheit wiederholen. Die theoretischen Überlegungen werden daher anhand von „historischen Schlüsselphasen wie z.B. der Entstehung der griechischen Demokratie, dem Römischen Imperium und den großen Pestepidemien des Mittelalters“ (115) verdeutlicht.
So kann aufgezeigt werden, dass für die Entstehung demokratischer Strukturen ein äußerer Druck von Bedeutung ist, der den Zusammenhalt und die Kooperation innerhalb einer Gruppe fördert, und es zugleich einer gewissen ökonomischen Gleichheit bedarf. Mit diesen beiden Faktoren können auch die spezifischen Bedingungen erfasst werden, die einen Nachkriegskonsens ermöglicht haben, durch den „seit langem bekannte Einsichten und Programme plötzlich mehrheitsfähig werden. Und zwar in vielen Staaten innerhalb eines sehr kleinen Zeitfensters“ (160). Durch die Veränderung der Rahmenbedingungen, des Nachlassens des äußeren Drucks – mit dem Zusammenbruch des Warschauer Pakts – und der wachsenden ökonomischen Ungleichheit, sind dann folgerichtig demokratische Strukturen bedroht.
Dass dafür die soziale Intelligenz mitzuberücksichtigen ist, kann anhand des „rechtspopulistischen Paradoxon“ deutlich werden. Dieses läuft der demokratischen Logik zuwider, die davon ausgeht, dass Gruppen Vertreter wählen, die sich für ihre Interessen einsetzen. Eigentlich müssten Pauen zufolge Parteien mit einer sozialen Agenda Zustimmung finden. Tatsächlich profitieren „stattdessen rechtspopulistische Bewegungen, die mit ihren häufig neoliberalen Programmen und ihrer politischen Ignoranz die Lage unterprivilegierter Wähler nur noch weiter verschlimmern“ (254). Erklärt werden kann das Paradoxon durch sozialpsychologische Mechanismen, welche evolutionär bekannte Verhaltensmuster aktivieren und Ängste und Ressentiments betreffen. Diese lassen sich nur bedingt steuern, weshalb angesichts der Komplexität heutiger Gesellschaften festgestellt werden kann: „Offensichtlich ist auch unsere eigene soziale Intelligenz überfordert. Uns fehlen im Moment die Mittel und Wege, die Funktionsfähigkeit unserer Gesellschaft sicherzustellen“ (259). Pauen, der sich selbst im linksliberalen Milieu verortet, zieht eine entsprechend pessimistische Bilanz. Die von ihm vorgeschlagenen Maßnahmen sind nicht radikal. Er plädiert dafür, soziale Ungleichheiten zu verringern und stärker auf langfristige Effekte zu zielen.
Das anregende und gut zu lesende Buch ist ein überzeugendes Plädoyer, sozialpsychologische Faktoren für eine Theorie der Macht zu berücksichtigen. Durch die auf die Evolution bezugnehmende Argumentation und das Verständnis der sozialen Intelligenz stellt sich allerdings die Frage, inwieweit wir Menschen überhaupt auf unser Verhalten einwirken können.
Jörg Nies SJ
Hösle, Vittorio: Globale Fliehkräfte. Eine geschichtsphilosophische Kartierung der Gegenwart. Freiburg: Karl Alber 2019. 224 S. Gb. 24,–.
Wer das globale Erstarken des Rechtspopulismus begreifen will, sollte diese ausgezeichnete Analyse der gegenwärtigen politischen Situation lesen. Vittorio Hösle ist Professor für deutsche Literatur, Philosophie und Politikwissenschaft an der University of Notre Dame in Indiana (USA). Er sieht die Welt am „Beginn einer großen geschichtlichen Krise“ (16), nach einem „goldene[n] Vierteljahrhundert“ (205), dessen Beginn er auf 1989, den Zusammenbruch der Sowjetunion, und dessen Ende er auf 2016, dem annus horribilis des Brexit-Referendums und der Wahl Trumps, datiert.
Hösle nennt weitere Ereignisse für den Niedergang des universalistischen Geistes: 2016 fand z.B. auch die demokratische Wahl Dutertes auf den Philippinen statt, einem Mann „mit Verbindungen zu den Todesschwadronen“ (34), nach dem Scheitern eines Militärputsches begann „eine Transformation der Türkei in einen autoritären Staat“ (35), und gegen Polen „leitete die Europäische Kommission erstmals in ihrer Geschichte den Mechanismus zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit ein“ (40), wobei die einstimmige Feststellung der Verletzung von Grundwerten der Menschenwürde durch das Votum der ungarischen Regierung, der ein analoges Verfahren drohte, blockiert wurde, ein Zeichen für die häufige Handlungsunfähigkeit der EU.
Wenn Hösle nach den Ursachen für den Aufstieg der Populisten sucht, geht es ihm darum, unbestimmten Ängsten und Ohnmachtsgefühlen, die von diesen strategisch ausgenützt werden, Klugheit und hoffendes Handeln entgegenzusetzen (so der Bundespräsident a. D. Horst Köhler in seinem Geleitwort, 12). Hösles gleichzeitige Empathiefähigkeit gegenüber denjenigen, „die sich gegen die Globalisierung und den Universalismus in unseren moralischen Überzeugungen wehren“ (14), nimmt dabei besonders für ihn ein. In Anlehnung an den Text 5 Reasons Why Trump Will Win des Dokumentarfilmregisseurs Michael Moore nennt er zwei Hauptgründe: den Niedergang der Arbeiterklasse der entwickelten Länder und die Verunsicherung der Männer.
Zum ersten Thema gibt er jedoch zu bedenken: „Die Konsequenzen für die westlichen Arbeiter sind sicher zu bedauern. Aber wer Universalist ist, also davon ausgeht, dass im Prinzip jeder Mensch gleiche Rechte hat, […] muss der Überwindung absoluter Armut in den Entwicklungsländern den Vorrang geben gegenüber der Bekämpfung nur relativer Armut in den reichen Ländern“ (77-78). Zur Lösung des Problems der „Millionen von Arbeitslosen“ kann Hösle sich drei Möglichkeiten vorstellen (vgl. 79-84): erstens die Verlangsamung der Automatisierung, etwa indem einige der sozialen Folgekosten denjenigen aufgebürdet werden, die diese Entwicklung verursachen; zweitens ein garantiertes Subsistenzminimum für alle; drittens die Verlagerung von Berufen, die eher physische Kraft erfordern, z.B. auf Freizeitindustrie und soziale Berufe, was vermutlich mit einer weiteren „Feminisierung der Arbeitswelt“ (82) einhergehen wird.
Und hier ist er beim zweiten Thema des raschen Aufstiegs der Frauen: Hösle nennt Trumps „Hemmungslosigkeit, mit der er die Tabus der politischen Korrektheit im Umgang mit Frauen verletzt hat […] Teil einer bewussten Strategie, die ihn zum Helden derjenigen machte, die als Arbeiter und Männer zu den Verlierern der Geschichte zu gehören drohen“ (84). Als einen der „eigenwilligsten Aspekte des Wahlkampfs von 2016“ sieht er „dessen extreme Sexualisierung“, die sich in Slogans wie „Trump that bitch“ (auf Hillary Clinton bezogen, „Übertrumpft dieses Weibsbild“, freier übersetzt etwa „Leg‘ die Schlampe flach“), „Finally a President with balls“ („Endlich ein Präsident mit Eiern“) oder „Hot chicks for Donald Trump“ („Heiße Hasen für Donald Trump“) äußerte.
Für die totalitäre Bedrohung macht der Philosoph letztlich „die weltanschauliche Korrosion des Glaubens an objektive Normen wie Wahrheit und Gerechtigkeit“ (197) verantwortlich, die mittlerweile vom akademischen Elfenbeinturm auf die breiten Volksmassen übergegangen sei. Diesem bliebe „als einzige Frage […], wie man die Meinungen anderer so zu manipulieren vermag, dass sie dem eigenen Machtwillen gefügig werden“ (104). Hösle prophezeit, „Trump wird nicht der letzte und nicht der Schlimmste der neuen Demagogen sein“ (197), sondern das Beispiel für einen Politikertypus, der in der modernen Mediendemokratie weiterhin selektiert werden wird, und zwar in gewaltbereiteren Formen.
Der Religion, insbesondere die „Herausbildung einer rationaleren Form von Universalreligion“ (200) traut Hösle zu, als Schutz des universal gültigen moralischen Prinzips der Menschenrechte gegen einen immer wieder eruptiv hervorbrechenden, biologisch leicht zu erklärenden Nationalismus zu dienen, der für die Eigengruppe andere Normen veranschlagt als für die Fremdgruppe („America first“): Er kritisiert hierbei die ethnoreligiöse Variante in den USA, die einen nationalistischen Stolz auf die eigene amerikanische Seinsweise mit all ihren Lastern pflege, doch könnten subtilere Formen von Religion zu höheren moralischen Leistungen anspornen, sowie eine Immunisierung gegen den subtilen Druck der Anpassung an Mehrheitsmeinungen bewirken (vgl. 107 u. 199).
Angesichts eines zu erwartenden Zusammenbruchs der Rolle der USA als Führungsnation zählt zu den wichtigen Auswegen aus der Krise auch die „Vertiefung der europäischen Einigung […] – durchaus mit einem Bundesstaat als langfristigem, aber doch deutlich erklärtem Ziel“ (203). „Ansonsten wird die gegenwärtige Kombination von Selbstzerstörung der westlichen Demokratien, Aufstieg Chinas und zunehmendem Revanchestreben Russlands sich als in hohem Maße explosiv erweisen, bis hin zu einem Nuklearkrieg, um von der unerbittlich weiterschreitenden Umweltzerstörung zu schweigen, die das Konfliktpotential auf dem Planeten weiter erhöhen wird“ (205). Hösles Fazit klingt pessimistisch, doch ist Pessimismus „beim Denken nur deswegen Pflicht, weil man dadurch die Chancen erhöht, beim Handeln verantwortlicher Optimist zu bleiben“ (ebd.).
Eva Steinherr