Der Wiener Sozialdemokrat Engelbert Pernestorfer (1850-1918) nannte einmal Antisemitismus den „Sozialismus der dummen Kerls“. Was es mit dieser Bemerkung auf sich hat, konnte man in den letzten Monaten in der britischen Labour Party beobachten. Erst nach langem Debatten rang sich die Führung der Partei dazu durch, die Antisemitismus-Definition der „International Holocaust Remembrance Alliance“ in ihre Statuten aufzunehmen. Eine besonders unrühmliche Rolle spielte Labour-Chef Jeremy Corbyn mit seiner lang anhaltenden Weigerung, „das Absprechen des Rechts auf Selbstbestimmung des jüdischen Volkes, beispielsweise durch die Aussage, die Existenz des Staates Israels sei ein rassistisches Projekt“ als Teil der Definition für Antisemitismus zu übernehmen.
Corbyns – gelinde gesagt – Zögerlichkeit hat einen alten und einen neuen Hintergrund: Alt ist die antikapitalistische Komponente des Antisemitismus. Sie ist im Falle von Corbyn daran zu erkennen, dass er lange Zeit blind dafür war, in einem Londoner Wandgemälde des amerikanischen Künstlers „Mear One“ nicht das antisemitische Klischee zu erkennen, das es darstellt: Bankiers mit Hakennasen, die auf dem Rücken nackter dunkelhäutiger Arbeiter Monopoly spielen. Die neue Komponente des Antisemitismus steht im Zusammenhang mit der Gründung des Staates Israel. In der arabischen Welt kursiert zum Beispiel der Mythos, die Staatsgründung gehe auf die Initiative des westlichen Imperialismus zurück, gesponsert von jüdischen Millionären, um im Herzen Palästinas einen rassistischen Staat mit dem Ziel zu gründen, das Selbstbestimmungsrecht der arabischen Völker zu verhindern. Antizionismus grüßt Antisemitismus.
Der Blick über den Ärmel-Kanal mag helfen, sich auf das Thema Antisemitismus einzulassen. Hierzulande schien über Jahrzehnte klar, dass Antisemitismus vollkommen verwerflich und deswegen weiterer Diskussionen nicht würdig ist. Ein Blick auf Auschwitz reichte. Für antikapitalistische und antikolonialistische Rationalisierungen, wie sie jüngst in der Labour-Debatte zu hören waren, blieb kein Platz. Aber die alten Gespenster kommen wieder. Den Boden dafür bereiten zunächst Verharmlosungen, wie man sie gelegentlich aus dem Mund von muslimischen Verbandsvertretern vernimmt: Die Muslime seien heute in Deutschland das, was früher die Juden gewesen seien. Die von den Nazis geplante „Endlösung“ ist und bleibt aber unvergleichbar. Außerdem übersieht die Gleichsetzung von „Islamophobie“ mit „Antisemitismus“ den spezifischen Charakter des Antisemitismus. Sein innerer Kern ist das Verschwörungsdenken.
Man muss auch kein Rassist sein, um Antisemit zu sein: Paul de Lagarde (1827-1891), der Klassiker des „modernen“ Antisemitismus, lehnte die Rassenlehre sogar ausdrücklich ab. Das hinderte ihn nicht daran, vor einer finsteren Verschwörung des Weltjudentums gegen alle Nichtjuden, besonders gegen die Deutschen zu warnen: „Die Alliance Israélite ist nichts als eine dem Freimaurertum ähnliche internationale Verschwörung zum Besten der jüdischen Weltherrschaft.“ Die Juden hätten die Presse in ihre Hand bekommen, und durch die „Palästinisierung der Universitäten wie des Standes der Richter, Ärzte und Schauspieler“ kontrollierten sie das ganze Geistesleben. „Jude“ und „Kapitalist“ seien gleichbedeutende Begriffe. Deswegen seien beide zu vernichten.
Im Falle der deutsch-völkisch motivierten „Islamophobie“ kann man die Verschwörungstheorie so drehen, dass die „Umvolkung“ des deutschen Volkes als Teil eines Planes erscheint, der in Washington und Brüssel unter Mithilfe von jüdischen Einflüsterern und Sponsoren ausgekungelt wurde. So wird zum Beispiel heute im Internet der „Hooton-Plan“ von interessierten Kreisen weitergesponnen: Der US-amerikanische Eugeniker Earnest Hooton hatte sich während des Zweiten Weltkrieges für die Ansiedlung nichtdeutscher Bevölkerung in Deutschland nach dem Sieg über die Nazis ausgesprochen, um den deutschen Nationalismus zu überwinden. Die Fortschreibung seines Planes durch heutige Verschwörungstheoretiker lautet: Die Juden haben den Orient in Flammen gesetzt, um die Araber auf die Straße nach Europa zu werfen, damit das christliche Europa „umgevolkt“ wird. Die Islamisierung Europas wäre also das Projekt einer jüdischen Weltverschwörung.
Wer über solche Verschwörungstheorien bloß den Kopf schüttelt, übersieht ihren verführerischen Charakter. Verschwörungstheorien haben zwei große Vorteile: Sie führen die komplizierte Wirklichkeit auf einfache Erklärungen zurück, und sie ermöglichen ihren Anhängern, sich in der Opferposition zu sehen – und damit auf der moralisch richtigen Seite. Beides ist natürlich bei näherem Hinsehen grober Unfug, sowohl grundsätzlich als auch konkret. Aber was nützt dieser Hinweis, wenn grober Unfug wirkmächtig wird? Dann hilft nur das selbstkritische Mantra: Wer immer für Verschwörungstheorien jeglicher Art anfällig ist, ist irgendwann auch anfällig für Antisemitismus.