in Begriff macht im innerkirchlichen Gespräch mehr und mehr die Runde: „Geistlicher Missbrauch“. Man kann über den Begriff trefflich streiten, aber er hat sich wegen seiner prägnanten Kürze inzwischen durchgesetzt, vergleichbar dem ebenfalls missverständlichen Begriff „sexueller Missbrauch“. Gemeint ist, vereinfacht gesagt, der Missbrauch geistlicher Macht, genauer: die Verwechslung von geistlichen Personen mit der Stimme Gottes. Das betrifft sowohl Beziehungen geistlicher Begleitung einschließlich der Beichte als auch die Beziehung zwischen kirchlichen Oberen und Personen, die ihnen gegenüber geistlichen Gehorsam gelobt haben.
Drei Varianten der Verwechslung sind möglich: Erstens, in der Sprache der ignatianischen Exerzitien gesprochen: Die Person, die „die Übungen nimmt“ (die Seele) verwechselt die Person, die „die Übungen gibt“ (den Seelenführer) mit der Stimme Gottes. Zweitens: Der Seelenführer verwechselt sich selbst mit der Stimme Gottes. Drittens: Beide unterliegen zugleich derselben Verwechslung. Im ersten Fall ist es die Verantwortung des Seelenführers, die in der Verwechslung für ihn als Seelenführer liegende Versuchung zu durchschauen und die Verwechslung klarzustellen. Im zweiten Fall empfehle ich der Seele den Beziehungsabbruch, und zwar sofort: Der Versuch, den Abbruch zu begründen oder die Verwechslung dialogisch zu klären, kann nicht funktionieren, solange die Asymmetrie in der geistlichen Beziehung besteht; Schuldgefühle wegen des Beziehungsabbruchs sind als Versuchungen einzuschätzen. Der dritte Fall ist am schwierigsten aufzulösen: Interventionen von außen sind nur bedingt zielführend, zumal die Verblendung im Innenbereich der geistlichen Beziehung gerade wegen ihres Doppelcharakters von außen nicht leicht zu durchschauen ist; die Black-Box kann von außen nicht geöffnet werden, solange sich nicht zugleich von innen her ein „Verräter“ meldet.
Geistlicher Missbrauch ist in seinen Wirkungen für die Betroffenen verheerend und schlägt eine Wunde, die ein Leben lang schmerzt. Außenstehende können sich manchmal nicht vorstellen, wie kindlich das Vertrauen ist, mit dem sich junge Erwachsene in die Nachfolge Jesu einladen lassen, und wie sehr sie sich mit Haut und Haar auf diesen Ruf einlassen – wenn etwa nach einem begeisternden Gottesdienst der Prediger vorne ruft: „Wer von euch spürt jetzt eine Berufung zum Priestertum oder zum Ordensleben?“, und sie begeistert die Arme heben; oder wenn Exerzitien genutzt werden, um eine junge Frau um einer angeblich „größeren Hingabe“ Willen aus einer Verlobung zu lösen; oder wenn ein Priester einem jungen Mann sagt, er spüre, dass derselbe jungen Mann eine Berufung „habe“, und dass er das, weil er Priester ist, besser beurteilen könne als der junge Mann selbst.
Umso schmerzlicher ist es für Betroffene, wenn sich der Ruf in die Nachfolge Jesu nachträglich als Ruf eines ganz anderen erweist. Eine betroffene Frau schreibt:1
„Im Alter von 19 Jahren, bin ich Schwester der Ordensgemeinschaft XY geworden. Ich hoffte, mein Leben dem Herrn zu weihen, stattdessen haben sie mir das Leben genommen. Während der acht Jahre, in denen ich Teil jener Gemeinschaft war, haben sie mich von meiner Familie, von den anderen Mitgliedern der Gemeinschaft und von der Welt abgesondert. Und was noch viel schwerwiegender ist, sie haben mich von mir selbst abgesondert. Die geistliche Erziehung schrieb mir vor, meinem eigenen Verstand und meinen eigenen Gefühlen zu misstrauen. Die Geistliche Begleitung und das Sakrament der Beichte waren in den Händen der Oberen Werkzeuge der Überwachung, der Demütigung und der Manipulation. Ich konnte meinen Beichtvater nicht frei auswählen, stattdessen legte meine Oberin fest, bei welchem Pater ich beichten musste. Darüber hinaus wurde das Beichtgeheimnis nicht gewahrt. Dinge, die ich dem Beichtvater sagte, wurden meiner Oberin zur Kenntnis gegeben, und sie benutzte sie für meine „Erziehung“. Forum internum und forum externum wurden nicht getrennt, im Gegenteil. Noch viel schlimmer: Zwei vorgesetzte Priester belästigten mich sexuell …“
Es folgt die Darstellung der sexualisierten Gewalt sowie die Fortsetzung des geistlichen Missbrauchs, als die junge Frau sich an die Verantwortlichen in der Gemeinschaft wendet. Nach dem Austritt aus der Ordensgemeinschaft folgt die lange Geschichte einer ansatzweisen Aufarbeitung, die aber schließlich an Verharmlosungs- und Vertuschungsstrategien scheitert, wie sie neuerdings auch in der MHG-Studie der Deutschen Bischofskonferenz beschrieben werden. Der Bericht endet mit folgenden Worten:
„Von Jugend auf liebte ich die Kirche sehr. Ich fühlte mich in der Kirche zuhause. Nun erscheint mir die Kirche nicht mehr als mein Zuhause, sondern viel mehr als eine Räuberhöhle (Lk 19), als ein Ort, von dem es besser ist, sich fernzuhalten. Bitte erlaubt nicht, dass es so sei! Helfen Sie uns, dass wir uns wieder neu ein wenig mehr in der Kirche zuhause fühlen!“
Der letzte Satz ist wichtig: Gerade bei den Betroffenen von geistlichem Missbrauch ist der Wunsch groß, sich in der Kirche wieder zu Hause zu fühlen. Dies bestätigt die MHG-Studie für die Betroffenen von sexuellem Missbrauch in der Kirche. Daraus ergibt sich eine Aufgabe. Um ihr gerecht zu werden, ist eine theologische Auseinandersetzung mit den Erfahrungen und Anfragen der Betroffenen notwendig, gerade weil die ganze kirchlich-spirituelle Sprache durch den Missbrauch kontaminiert ist; sie diente als Falle, in welche Betroffene voller Vertrauen hineintappten. Einige Schlüsselbegriffe der kirchlichen Sprache, die durch den Missbrauch kontaminiert werden können, seien hier genannt:
„Hingabe“ – in X´s geistlicher Gemeinschaft galt die Gleichung: Glück erwirbt man durch bedingungslose Hingabe. Hingabe wiederum bedeutete: bereitwillig tun, was einem aufgetragen wird, letztlich also: bedingungsloser Gehorsam.
„Verrat/Schuld“ – Das letzte Kapitel der Konstitutionen von Y´s Orden befasst sich mit dem Verlassen der Gemeinschaft. Es beginnt mit Absätzen, die die Mitglieder vor Untreue warnen und auf die Verleugnung durch Petrus und des Verrats des Judas hinweisen. Beim Verlassen der Gemeinschaft sagte der Beichtvater zu Y, sie habe ihr Lebensglück verwirkt. Nach ihrem Austritt macht sie eine Therapie, suchte einen qualifizierten geistlichen Begleiter auf, heiratete. Viele Jahre später verlor sie ihr Kind mitten in der Schwangerschaft. Der Satz des Beichtvaters stand wieder in ihr auf. Er hatte Recht behalten: Sie war vor Gott schuldig und konnte niemals mehr glücklich werden.
„Erlösung“ – ein Gebet in einer geistlichen Gemeinschaft, das einmal in der Woche nach der Mittagshore gebetet wurde, lautet: „Vom Verlangen, geliebt zu werden, erlöse mich, O Jesus. Vom Verlangen, anerkannt zu werden, erlöse mich, o Jesus. Von der Furcht, gedemütigt zu werden, erlöse mich, o Jesus. Von der Furcht, vergessen zu werden, erlöse mich, o Jesus. Von der Furcht, beleidigt zu werden, erlöse mich, o Jesus.“ Muss man von diesen Ängsten, oder besser: Bedürfnissen „erlöst“ werden? Damit sind sie jedenfalls negativ qualifiziert.
„Kreuz“ – Z lebte zehn Jahre lang in einer Gemeinschaft. Er musste Tag und Nacht arbeiten, bekam nie Freizeit, seine gesamte Kommunikation wurde kontrolliert, er durfte keinen persönlichen Austausch pflegen, und das alles aus Liebe zum göttlichen Herzen Jesu, das von dem Menschen der heutigen Zeit so sehr verletzt würde, und damit dieses Leid wiedergutgemacht werde, der Liebe und der unermüdlichen Arbeit des Ordensmannes bedurfte. Z blickte eines Tages auf den Tabernakel und sagte ganz einfach: „Herr Jesus, ich habe auch ein Herz.“ Er verließ die Gemeinschaft, gab das Ordensleben auf und heiratete.
Opfer von geistlichem Missbrauch haben theologische Fragen. Sie suchen eine Antwort von und in der Kirche. Eine Theologie, die sie mit Formeln abspeist, lässt die Betroffenen einmal mehr im Stich. Abspeisen – wie im folgenden Beispiel die Antwort aus einer höheren kirchlichen Stelle – klingt dann so:
„Mit einiger Verspätung bestätige ich den Erhalt Ihres Schreibens samt beigelegter Dokumentation. Sie brauchen keine Sorge zu haben; Selbstverständlich werde ich die Angelegenheit vertraulich behandeln. Lassen Sie mich nur so viel dazu sagen: Ihren sicherlich sehr schmerzlichen und verwirrenden Erfahrungen stehen auch sehr positive Zeugnisse über die Gemeinschaft gegenüber. Man wird also ohne Differenzierung unmöglich zu einer gerechten Beurteilung kommen. Für Ihre treue Liebe zur Kirche, die Sie in Ihrem Brief zum Ausdruck bringen, danke ich Ihnen. Zugleich ermutige ich Sie in dieser guten Haltung allen Gliedern der Kirche gegenüber – trotz aller negativen Erfahrungen – auszuharren. Mit meinen allerbesten Wünschen für bevorstehende Feier des Leidens und der Auferstehung unseres Herrn …“
Oder um ein anderes Beispiel für eine abwehrende Antwort zu zitieren, die auch dann zu Recht von Betroffenen als Abwehr und Zurückweisung erlebt wird, wenn der Schreiber das Gegenteil intendiert:
„ … Für Sie selber scheint mir vor allem wichtig, dass Sie mit Zuversicht Ihren Lebensweg gehen. Manchmal kommt etwas so, wie man es sich nicht erwartet hat. Manchmal ist es nicht leicht zu verstehen (oder gar nicht zu verstehen), warum es so gekommen ist. Jedenfalls müssen wir dann von neuem uns einfach Gott zuwenden, zur Erfüllung seines Willens bereit sein und tun, was möglich ist. Es wird dann schon das Richtige herauskommen … Ich bete für Sie und hoffe, dass Sie guten Mutes sind.“
Der große theologische Ernst, der in solchen Antworten übersehen wird, ist dieser: Geistlicher Missbrauch ist ein Verstoß gegen das Erste Gebot. Der Name Gottes, oder auch: der Name Jesu wird missbraucht, um Macht über Menschen zu gewinnen; um sie als Arbeitskräfte auszubeuten und für andere Zwecke zu nutzen, als Staffage auf Großveranstaltungen, zum Zwecke der narzisstischen Selbstbefriedigung, und so weiter. Gerade im Fall des sexuellen Missbrauchs in geistlichem Kontext besteht die Gefahr, den sexuellen Aspekt des Missbrauchs bloß als Verstoß gegen das sechste Gebot zu deuten. Es geht aber beim geistlichen Missbrauch, ob sexuell oder anders konnotiert, nicht um das sechste, sondern um das erste Gebot. Die theologische Rede von Bibel und Kirche wird missbraucht. Um aus diesem Missbrauch herauszukommen, muss neu über den richtigen Gebrauch gesprochen werden.
Unterscheidung der Geister
Geistlichen Missbrauch gibt es nicht nur im christlichen Kontext. Kürzlich wurden Missbrauchsfälle in Zen-Klöstern bekannt. Sogyal Rimpoche („Rimpoche“ heißt „Verehrungswürdiger“), Autor von „Das tibetische Buch vom Leben und Sterben“, wurde entlarvt;2 ein menschenunwürdiges System von psychischen und materiellen Abhängigkeiten um den geistlichen Despoten kam ans Tageslicht. Der Dalai-Lama musste sich von Sogyal öffentlich distanzieren. Mir selbst begegnete das Phänomen des geistlichen Missbrauchs zum ersten Mal Ende der 70er-Jahre, als der Bruder eines Schulfreundes von der Mun-Sekte („Vereinigungskirche“) akquiriert wurde. Hier erfasste mich zum ersten Mal das tiefe Erschrecken darüber, dass und wie ein junger Mensch auf einen angeblichen „Messias“ hereinfällt, der mit diesem Anspruch eine totalitäre Kontrolle über seine Anhänger übernimmt, mit tatsächlicher Zustimmung der Kontrollierten – wie immer man diese Zustimmung einschätzen mag.3
Der Vergleich mit dem Zen-Meister hilft, das asymmetrische Element in Beziehungen geistlicher Begleitung genauer zu definieren. Der Meister gibt die Methode vor. Ignatius formuliert für den „Magister“: „Der die Übungen gibt.“ Zur Übung gehört wesentlich Methode. In der Zen-Meditation ist die Strenge der vorgegebenen Methode klar – sie zieht gerade deswegen viele Suchende an. Wer in die Beziehung zum Meister eintreten will, muss sich in die vorgegebene Methode einfügen. Die methodische Strenge macht den Ernst dessen deutlich, worum es geht: den Weg zur Erleuchtung finden. Auch Ignatius weist darauf hin, wie wichtig es ist, die Übungen und die Übungszeiten genau einzuhalten. Wenn die übende Person in der Übung Trost empfängt, soll sie die Übung nicht verlängern („weil‘s so schön ist“); wenn sie Trostlosigkeit empfängt, soll sie sie nicht verkürzen („weil es so mühsam ist“). Der Exerzitant findet ja nicht von Anfang an „Gott in allen Dingen“. Er beginnt einen Weg. Wie dieses Suchen Richtung gewinnen kann, und wie das Finden wirklich zu Gott und nicht zu einem vermeintlichen Gott führt, ist ja gerade zu lernen.
„Der vermeintliche Gott“: Es geht um die „Unterscheidung der Geister“. Der „böse Feind der menschlichen Seele“ ist Missbrauchstäter. Nichts ist ihm heilig. Alles instrumentalisiert er, um sich die Seele zu unterwerfen. Seine eigentlich plumpe List besteht darin, dass er nicht offen agiert. Er tritt nicht vor die Seele nach dem Motto: „Guten Tag, ich bin der böse Feind der menschlichen Seele“; vielmehr sagt er: „Ich bin Gott“, oder: „Ich bringe dich zu Gott.“ Wir stoßen auf das Ur-Thema der Paradies-Erzählung.4 Der „Anti-Gott“ ist bei aller Plumpheit seines Grundanliegens gerissen klug, wie eben die Schlange „klug“ ist (Gen 3,1). Weil er keine Scham kennt, kann er sich alles aneignen und alles verdrehen, was der Seele heilig ist, gerade auch die theologische Rede.
Seiner plumpen binären Logik („Ich oder Gott“) und seinen Wenn-Dann-Konstruktionen (auch: Jesu Versuchung in der Wüste, Lk 4,1-13) sind komplexe Verwirrspiele vorgelagert, wie etwa die geschickte Frage in Gen 3,2: „Hat Gott wirklich gesagt, dass ihr nicht von allen Bäumen des Gartens essen dürft?“ Die Tricks sind für die ungeübte Person nicht leicht zu durchschauen, weil es der Seele ja gerade um die Suche nach Gott geht. Sie ist offen für Ansprache der „Geister“. Doch woran erkenne ich die Gegenwart Gottes und seines Geistes? Und wie unterscheide ich sie von der Gegenwart dessen, der bloß vorgibt, Gott selbst oder ein Bote Gottes (2 Kor 11,14) zu sein? Genau um diese Frage geht es in der „Unterscheidung der Geister“.
Die Auseinandersetzung mit Geistlichem Missbrauch führt zu der Einsicht, dass es in allen „Geistlichen Übungen“, die diesen Namen verdienen, tatsächlich und zuerst einmal um die Frage nach Gott geht und gehen muss – und nicht zuerst um „Gesundheit und Krankheit, Armut und Reichtum“5 und andere im Sinne von Ignatius „indifferente“ Anliegen. Der Exerzitienweg kann auch ein Heilungsweg werden, aber er wird nicht wegen der Heilung eingegangen, sondern wegen der Suche nach Gott. Es kann ja sein, dass ein Mensch Gott findet und doch krank und angefochten bleibt – wie etwa Paulus (vgl. 2 Kor 12,7ff). Ignatius geht jedenfalls davon aus, dass die „inneren Bewegungen“ (mociones, spiritus) in den Herzen oder Seelen der Menschen von Gott kommen, oder wenn nicht von Gott, dann eben vom „bösen Feind der menschlichen Seele“.
Ignatius bewegt sich strikt in religiöser Sprache. Die Frage nach Gott ist sein Formalobjekt im Blick auf die Bewegungen der Seele im Menschen. Das Formalobjekt lässt sich verändern. Dann blickt man auf die Versuchungen aus einer psychologischen oder anderen human- oder gesellschaftswissenschaftlichen Perspektive. Doch damit kommt man dem Phänomen des geistlichen Missbrauchs nicht bei, sofern es eben ein Problem auch für die Theologie ist.
In der Auseinandersetzung mit Geistlichem Missbrauch plädiere ich deswegen für eine „geistliche“ Theologie, das heißt für eine Theologie, die persönliche Erfahrungen als locus theologicus (theologischen Ort) begreift und reflektiert – nicht getrennt von Schrift und Tradition, aber eben auch nicht auf diese reduziert. Für eine solche Theologie scheint mir die klassische via negationis angemessen zu sein: Von Gott zu reden beginnt damit, von dem zu reden, was er nicht ist. Dem entspricht in den Regeln zur „Unterscheidung der Geister“ das Ziel, die Versuchungen als solche zu durchschauen und zurückzuweisen.6 Es gibt keine Erkenntnis Gottes ohne ständiges Ringen um eben diese Erkenntnis, gerade deswegen, weil sie immer wieder vom „bösen Feind“ für das Gegenteil instrumentalisiert werden kann. Geistliche Missbrauchssysteme hingegen sind an ihrer verführerischen Positivität erkennbar.
Theologie versus Ideologie
Ein Mann, der sich mit Hilfe der Begleitung durch eine kluge Ordensfrau aus den Fängen eines innerkirchlichen Missbrauchssystems löste, berichtete mir, dass seine Begleiterin ihn gelegentlich erstaunt gefragt habe: „Und das haben Sie alles geglaubt?“ Das Missbrauchssystem enthielt das ganze Programm, sowohl in seiner verlockenden Seite (Sicherheitsgefühl, Nähe zu einer charismatischen Führungspersönlichkeit, Zugehörigkeit zu einer Elite, hohe Wertschätzung durch die kirchliche Hierarchie, intensive Liturgie) als auch in seiner dunklen Seite (Bruch mit der Familie, Kontrolle der Kontakte nach außen, Kritik- und Sprechverbote, radikaler Welt-Kirche-Dualismus, Schulddruck, Weitergabe vertraulicher persönlicher Informationen, Instrumentalisierung der Beichte), und schließlich auch mit den typischen Phänomenen während der Ablösungsphase: Verratsvorwurf, Mobbing, Kontaktabbruch und nachgeworfene Verleumdungen bis hin zu Versuchen, die weitere berufliche Zukunft zu torpedieren.
Von außen ist manchmal schwer zu begreifen, wie Ideologiebildung konkret funktioniert. Da wird einerseits viel Gelehrtes und Richtiges aufgefahren. Der innere Kulminationspunkt aber, auf den alles hinausläuft, ist die Forderung nach dem inhaltsleeren Unterwerfungsakt unter die Autorität, nach dem Motto: „Die Autorität hat immer Recht, auch dann, wenn sie nicht Recht hat.“ Das ist nichts anderes als eine Variante der Machtfrage, die Jesus in der Wüste gestellt wird: „Das alles werde ich dir geben, wenn du immer zu allem Ja und Amen sagst, was von mir kommt“ (vgl. Lk 4,6 f.) Es geht nicht um Inhalte, sondern um Unterwerfung. Oft fragen sich Betroffene nachträglich, wie es zum Beispiel möglich war, dass sie willentlich und wissentlich leugneten und verleumdeten und dass sie diese Lügen für fromme Taten hielten. Das hängt mit der Inhaltsleere der Machtfrage zusammen. Wer in höheren Diensten steht, darf auch lügen, so die Argumentation. Papst Franziskus verweist in seinem Schreiben Gaudete et exultate auf vergleichbare Phänomene in Bezug auf katholische Blasenbildungen im Internet.7 Die Schamfreiheit im Umgang mit der Wahrheit ist ein Kennzeichen für den Un-Geist, der in autoritären Gruppen und Blasen waltet.
Man könnte auch sagen: Der „böse Feind“ arbeitet mit einem strikt nominalistischen Gottes-Begriff. Geistlicher Missbrauch in der katholischen Kirche ist sozusagen Kierkegaard auf katholisch: die Suspension des Ethischen durch das Religiöse.8 Es geht um den Unterwerfungsakt als solchen – inhaltsleer, gerade nicht rational vermittelbar. Jede rationale Vermittlung und Vermittelbarkeit würde die Reinheit des Unterwerfungsaktes stören. Ein Beispiel:
„A. durfte jedes Jahr für ein paar Tage Heimaturlaub bei ihren Eltern verbringen. In einem Jahr hatte sie während dieses Aufenthaltes ein Gespräch mit Ihrem Bruder. Er vertraute ihr an, dass er homosexuell war. A. erschrak, wies ihn auf die ‚Lehre der Kirche‘ hin, drückte aber gleichzeitig aus, dass sie ihn als Menschen respektierte und dass sich dadurch an ihrem Verhältnis zueinander nichts änderte. Ihr Bruder bat sie eindringlich, ihrem Vater nichts davon zu erzählen. Beide wussten, wie schwierig es für den Vater wäre, die Homosexualität seines Sohnes zu akzeptieren. Es galt auf einen günstigen Augenblick zu warten, in dem der Sohn sich seinem Vater offenbaren konnte. A. gab ihm dieses Versprechen. Ihr war klar, wie heikel das Coming Out werden würde. Sobald sie wieder zurück war, musste sie ihrer Oberin über den Heimaturlaub Bericht erstatten. A. war das gewohnt und erzählte ihr alles, auch von dem Gespräch mit ihrem Bruder. Ihre Oberin verlangte daraufhin von ihr, sich auf der Stelle niederzusetzen, dem Vater einen Brief zu schreiben und ihn von der Homosexualität seines Sohnes zu unterrichten. Auf die Frage, warum und wozu, erhielt sie nur die Antwort, sie müsste das im Gehorsam tun, denn sie hatte Gehorsam gelobt. Obwohl es ihr das Herz umdrehte und ihr so übel wurde, dass sie erbrechen musste, obwohl sie das Gefühl hatte, ihren Bruder zu verraten, gehorchte A. Sie fühlte sich wie vergewaltigt. Ihr Verhältnis zu ihrem Bruder und zu ihrer Familie wurde dadurch über Jahre hinweg aufs Schwerste belastet. Vor allem aber litt sie darunter, ihren Bruder verraten und ein Versprechen gebrochen zu haben. Aber sie sah in dem Moment, in dem die Oberin sie zwang, den Brief zu schreiben, keinen Ausweg. Sie glaubte, durch das Gehorsamsgelübde gebunden zu sein.“
Diese Suspension des Ethischen durch das Religiöse ist auch ein mögliches Erklärungsmodell dafür, warum es in so vielen autoritären Gruppen immer wieder zum Bruch des Beichtgeheimnisses kommt. Die Begründung lautet: Wenn es Gottes Wille ist, darf man auch das Beichtgeheimnis brechen.
Der „böse Feind“ macht nicht Halt vor der Instrumentalisierung des kirchlichen Lehramtes. Dabei hilft gerade ein Lehramtsverständnis, das die Wahrheit des Inhalts der Lehre auf die Autorität des Amtes gründet – beziehungsweise im Fall der Fälle ausschlaggebend bloß auf die Autorität des Amtes. Indem sich der Versucher besonders lehramtstreu gibt, täuscht er die kirchliche Öffentlichkeit. Er hat auch kein Problem damit zu behaupten, er sei lehramtstreuer als die Hierarchie, wenn Vertreter des Lehramtes angeblich von der Lehre abweichen. Es ist ja aus der Perspektive eines solchen Amtsverständnisses schon ein Abweichen von der Lehre, wenn man sich einem inhaltlichen Diskurs öffnet, dessen Ergebnis eine Fortentwicklung oder gar eine Korrektur der vorliegenden kirchlichen Lehre bedeuten könnte.9
Noch schwieriger wird es, wenn vom „bösen Feind“ Verführte selbst Positionen in der kirchlichen Hierarchie besetzen. Die Auseinandersetzung mit dem Geistlichen Missbrauch braucht deshalb eine Selbstreflexion des Lehramtes, wie es sich gegen diese Instrumentalisierung zu wappnen gedenkt. Das Lehramt ist ja dazu da, um das Evangelium vor Missbrauch zu schützen. Wer sich aber selbst nicht schützen kann, der kann auch andere nicht schützen.