Die Missbrauchsstudie verändert das Gesamtbild der katholischen Kirche. Maßgeblich ist die Abscheu über die Fakten. Anstelle der Communio der Kirche, die sich signifikant von weltlichen Vergemeinschaftungen unterscheidet, wird ihr Integral nun von Vertuschungstaktiken abgeleitet, die den sexuellen Missbrauch durch Priester unter der Decke gehalten und vor Opfern das Weite gesucht haben. Das Ergebnis fällt nicht besser aus, wenn das auch in anderen Gemeinschaften zu finden ist. Katholisch glaubende Menschen sind bis in Spitzenämter hinein einer dynamisch fortschreitenden Desillusionierung ausgesetzt und Beobachter von außen lassen nicht locker bei der Frage nach Konsequenzen. Alle erwarten von einer Kirche mehr, als die katholische derzeit liefern kann oder will.
Das zeigt sogar der Grand-Jury-Bericht in Pennsylvania über den Missbrauch, der den Bischof aus Erie hervorhebt.1 Er wechselte seine Anwälte aus, die zu mauern empfohlen hatten, stellte sich als einziger Bischof persönlich der Grand Jury und öffnete die Archive über den subpoena-Zwang hinaus: „We commend Bishop Persico for acknowledging past abuse, unmasking the abusers, and encouraging accountability. In his testimony we find hope.”2 Alle Missbrauchsberichte weltweit offenbaren, dass Kirche nicht so weiter machen kann. Aber verbindet sich die interne Abscheu mit dieser Einsicht oder versteift sich der Unwille, mehr zu liefern?
Die Frage stellt sich trotz respektabler Beteuerungen vieler Amtsträger bis zum Papst, das Ausmaß der Schuld verstanden zu haben und beschämt zu sein. Aktionen wie jene des Papstes in Chile sind weltkirchlich bei weitem nicht selbstverständlich, auch in Europa nicht. Die Kirche könnte auch eine Richtung einschlagen, die in der Präsidentschaft der USA zu beobachten ist. Unter Druck macht man einfach das Gegenteil dessen, was andere erwarten. Schließlich lässt sich empörende Unmöglichkeit leicht zu Ressentiments verdichten, die zwar Beobachter abstoßen, aber machtvoll auf bestimmte Anhänger wirken. So lässt sich Ohnmacht überspielen. Hier hilft es nicht, dass die Kirche es beim Missbrauch mit Sexualität zu tun hat, die eigentlich ein sehr bewegliches intimes Lebenselixier darstellt, das Menschen positiv ermächtigt. Denn zugleich lässt sie sich gesellschaftlich wie existentiell nur zu leicht nutzen, um Ohnmacht zu entfliehen, wenn man nur vor keiner Unverschämtheit gegen andere haltmacht.
Wer das kirchlich für ausgeschlossen hält, stellt sich nicht ausreichend der harten Realität des sexuellen Missbrauchs durch Kleriker. Er trat jahrzehntelang mit gerade dieser atemberaubenden Unverschämtheit auf, weil die Täter sich Straflosigkeit sicher sein konnten. Selbst jene kirchlich Verantwortlichen, die den Albtraum händeringend bewältigen mussten, kamen über schamloses Vertuschen nicht hinaus, was der Pennsylvania-Bericht „the circle of secrecy“ nennt.3 Ich halte es für zwingend, diese Komplexität aus unverschämter Macht und schamloser Ohnmacht theologisch zu bearbeiten, damit der beschriebene Rückfall in auftrumpfende Selbstgerechtigkeit nicht eintritt.
Fehlende Komplexität im kirchlichen Selbstbezug
Die Kirche kann den Missbrauch nicht mit der hehren Idee aussitzen, unzeitgemäß zu sein, und so die Schuld bei den Tätern isolieren. Sie ist zur Einsicht genötigt, dass sie „eine einzige komplexe Wirklichkeit ist, die aus menschlichem und göttlichem Element zusammenwächst“ (Lumen gentium 8). Natürlich wurde auf dem Zweiten Vaticanum nicht im Ansatz daran gedacht, das im sexuellen Missbrauch zu lokalisieren – obwohl nicht wenige Konzilsväter damit in ihren Diözesen zu kämpfen hatten. Bis heute geht die Kirchenleitung nicht adäquat mit den Abgründen der kirchlichen Komplexität um, weil sie unzeitgemäßen statt komplexen Maßstäben folgt. Aber es rechtfertigt keinen Missbrauch, unzeitgemäß zu sein.
Aktionismus hilft auch nicht weiter, um die Schleifspur des Missbrauchs auszuwetzen. Damit möchte ich nichts von den Mühen um entschiedene Prävention, Opfer-Ausgleich und um das Erkennen blinder Flecke in Abrede stellen. Das sind wichtige, aber andere Themen. Eine theologische Aufarbeitung muss sich dem stellen, wie klar die Berichte eine innerkirchliche Diktatur des Relativismus über Missbrauch freilegen. Deren Schamlosigkeit stürzt die Kirche in den Anfang eines Anfangs tiefer Demütigung.
Der Missbrauch ist schließlich nicht als ein 11. September über die Kirche hereingebrochen, wie ein römischer Erzbischof vor kurzem vermutete. Das ist die falsche Metaphorik. Die kirchliche Integrität wurde nicht von außen angegriffen; strukturelle Teile in ihr brachen wie bei der vermaledeiten Brücke in Genua von sich aus zusammen. Wir können als Kirche nicht nach Solidarität rufen, weil wir attackiert würden, sondern stehen vor dem Grau in Grau selbst verschuldeter Trümmer. Beruhigende Metaphorik, es eigentlich besser zu können, hilft nicht. Vielmehr sind ernüchternde Metonymien angesagt, also Kontaktaufnahmen mit der schon jetzt fassbaren Macht des Geschehens.
Eine solche Metonymie findet sich im ersten Befund der MHG-Studie: „Dabei fanden sich bei 1670 Klerikern der katholischen Kirche Hinweise auf Beschuldigungen des sexuellen Missbrauchs Minderjähriger. Das waren 4,4 % aller Kleriker aus den Jahren 1946 bis 2014, von denen Personalakten und weitere Dokumente in den Diözesen durchgesehen wurden. Diese Zahl stellt eine untere Schätzgröße dar; der tatsächliche Wert liegt aufgrund der Erkenntnisse aus der Dunkelfeldforschung höher.“4 Die „untere Schätzgröße“ qualifiziert die Trümmerlandschaft, in der die Kirche sich jetzt zur Sexualität verhalten muss.
Es rächt sich für sie bitter, sich über Generationen mit verleugnender Metaphorik einen schlanken Fuß über Macht wie Sexualität gemacht zu haben. So wehrte eine umstrittene Kölner Erzbischofsernennung einst ab, in der Kirche gäbe es keine Macht, sondern nur Vollmacht. Und im Weltkatechismus steht tatsächlich, Sexualität beträfe wesentlich die Befähigung, „Bande der Gemeinschaft mit anderen zu knüpfen“ (Nr. 2332). Die Opfer des Missbrauchs können von diesen Banden wahrlich ein lebenslang trauriges Lied singen. Solche untaugliche Metaphorik reduziert bloß Komplexität, während Metonymien wie die untere Schätzgröße sie steigern. Das ist nun bitter nötig.
Das kirchliche Selbstverständnis, heilsame moralische Instanz für danach darbende säkulare Gesellschaften und mahnende Stimme für individuell bedürftige Gewissen zu sein, erweist sich als Selbsttäuschung, die weder mit den tatsächlichen Fragen verfugt ist, wie die brisante Energiequelle Sexualität auf humane Weise zu nutzen wäre, noch an das Niveau der Ansprüche für die benötigten Antworten heranreicht. Beides hat man nun schwarz auf weiß auf Hunderten von Seiten. Die katholische Kirche zeigt sich darin als moralisch korrupt. Sie hat über Jahrzehnte dieser Korruption Raum gegeben, als sie durch Kleinreden und Vertuschen glaubte, der Sexualverbrechen durch Kleriker langfristig Herrin zu werden. Der Vergleich mit anderen Institutionen, in denen missbraucht und eifrig vertuscht wird, verbietet sich nicht nur aufgrund des Ausmaßes. In keiner anderen missbrauchenden Organisation, auch in keinen von Missbrauch gebeutelten Familienkontexten wird ein moralischer Überlegenheitsanspruch erhoben wie in der katholischen Kirche. Seine Verbindung mit dem Missbrauch ist dessen katholisches Kennzeichen.
Es betrifft nicht nur die Täter. Es trifft alle in der Kirche, insbesondere jene im Klerus, die etwas geahnt haben, aber dem nicht nachgingen, obwohl es sie abgestoßen hat. Es trifft bei Klerus wie Laien auch die objektiv Ahnungs- und Schuldlosen. Das ist hoffentlich immer noch die Mehrheit, aber hier hilft keine Majorität. Eine schwer erträgliche, aber eben nicht aberwitzige Stigmatisierung tritt für alle ein. Sie resultiert weder aus antiklerikalem Überschwang noch innerkirchlicher Panik, sondern aus der Schamlosigkeit, mit der die hohen moralischen Ansprüche bei Tätern und Vertuschern ignoriert wurden. Das bedrückt nun die Hierarchie der Kirche umso mehr, je höher ihr Repräsentationsgrad ist. Schließlich hat sie die katholische Sexualmoral landauf landab gegen jeden Zweifel vertreten, aber damit weder jahrzehntelangen Missbrauch blockiert, noch flächendeckendes Verschweigen verhindert und auch keine Aufarbeitung befördert. Diese Predigt erweist sich als reiner Diskurs zur Qualifizierung anderer, der für die eigenen Maßstäbe nicht sonderlich bedeutsam ist. Es ist dringend geboten, diesen Abgrund auszuloten.
Johannes Paul II. beanspruchte 1988 vor versammelten Moraltheologen, bei der kirchlichen Sexuallehre handele es sich „nämlich nicht um eine vom Menschen erfundene Lehre: sie ist vielmehr von der Schöpferhand Gottes in die Natur der menschlichen Person eingeschrieben und von ihm in der Offenbarung bekräftigt worden.“5 Höher kann man die Latte einer Lehre kaum legen. An dieser Ehrfurcht gebietenden Höhe hatten sich vor allem jene zu orientieren, die sich praktizierter Sexualität aus katholischer Sicht nicht entziehen dürfen, also die in einer katholisch geschlossenen Ehe lebenden Laien. Für die Lehre gehört Sexualität in die Ehe, weil sie diese prinzipiell für die Zeugung von Kindern öffnet. So weit, so gut bekannt und so wenig hier bestritten. Darum geht es jetzt nicht.
Die binäre Ordnung des Diskurses
Es geht jetzt um die Ordnung jener moralischen Diskursivierung von Sexualität und dadurch um den kirchlichen Selbstvollzug. In der katholischen Moral wird Sexualität ja nicht einfach moralisch-philosophisch auf Gut und Böse hin verhandelt, sondern mit Verve gesellschaftlich angesagt, was zu tun und zu lassen sei. Solche Diskursivierungen haben unweigerlich eine disziplinierende Agenda, hinter der machtvolle Zugriffe stehen. Sie treten immer mit einer normalisierenden Ordnung auf und um diesen Anspruch geht es angesichts des Missbrauchs. Es reicht theologisch nicht, kirchlich gelehrte Wahrheiten zu analysieren; man muss sich ihr Ansagen genauer ansehen. Dessen Ordnungsabsichten haben sich durch die MHG-Studie, den Bericht der Grand Jury in Pennsylvania und der Royal Commission in Australien, auch durch die einschlägigen Berichte in Irland über Magdalene Laundries und Industrial Schools als doppelbödig und bigott erwiesen. Ich habe mich nicht in inhaltliche Fragen der Moraltheologie einzumischen, wie, wann, warum Sexualpraktiken moralisch oder a-moralisch sind. Ich bleibe beim dogmatischen Leisten der disziplinierenden Modalität der Sexualmoral. Sie folgt der binären Codierung von Klerikern und Laien. Ich will damit keiner Personalisierung von Ständekonflikten das Wort reden; das wäre abwegig. Ich möchte die Diskursivierung eines Strukturproblems benennen.
Es ist Laienangelegenheit, katholische Sexualmoral mit Leben zu erfüllen, während ihre belehrende Diskursivierung ein Dienst der Kleriker (vor allem Bischöfe und Päpste) an den sexuell praktizierenden Menschen in der Kirche und in der Menschheit insgesamt ist. Diese Formalität rutscht nun so sehr weg, dass auf Dauer wenig übrig bleiben könnte. Katholische Sexualmoral ist in den Bann des Schwarzen Loches geraten, das der sexuelle Missbrauch darstellt. Es wird sich noch zeigen, welche ihrer inhaltlichen Positionen bereits jenseits des Horizontes sind, hinter dem nichts dem Absturz in seine Gravitation entgeht. Aber wer in der Kirche will denn jetzt schon Menschen das Achselzucken verdenken, wenn sie einer ihrer moralischen Ansagen ausgesetzt sind? Wer darf denn statt Abwinken offene Ohren oder wenigstens verstocktes Ärgernis erwarten, wenn Kirche sich mit brisanten Forderungen zur Sexualität meldet? Es handelt sich nicht um fehlenden guten Willen oder Ignoranz. Es ist schlicht so, dass die Kirche sich selbst zur gedeihlichen Orientierung von Macht und Sexualität irrelevant gemacht hat. Sie selbst hat die Axt an ihre Autorität gelegt, weil es an Selbstbeanspruchung fehlt.
Es ist offenbar geworden, wie sehr die hohe Latte der Ansprüche für Laien gilt, aber nicht für Kleriker. Sie konnten die Latte gar nicht reißen, weil sie nicht für ihre Lebensform aufgelegt war. Das gehört zum Zölibatsanteil am sexuellen Missbrauch. Der Zölibat ist nicht dessen Ursache, aber es ist in dessen Herkunft verstrickt. Es wäre falsch, vom Zölibat aus einen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang zu konstruieren. Zölibatär lebende Menschen werden so wenig zwangsläufig zu Missbrauchstätern wie nicht-zölibatär lebende Menschen es nicht werden. Aber die Ordnung des Zölibatsdiskurses führt zu einem prinzipiellen Gegenüber von Klerikern, die ihn bewundert leben, und den anderen Leuten, die er überfordert. Das wiederum führt zur Fiktion, Priester seien aufgrund des Zölibats erhaben gegenüber der Macht von Sexualität. Dieser Diskurs bestreitet durchaus nicht, dass auch Priester von sexuellem Begehren angerührt werden. Aber es wird selbstverständlich angenommen, dass sie über der Macht darin stünden. Von dort ist es nicht weit, zu unterstellen, sie könnten jederzeit die Macht der Sexualität beim begehrenden Übergriff auf Kinder und Jugendliche bändigen. Wahrscheinlich führte diese Fiktion auch dazu, Klerikern selbst bei schwerem Verdacht weit mehr als die übliche Unschuldsvermutung zuzubilligen.
Zurückschlagende Distinktionsgewinne
Der Widerstand bei Laien gegen die Moralansagen von Klerikern bestärkt sogar die Illusion einer über Macht erhabenen Position. Sie setzt das erregende Potential jenes übergriffigen Habitus frei, dass die katholische Sexualmoral gerade gegen den inneren Widerstand derer verkündigt werden muss, die sich ihrem Zugriff entziehen wollen. Es gehe schließlich um Wahrheit und nicht bloß um Akzeptanz. Hier wird moralische Macht unverschämt gebraucht, und doch prägt das die Taktik des katholischen Sexualdiskurses, um der höheren Wahrheit willen auf Körper zuzugreifen, die immer die der anderen sind. Gedacht ist der Zugriff natürlich geistlich, aber dabei blieb es erwiesenermaßen nicht.
Die Distinktionsgewinne, welche die geistliche Ermahnung nie ausschlug, brechen jetzt als Bumerang eines massiven Verlustes an Glaubwürdigkeit über die Kirche herein. Darum sind die Missbrauchsfolgen unvergleichlich gravierender als die Nicht-Beachtung von Morallehren, die sich seit Humanae Vitae im sogenannten Kirchenvolk ausbreitete. Das vollzog sich schweigend. Jetzt aber erlebt die Kirche hautnah, welches Schweigen in dem für moralische Zugriffe einschlägigen Narrativ von Jesus und der Sünderin einsetzt, wenn es heißt: „Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als erster einen Stein auf sie“ (Joh 8,7). Das steht nicht länger für einen spirituellen Imperativ gegen fehlgeleitete Positionen. Die Kirche wird peinlich davon berührt wie dort die Ältesten.
Der offenbar fast flächendeckend geübte Zirkel des Verschweigens über nicht zu bestreitende Taten hatte ein viel niedrigeres Niveau als den Erhalt kirchlicher Handlungsfähigkeit. Ihn befeuerte eine Schamlosigkeit, Verwerfliches stets nur anderen entgegenzuhalten. Diese Schamlosigkeit tritt nicht zuletzt in der Kombination aus Beichtpraxis und Missbrauch auf, welche die Forschergruppe der MHG-Studie händeringend vorsichtig anspricht: „Beschuldigte Kleriker sehen nicht selten die Beichte als Möglichkeit, eigene Missbrauchsdelikte zu offenbaren. In einigen Fällen wurde der geschützte Bereich der Beichte von klerikalen Beschuldigten sogar zur Tatanbahnung oder -verschleierung benutzt.“6 Ein Einräumen, das der Verschwiegenheit sicher ist, und der circle of secrecy sind aus demselben Holz schamloser Macht geschnitzt. Sie selbst ist aber in der Ordnung des Sexualmoraldiskurses verschämt. Aus dem disziplinierten Verschweigen dieser Selbstherrlichkeit ist nun ein Abgrund kirchlicher Ohnmacht geworden. Das kann jene kirchlichen Verantwortungsträger, die daran unschuldig sind, verständlicherweise wütend machen, aber das ist leider kein Ausweg.
Im sexuellen Missbrauch haben sich Kleriker nicht einfach versündigt, sondern schamlos verhalten. Aus Schamlosigkeit resultiert eine Energie, auch offenkundige Schuld nicht einzugestehen und das wie beim vormaligen Erzbischof von Wien, Kardinal Groer, lebenslang stur durchzuhalten. Schamlosigkeit fördert auch die Mythisierung des Missbrauchs als Auserwählung für seelsorglich besonders bedürftige Minderjährige.
Macht und Ohnmacht
Die Macht des Klerikalismus ist seit dem Brief des Papstes an das Volk Gottes vor dem Irlandbesuch zur Standarderklärung für die Schuld geworden. Aber sie ist um einiges komplexer, als die Kategorie „Missbrauch“ nahelegt. Das Problem tritt bereits beim Gebrauch der Macht auf, die in der Diskursivierung von Sexualität liegt. Wer mit der Definitionshoheit über das Anormale auftritt, überträgt selbstverständlich die Scham auf andere. Im Missbrauch mutiert diese Macht zur Unverschämtheit eines Übergriffs, der die Scham beim Opfer belässt und verschärft.
Ein Austreiben des Klerikalismus allein kann das nicht bewältigen; das krankt bereits daran, dass es die Täter zu den entscheidenden Figuren macht, um Missbrauch aufzuarbeiten. Das sind sie nicht. Ihre Taten taugen aber dafür, die kirchlichen Resultante ihrer Schamlosigkeit freizulegen. Die Anormalität, welche die Ordnung des Sexualmoral-Diskurses schafft, hat allein andere, eben die Laien, zu beschämen. Und das öffnet dem Übergriff die Tür. Man kann das gut in der zum Klerikalismus alternativen Erklärung sehen, der Missbrauch resultiere aus dem Anteil schwuler Männer im Klerus, wie auch in der Detailfreude neuscholastischer Moralhandbücher, was ehelich-sexuell konkret geboten und dezidiert verboten sei. Das erste ist schamlos gegenüber Priestern, die sich ihrer homosexuellen Neigungen klar sind, und unverschämt zu Opfern, nun auch noch für billige Sündenbockmechanismen herzuhalten. Das zweite mutet wie brisante Clips im Kopf vor der Allverfügbarkeit obszöner Bilder an. Das Problem hinter beidem ist ein Habitus, Schamlosigkeit aus höherem Anlass zu entschuldigen.
Schamlosigkeit in einer Schuldkultur
Hier tritt ein strukturell einschlägiger Unterschied zutage. Während Sünde mit der Schuld einer Tat einhergeht, ist Schamlosigkeit mit der Macht einer moralischen Beanspruchung verbunden. Die kirchliche Tradition ist besonders auf Sünde adaptiert. In der lateinischen Westkirche gibt es seit Augustinus einen breiten Strom theologischer Ansätze dafür. In ihrem Diskurs gibt es viele Laien-Sünden zur Sexualität, während sich Kleriker-Sünden vor allem auf geistliche Dinge beziehen. Der Missbrauch zeigt, wie unterkomplex das ist. Auf Sexualität hin gibt es Kleriker-Sünden, die eine gefährliche geistliche Zerstörung bei den Opfern auslösen. Was soll ein Opfer denn noch glauben, sind doch die Glaubensinhalte geistlich direkt mit dem Täter verbunden? Und selbst in den Fällen von Tätern, die ihre Schuld begreifen und sich glaubhaft entschuldigen, bleibt die Scham an den Opfern haften, oftmals ein Leben lang.
Das unterkomplexe Verhältnis der Sexualmoral zu übergriffigen Schuldansagen öffnet der Schamlosigkeit der Missbrauchstat Tür und Tor; denn der Schuldfokus ignoriert diese Schamlosigkeit. Während Scham peinlich berührt, eine eigene Verstrickung zu bedenken, lässt sich über die Schuld stets mit dem Wissen um die Wahrheit, was Sünde ist, triumphieren. Hier greift die Differenz zwischen Schuldkultur und Schamkultur, deren Debatte Ruth Benedict vor gut 70 Jahren eröffnet hat.7 Sie hält bis heute kontrovers an. Wie immer der intellektuelle Streit ausgeht, ob es so unterschiedliche Reinkulturen tatsächlich geben kann, so ist der sexuelle Missbrauch durch Kleriker davon geprägt, beide Formen von Ohnmacht zu vermischen. In der Sexualmoral ist eine Schuldkultur am Werk, weil sie auf Fehlverhalten anderer fokussiert ist, eben das der Laien. Sie lässt es nicht nur nicht zu, sich von reservierten intimen Bereichen anderer fernzuhalten, sondern bietet mehr oder minder vollmundig Entschuldigungstaktiken, genau dort einzudringen. Es droht schließlich der Verlust des Heils.
Diese Schuldkultur ist nun diskreditiert, weil in den Bearbeitungspraktiken des Missbrauchs eine Kultivierung der Schamlosigkeit am Werk war. Den priesterlichen Tätern wurde die öffentliche Scham über ihre Taten erspart. Sie wurden schamlos einfach versetzt und darüber verschämt ein circle of secrecy etabliert. Der kirchlichen Schuldkultur fehlt mehr als eine austarierende Schamkultur. Man kommt nicht umhin, von einer Kultur der Unverschämtheit auszugehen, von der die Kirche infiziert ist: Täter einfach versetzen, Opfer nicht hinreichend entschädigen und Sündenböcke bei unliebsam-homosexuellen Klerikern suchen.
Die Aufarbeitung des Missbrauchs wird diese Kultur der Unverschämtheit aufgreifen müssen. Unverschämtes Zugreifen steigert Macht, wovon der Missbrauch geprägt ist. Die Ordnung des Sexualmoraldiskurses ist in diese Unverschämtheit verstrickt. Es ist ein steiniger Weg, das zu ändern. Aber eine Kultur der Scham wird sich in der Kirche nicht einstellen, ohne dass er gegangen wird. Das bedeutet größere Verschwiegenheit und lauteres Sprechen zugleich.
Über den intimen Gebrauch partnerschaftlicher Sexualität wird die katholische Kirche entschieden verschwiegener werden müssen, solange ihre Autorität in moralischen Fragen derart selbstverschuldet darnieder liegt. Zugleich wird sie im doppelten Sinn des Wortes lauter über Schamlosigkeiten im moralischen Übergriff sprechen müssen. Er übt geistliche Gewalt aus, ganz gleich wie pastoral bemüht und spirituell überlegt er daherkommt. Es ist unvermeidlich, darüber öffentlich zerknirscht zu sein. Schweigen wie Zerknirschung können durchaus lange andauern. Aber sie gehören zum Besten, was der Kirche derzeit zur Verfügung steht.