Christliche Werte?

Der Begriff gilt als problematisch: „Wert“ kommt ursprünglich aus der Geschäftssprache und meint materielle und andere Güter, die man gegeneinander aufrechnet und mit denen man handelt – das wird ja nicht gemeint sein, wenn von „christlichen Werten“ gesprochen wird? Meint dieser Begriff, dass eine religiöse Minderheit eigene oder gar höhere Normen setzt, eine strengere Moral, die sie von ihren Mitgliedern verlangt und außerdem gesamtgesellschaftlich einfordert? Mit „christlichen Werten“ wird in der Flüchtlingspolitik argumentiert, im kirchlichen Arbeitsrecht, in ethischen Fragen zum Lebensbeginn und zum Lebensende, auch in der Forderung nach kultureller Toleranz und nach sozialer Gerechtigkeit, nach Menschenwürde, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Bisweilen wirkt solche Argumentation moralisierend. Gesprächspartner, die Christliches ablehnen, werden abgewertet, und dies nährt den Verdacht, hier wolle ein Sondergrüppchen seine elitäre Sondermoral anderen aufdrücken und sich damit über sie erheben.

Was aber sind, positiv gesehen, Werte? Emotional stark besetzte Vorstellungen über das Wünschenswerte – so lautet eine Definition von Hans Joas (vgl. Die kulturellen Werte Europas. Hg. von Hans Joas und Klaus Wiegandt. Frankfurt am Main 2005, 15). Ein „Wert“ ist attraktiv, also anziehend, und er weitet den Horizont und den Radius des Handelns. Joas grenzt den Begriff ab von „Norm“ (ist statt attraktiv eher restriktiv), von „Ziel“ (schränkt den Radius ein, fokussiert das Streben auf ein Ziel), auch von „Wunsch“ (meint das tatsächlich Gewünschte, nicht das Wünschenswerte). Sozialphilosophisch gesehen wird „Wert“ auch bestimmt als eine von der Mehrheit einer Gruppe getragene Vorstellung darüber, was gut und schlecht, was gewünscht und unerwünscht ist. Werte gehören zu jeder Kultur und sind bestimmend für deren Stile; sie objektivieren sich in Ethik und Recht, auch etwa in Kunst und in sozialen Aktivitäten.

Aus der Bibel wird man leicht – ohne Vollständigkeit – Werte benennen können: Glauben – auf einen Gott vertrauen, der Schöpfer ist und mitgeht, der heilt und vergibt, der rettet und vollendet; Barmherzigkeit – Armen und Schwachen aufhelfen und Sündern vergeben; Gleichheit – vor Gott alle Menschen gleich behandeln, denn es gibt nicht Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Männer und Frauen, sondern in Christus sind alle eins (vgl. Gal 3,28); Gastfreundschaft – Fremde und Notleidende einladen; Treue – bleiben bei der erkannten Wahrheit, dem erhaltenen Auftrag, den Beziehungen; Gemeinschaft – vereint einen Weg gehen in der Familie, in der Gemeinde, im Volk Gottes, mit Fremden; Respekt – den Besitz und mehr noch die Würde der Anderen achten in Wort und Tat; Wahrhaftigkeit – sich im Denken, Reden und Tun um Wahrheit bemühen; Gerechtigkeit – Opfer von Gewalt anerkennen, Täter konfrontieren, gegen Gewalt einschreiten, Unrecht bekämpfen, Besitzverhältnisse ausgleichen. Zusammengefasst sind diese Werte im Dekalog oder in dem alt- und neutestamentlichen Gebot der Gottes- und Nächstenliebe, einschließlich der Feindesliebe. Urbild christlich-wertorientierten Lebens ist – vor allen anderen großen Gestalten – Jesus Christus.

Einiges von dem, was heute in Europa als Wertekanon gilt, wurde in Jahrhunderten erkämpft, teilweise gegen die Kirche. Europa war nie rein christlich, sondern immer multikulturell und multireligiös – auch im Mittelalter gab es in fast ganz Europa jüdische, in Spanien und auf dem Balkan muslimische und im Norden Europas heidnische Kulturen. Europas Werte sind christlich geprägt, stammen aber auch aus der griechischen und römischen Antike und aus anderen Religionen; sie wurden über 2000 Jahre hinweg, oft schmerzhaft, im Zusammenleben der Kulturen erlernt. Zu diesem Wertekanon gehören etwa: Freiheit – politisch durchgesetzt erst mit der Abschaffung der Sklaverei erst im 19. Jahrhundert; Rationalität – der Vorrang der Fakten und Argumente vor der Macht; Gleichheit vor dem Gesetz – und das Verbot, Minderheiten und Fremde zu diskriminieren; Toleranz – nicht nur im Ertragen der Vielfalt, sondern im aktiven Eintreten für die Freiheit anderer Völker, Kulturen und Religionen; Rechtsstaatlichkeit – u.a. Gewaltenteilung und -kontrolle, die Machtmissbrauch verhindern sollen; freie Meinungsäußerung – u.a. Freiheit der Presse; internationale Solidarität und Friedensarbeit – gegen den Egoismus einzelner Gruppen oder Nationen; Partizipation – alle Menschen dürfen an sozialen Prozessen teilhaben. Zusammengefasst: Demokratie und Menschenrechte. Das Meiste davon galt bisher in Europa und in Nordamerika, also im sogenannten Westen, als gesichert, wird heute jedoch von rechtspopulistischen Bewegungen und von autoritären Staatsmännern aktiv unterlaufen: in manchen Ländern Osteuropas, in der Türkei, in den USA – bald auch in Westeuropa?

Diese europäischen Werte sind christlich, insofern und weil sie dem biblischen Menschenbild, ja dem Evangelium entsprechen. Sind sie aber damit Sonderwerte, die sich nur religiös, also aus einem expliziten und persönlichen Gottesbezug heraus und somit „theologisch“ begründen lassen? Dürfen sie folglich Geltung nur für Angehörige dieser Religion beanspruchen? Nein, es sind emotional stark besetzte Vorstellungen, die – das ist der nicht unerhebliche Anspruch des Christentums – für alle Menschen hilfreich und heilsam, würdig und recht – und damit wünschenswert sind. Auch werden diese Werte in manchen Philosophien ohne Rückgriff auf Offenbarung begründet – deswegen können sie Allgemeingültigkeit beanspruchen. In säkularisierter Form sind sie – gleichsam zurecht – Allgemeingut westlicher Kultur geworden. Aus europäischer philosophischer oder christlich-theologischer Reflexion, die im Dialog mit den weltweiten Kulturen steht, kann die ganze Menschheit Werte lernen, die für sie weise und erstrebenswert sind. Zurecht dürfen und müssen Christen diese Werte für alle Menschen einfordern, aber nie moralisierend, sondern immer respektvoll und aufbauend.
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