Rezensionen: Kunst & Kultur

Lê Phan (Stefan Taeubner SJ): Die neuen Leiden des Mädchens Kiêu. Roman. Norderstedt: Books on Demand 2018, 516 S. Kt. 19,50.

Eine dramatische Liebesgeschichte ist dieser Roman auf einer ersten Ebene. Herausgerissen aus ihren dörflich familiären Lebensumständen in Vietnam werden zwei junge Menschen zunehmend in illegale und mafiöse Strukturen ihrer Landsleute in Ostdeutschland und Berlin Ende der 90er-Jahre verstrickt. Naiv und gutgläubig lässt sich Tinh unter falschen Versprechungen illegal nach Deutschland einschleusen. Mehr schlecht als recht verdient er mit illegalem Zigarettenhandel sein Geld. Ohne es recht zu wollen, gerät er in eine kriminelle Bande und deren Krieg mit Rivalen. Nga Kiêu fährt ihm nach und landet in der Prostitution, wird von einem Bordell ins andere verkauft.

Beide landen schließlich im Gefängnis. Als sie nach Jahren in ihre Heimat abgeschoben werden, können sie dort mit ihren schlimmen Erfahrungen kaum wieder Fuß fassen. Wie sich ihre verschlungenen Wege weiter entwickeln und ob sie jemals wieder zueinander finden, davon handelt der zweite Teil dieser faszinierenden Geschichte, die spannend von der ersten bis zur letzten Seite geschrieben ist.

Der Roman erzählt vom heutigen Leben und Leiden in der Fremde, von Liebe, Gewalt und Verzweiflung, aber auch von Glaube und Hoffnung, ganz aus der jeweiligen Perspektive der beiden Hauptpersonen. Das Werk ist zugleich eine mitreißende Schilderung von vietnamesischer Kultur, Lebensweise und Mentalität, sowie von der tiefen Frömmigkeit, dem kirchlichen Leben im heutigen Vietnam und von der Ressource „Spiritualität“ in menschlichen Extremsituationen.

Die faszinierende Geschichte zieht von der ersten bis zur letzten Seite in ihren Bann. Auch die dunklen und traurigen Erfahrungen werden klar benannt und erzählt. Dabei gleitet an keiner Stelle die Sprache ins Voyeuristische ab. So viel „Sex und Crime“ und dann wieder „fromme“ und biblische Themen zum Ertragen und vielleicht zur Bewältigung menschlicher Traumatisierungen so darzustellen, dass es nicht peinlich oder kitschig wird, das ist ein Wagnis. Doch die meisten Begebenheiten haben tatsächlich so stattgefunden, wie man im Nachwort lesen kann.

Verwoben in diese erste Ebene gibt es eine zweite. Da geht es um die Aufarbeitung von dieser Mischung aus Versagen, Schwachheit, Bosheit, Tragik und Schuld. Solches gelingt eben nie hundertprozentig. Spiritualität und Frömmigkeit helfen, sind aber kein Allheilmittel. Wie kommen fromme, vielleicht etwas naive, aber auf jeden Fall liebe und liebenswürdige Menschen dazu, sich auf solche Dinge einzulassen? Und wie kommen sie nach tiefer Verstrickung wieder heraus? Der Aufarbeitungsprozess der traumatisierten Kiêu läuft den ganzen dritten Teil entlang. Am Ende macht sie sogar noch einen spirituellen Unterscheidungsprozess mit – auch ziemlich gewagt in der Darstellung, aber durchaus ernst gemeint und überzeugend dargestellt.

Eine Geschichte von Glaube, Liebe und Hoffnung, von Christusbegegnung in Leid und Wiedererkennung: das ist das Buch neben der Liebes- und Kriminalgeschichte auch; und eine Beschreibung vietnamesischer Kultur, Geschichte und Frömmigkeit.

Der Autor Lê Phan, Stefan Taeubner, *1961 in Hamburg, ist katholischer Priester und Jesuit. Seit vielen Jahren arbeitet er als Seelsorger für Vietnamesen in Berlin, Tschechien und Sachsen und kennt die Situation, von der er schreibt, aus erster Hand. Aus dieser Erfahrung ist ihm ein spannender, umfassend-anrührender und faszinierender Roman gelungen.

Hermann Kügler SJ

  

Jan-Heiner Tück (Hg.): „Der große Niemand“. Religiöse Motive im literarischen Werk von Thomas Hürlimann. Freiburg: Herder 2018, 288 S. Gb. 24,–.

Der in Zug/Schweiz 1950 geborene und lange in Berlin wohnhafte Schriftsteller Thomas Hürlimann sieht zwischen Theologie und Literatur eine „Verwandtschaft“, die sich in fast allen seinen Werken widerspiegelt. In Wien hatte er auf Einladung von Jan-Heiner Tück 2016/17 die Poetikdozentur „Literatur und Religion“ inne und dabei selbst seinen Standort neu reflektieren können. Zum Abschluss der Dozentur fand in Hürlimanns Anwesenheit ein Symposium statt, dessen Beiträge nun ediert wurden. Mit dem Titel „Der große Niemand“ will der Herausgeber auf die Präsenz der Themen „Tod“ und „Theodizee“ in seinem erzählerischen und dramatischen Werk anspielen.

Der Sohn eines Schweizer Politikers (Bundesratspräsident) variiert in seinen Romanen und Novellen immer wieder seine Familienkonstellationen: seinen Vater, seinen verstorbenen Bruder, seine Mutter, die eine Zwillingstotgeburt hatte, seinen Priester-Onkel, seine katholische Erziehung in der Stiftsschule des Klosters Einsiedeln, seine teilweise jüdische Herkunft. Nietzsche folgend rebellierte er dort schon früh als Mitglied in einem „Club der Atheisten“, doch war die benediktinische Prägung durch die Farben- und Formensprache der Liturgie bleibender. Das Sterben des Bruders, das bei Hürlimanns Entwicklung zum Schriftsteller eine wichtige Rolle spielte, wird bereits in die frühen Erzählungen „Die Tessinerin“ (1981) eingeschoben. Die Novelle „Fräulein Stark“ (2001) über St. Gallener Internatserfahrungen hat beim Erscheinen ziemliche familiäre und lokalpolitische Turbulenzen ausgelöst. Dem häufigen Motiv Hürlimanns von den ohne Taufe verstorbenen Zwillingen seiner Mutter, die unter dem Trauma der kirchlichen Limbus-Lehre von der Vorhölle oder einem neutralen Zwischenzustand litt, gehen theologische Anmerkungen des Herausgebers nach. Allgemeiner Heilswille Gottes und Heilsnotwendigkeit der Taufe sind die beiden Pole, die erst durch Papst Benedikt XVI. erleichternd zusammenfinden.

Irmgard M. Wirtz (Bern) widmet sich den neu konzipierten Übersetzungen von Calderón de la Barcas „Großem Welttheater“. Hürlimann legt verstärkt Wert auf die Inszenierung exakter Zeitlichkeit und greift dafür öfter in den Wortlaut des Textes ein. Neu ist vor allem die Konzentration auf die spirituelle Bedeutung des Kreuzes. Der an einen schweren Unfall anknüpfende autobiografische Roman „Die Heimkehr“ erschien erst im Sommer 2018 und konnte noch nicht berücksichtigt werden.

Hürlimann erhält selbst das letzte Wort mit seinem zuerst im Dezember 2016 in der „Neuen Zürcher Zeitung“ erschienenen Text „Wer könnte das Eine nicht lieben?“ Da geht es poetisch u.a. um die Einheitsvision Augustins, die 14 Kreuzwegstationen und eine Hommage an Thomas von Aquin. Dieser ist Hürlimanns Namenspatron und der „wohl bedeutendste Theologe aller Zeiten“. Der Wiener Symposionsband mit kundigen Referaten vertieft und erweitert die Rezeption eines literarischen Werkes, bei dem Religiöses und Theologie nicht am Rande, sondern mit im Zentrum stehen. Thomas Hürlimann ist in seiner Breitenwirkung und literarischen Bedeutung inzwischen seinen Schweizer Dichterkollegen Max Frisch, Friedrich Dürrematt und Adolf Muschg ebenbürtig. Aber keiner – außer vielleicht der jenseits der Schweiz wenig bekannte Zürcher Dramaturg und Autor Herbert Meier (1928-2018) – hat mit so viel kreativer Innovation indirekt Christliches neu zur Sprache gebracht.

Stefan Hartmann

 

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