Abu Hanieh, Hassan / Abu Rumman, Mohammad: Dschihadistinnen. Faszination Märtyrertod. Bonn: Dietz 2018. 304 S. Kt. 22,–.
Die Frau im Dschihadismus: gedemütigtes Opfer eines religiösen Fanatismus, der ihr keine Rechte zuspricht; unterdrückt, geschlagen und missbraucht. Dies ist das dominierende Bild von der (muslimischen) Frau im Dschihadismus. Wer „Dschihadistinnen“ von Hassan Abu Hanieh und Mohammad Abu Rumman in die Hand nimmt, wird eines Besseren belehrt – „endlich!“ möchte man den Autoren dankbar zurufen. Endlich erscheint ein Buch, das die andere Hälfte der Dschihadisten gründlich in den Blick nimmt: die Frauen – die Schwestern, Töchter und Mütter.
Durch fundiertes Wissen und wertvolle Arbeit an arabischen Quellen leuchtet es diesen soziologischen Dunkelraum gründlich aus. So mag sich auch der informierte Leser erstaunt die Augen reiben, wenn von der mächtigen Chefideologin und Rechtsgelehrten des sog. Islamischen Staates (IS), Iman al-Bugha, die Rede ist, die bisher in der deutschen Fachwelt fast unbekannt ist. Für Abu Hanieh und Abu Rumman stellt sie nur ein Beispiel überzeugter, mächtiger Dschihadistinnen vor allem im „IS-Kalifat“ dar.
Wie stark die Frauen vor allem in der IS-Ideologie angesprochen und eingebunden werden, belegt das Buch eindrucksvoll. Und wie sehr diese neue Interpretation des Dschihads als „Anstrengung“ für Gläubige beiderlei Geschlechts propagiert wird. Nicht nur im Internet sind und waren Frauen aktiv und einflussreich als Teil eines elektronischen IS-Propaganda-Heeres. Das „Kalifat“ als Staatsbildungsprojekt setzt sie auch in Ministerien, bei der gefürchteten Religionspolizei und in Schulen für den Aufbau seines Gesellschaftsentwurfs ein. Sie stehen ihren männlichen Geschlechtsgenossen an Grausamkeit, fundamentalistischer Strenge und religiösem Eifer in nichts nach. Interessant ist, dass dieser Interpretationswandel hin zur gesellschaftlich aktiven Rolle der Frau – den der IS-Dschihadismus in Abgrenzung und Weiterentwicklung gegenüber al-Qaida vollzieht und den die Autoren im ersten Teil des Buches quellenstark nachzeichnen – in der islamischen Tradition durchaus anknüpfungsfähig ist. Bereits zu Zeiten Mohammeds lebten starke Frauen, die für den Islam kämpften und großes Ansehen genossen; Frauen, die ihre Männer und Söhne für die Schlacht ermutigten und mit der Kindererziehung das Fundament für die nächste Generation tapferer, todesverachtender Gotteskämpfer legte.
Dass Frauen zu Löwinnen werden können und im religiösen Eifer ihre eigenen Kinder gnadenlos zu Kampf und Tod erziehen, lehrt uns eindrucksvoll dieses Buch. Und wie die Autoren im zweiten Teil mit Fallstudien über Dschihadistinnen belegen, sind die meisten dieser Frauen, gerade aus dem Westen, weder ungebildet, noch in Armut aufgewachsen oder rein an Heirat interessiert. Im Gegenteil: Sie sind überdurchschnittlich gebildet und empfinden ein Gesellschaftsmodell mit festen Geschlechterrollen, in dem jedes Mitglied seinen Platz und Einfluss(!) im Namen Gottes findet, attraktiv. Und Männer, die nicht den Märtyrertod im Namen dieses Gottesbildes suchen, werden von diesen Frauen als schwächlich lächerlich gemacht – das spornt Mann im Kampf besonders an.
Diese Einstellung sollte uns besonders im Umgang mit IS-Rückkehrerinnen nach Deutschland zu denken geben. Sie sind nicht immer unterdrückte Opfer, sondern auch überzeugte Täterinnen mit Kindern, die sie erziehen. Ihre Macht liegt daher in der Gegenwart und in der Zukunft – das dies eine Tatsache und kein Klischee ist, zeigt uns das Buch. Nun ist es an uns, vor allem politisch die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen, im Okzident und Orient.
Evelyn Bokler
Jung, Volker: Digital Mensch bleiben. München: Claudius 2018 (22019). 136 S. Gb. 14,–.
Es gibt sie derzeit zuhauf: Abhandlungen darüber, was die Digitalisierung in welchen Bereichen wie verändert. Wenige jedoch buchstabieren die Auswirkungen für das Menschsein im christlichen Kontext aus. Volker Jung, Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche in Hessen-Nassau (EKHN) fasst die soziologischen, ethischen und politischen Debattenstränge ein wenig zusammen und leitet daraus eine klare Botschaft ab. Seine Einschätzung ist die eines Theologen, der immer wieder anthropologische Fragestellungen aufwirft und die ökonomischen Technik- und Vermessungsgläubigkeit aus dem Silicon Valley abkanzelt.
Im ersten Abschnitt („Energie aus dem Tal“) legt er dar, woher und wie „eine große Veränderungsdynamik wirksam ist“ (17). Die Begriffe „disruptiv“, „transformatorisch“ sowie die Metapher „4.0“, allenthalben gebraucht, wenn es um die Umwälzungen des Digitalen geht, greift er auf, ohne dabei kulturpessimistisch oder technikeuphorisch zu argumentieren. Es geht dem Autor um einen kritisch-sachlichen Blick, den er im zweiten Abschnitt („Erlösungsfantasien“) konkretisiert, indem er Yuval Noah Hararis Grundidee in „Homo Deus“ widerspricht. Jung ist nicht der Meinung, dass sich der Mensch, allmählich gottgleich werdend, mithilfe digitaler Techniken alle Fähigkeiten, Sehnsüchte und Fantasien erfüllen (lassen) kann. Ihm geht es in theologischer Sicht um einen Rückgriff auf die religiöse Überlieferung, die der israelische Historiker hingegen für obsolet hält. Wenn Harari meine, „religiöse Überlieferung habe keine Substanz, die hilft, diese Welt und das Leben zu deuten, zu verstehen und so Menschen zu orientieren“ (36), ist das für Jung zu kurz gedacht.
All die Möglichkeiten und Dominanz der Technik, so der Theologe, dürfe nicht dazu führen, „dass der Mensch sich selbst erlöst“ (39). Im dritten, größeren Abschnitt geht der promovierte Theologe auf technische Entwicklungen in verschiedenen Lebensbereichen ein. Er skizziert die Veränderung der Kommunikation mittels Algorithmen und die Implikationen von Vernetzung im Alltag der Menschen. In kurzen Kapiteln zu „Kommunikation immer und überall“, „vernetztes Leben“, „Industrie und Arbeit 4.0“, „Digitale Medizin“ und „Künstliche Intelligenz“ beschreibt er die Herausforderungen, die sich für den Einzelnen ergeben. Der Mensch müsse, so seine Hauptaussage, mit den digitalen Techniken emanzipativ umgehen lernen. Zwei Beispiele hierfür: Mit einem kritischen Blick auf das Trendthema Big Data gelte es zu zeigen, dass der „Mensch mehr als die Summe seiner Daten“ (86) ist. Zudem dürfe man sich im reflektierten Umgang mit Sozialen Medien „keineswegs darauf beschränken zu sagen: Das ist halt so im Netz.“ (60) Im letzten Abschnitt zeigt der Autor konkret Möglichkeiten auf („Was jetzt zu tun ist“). Hier betont er den Stellenwert einer Bildung, die auf Persönlichkeitsbildung und Werteerziehung ebenso wie auf die Reformulierung anthropologischer Fragen („was uns als Menschen kennzeichnet“, 99) setzt.
Jungs unaufgeregtes Büchlein fordert dazu heraus, die Zukunftsvisionen rund um die aktuellen Transhumanismus-Diskussionen aus anthropologisch-theologischer Perspektive neu zu denken. Der klare Appell an die Politik, alle ethisch relevanten Fragestellungen zu berücksichtigen, ist unüberhörbar. Nur dann könne gelten: „Digitalisierung nicht einfach geschehen lassen. Sie muss gestaltet werden“ (15). Dieser Appell war von Volker Jung auch kurz nach Erscheinen des Buchs auf dem vierten „Frank-Schirrmacher-Forum“ zu hören, das ihn unter der Fragestellung „Ethik 4.0 – Auf Augenhöhe mit der digitalen Revolution?“ eingeladen hatte. Er machte einmal mehr deutlich: „Ob wir in der digitalen Welt Mensch bleiben, ist weit mehr als eine individuelle Frage. Es ist eine hochpolitische Frage“ (130).
Markus Reinisch
Bauer, Thomas: Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust von Mehrdeutigkeit und Vielfalt. Dietzingen: Reclam 2018. 104 S. Kt. 6,– / 128 S.
Gb. 12,–.
Gemeinhin versteht man unter „Ambiguitätstoleranz“ die Fähigkeit, Mehrdeutigkeiten, unauflösbare Widersprüche sowie unvermeidbare Unsicherheiten auszuhalten. „Ambiguitätsintoleranz“ hingegen scheint, beflügelt durch das Internet, immer mehr ein Zeichen der Zeit zu werden. Gefragt sind Eindeutigkeit, Meinungsstärke in Kombination mit der Bereitschaft zu authentischer Gefühlsäußerung. Der Islamwissenschaftler Thomas Bauer hat diesem Phänomen ein Buch gewidmet, das innerhalb von einem Jahr nun schon in der 8. Auflage erscheint. Offensichtlich hat er mit dem Thema einen Nerv getroffen.
Wer Eindeutigkeit im Selbst- und Weltverständnis erreichen will, wird darauf bestehen, dass es 1. nur eine Wahrheit gibt; dass sie 2. überzeitlich besteht und dass sie 3. rein ist von allen verundeutlichenden Elementen. Um zu diesem Zustand der Eindeutigkeit zu gelangen, muss Ambiguität bekämpft und abgeschafft werden. Dazu gibt es zwei mögliche Wege: „Entweder existiert Ambiguität dann nicht, wenn etwas nur eine einzige Bedeutung hat, oder wenn es gar keine Bedeutung hat“ (29). Die eine Möglichkeit führt zum Pol des Fundamentalismus, die andere Möglichkeit zum Pol der Gleichgültigkeit.
Ambiguitätstoleranz ist eine unabdingbare Voraussetzung für das Gedeihen von Kunst und Religion. Gerade im Falle der Religion verhält es sich so, weil sie es mit dem Transzendenten zu tun hat, das sich niemals restlos in Eindeutigkeit auflösen lässt, und weil sie es zum anderen horizontal wie vertikal mit Kommunikation zu tun hat, die immer an geschichtliche und persönliche Kontexte gebunden ist. Die Texte der Hochreligionen zeichnen sich durch hohe Ambiguität aus. Religion ist also recht eigentlich, ähnlich wie Kunst, „Rückzugsgebiet für Ambiguität“ (61). Religiöser Fundamentalismus und religiöse Gleichgültigkeit hingegen hängen mit der gestiegenen Ambiguitätsintoleranz zusammen, die eine „durchbürokratisierte, hochtechnisierte und kapitalistische Gesellschaft“ (40) auszeichnet. Im Fall des Fundamentalismus wird die Ambiguität geleugnet, im Fall der Gleichgültigkeit wird sie vermieden zugunsten eines eindeutig berechenbaren Orientierungswissens, wie es besonders effektiv der freie Markt zur Verfügung stellen kann. Denn wer den Preis kennt, kennt auch den Wert.
Bauer veranschaulicht seine Analyse an Beispielen aus der jüngeren Musikgeschichte und aus der Kunstszene, an der Suche nach dem „wahren Selbst“, an den performativen Widersprüchen totalitärer Ideologien und schließlich auch an den enthumanisierenden Eindeutigkeitsverheißungen der transhumanistischen Phantasien. „Je mehr Energie für die Beseitigung von Ambiguität aufgewendet wird, desto mehr Ambiguität entsteht im Verhältnis zur jeweils beseitigten Ambiguität“ (76). Dass es sich so verhält, hängt mit der conditio humana zusammen, und das ist eine beglückende Erkenntnis: Ambiguität ist ein Markenzeichen des Menschlichen.
Klaus Mertes SJ
Rainer Bucher: Christentum im Kapitalismus. Wider die gewinnorientierte Verwaltung der Welt. Würzburg: echter 2019. 224 S. Gb. 19,90.
Georg Simmel schreibt in seiner 1900 erschienenen Philosophie des Geldes: „Der Gottesgedanke hat sein tieferes Wesen darin, dass alle Mannigfaltigkeiten und Gegensätze der Welt in ihm zur Einheit gelangen, dass er nach dem schönen Worte des Nikolaus von Kusa die coincidentia oppositorum ist.“ Ebenso verhält es sich mit dem Geld: „Indem das Geld immer mehr zum absolut zureichenden Ausdruck und Äquivalent aller Werte wird, erhebt es sich zu abstrakter Höhe über die ganze weite Mannigfaltigkeit der Objekte, es wird zu dem Zentrum, in dem die entgegengesetztesten, fremdesten, fernsten Dinge ihr Gemeinsames finden und sich berühren; damit gewährt tatsächlich auch das Geld jene Erhebung über das Einzelne, jenes Zutrauen in seine Allmacht wie in die eines höchsten Prinzips, uns dieses Einzelne und Niedrige in jedem einzelnen Augenblick gewähren, sich gleichsam wieder in dieses umsetzen zu können“ (57 f.). Gott und Mammon stehen einander gegenüber als Prinzipien des Universellen. Nach dem Siegeszug der Säkularisierung über die „Pastoralmacht“ (Foucault) der Kirche hat nun, so (nicht nur) Bucher, der Kapitalismus den globalen Hegemonieanspruch übernommen, nicht „nur“ ökonomisch, sondern vor allem auch kulturell: Hegemonie über die „Subjektwerdung des Einzelnen“ (49), die Gefühlswelt. „Christentum im Kapitalismus“ ist also religiös herausgefordert.
Bucher sortiert und würdigt die Reaktionen auf diesen Befund: Vom „Kapitalismus als Religion“ über die „kapitalismusaffinen Aufsteigerreligionen“, das „christdemokratische Arrangement“, die religiös inspirierten „radikal-reformerischen Kapitalismusalternativen“ (hier verortet er Papst Franziskus) bis hin zur „fundamentalistischen Kapitalismus-Opposition“, der „kleine hässliche Bruder“ des kulturell hegemonialen Kapitalismus (vgl. 67ff) – sowie die Reaktionen der katholischen Theologie (74-96). Einerseits schreibt sich der Kapitalismus als kultureller Hegemon dekonstruierend in die Theologie ein, andererseits tauchen alte religiöse Konzepte agnostisch gewendet wieder auf, zuletzt bemerkenswert in Hartmut Rosas Kritik der „Schließung der Weltporen“ durch den Kapitalismus, dem er die Öffnung der Poren in Resonanzbeziehungen entgegenstellt. Für Bucher ist das allerdings „kein Ausweg aus den Zumutungen des kulturell hegemonialen Kapitalismus“ (94).
Damit ist der Boden bereitet für Perspektiven, denen Bucher mehr Sympathie entgegenbringt: Postmoderne Marxisten entdecken das Christentum (97-116), prophetische Stimmen in der Christenheit melden sich zu Wort (117-140). Jenseits von bloßer Affirmation der Hegemonie oder von reaktionären Utopien zeigt der Autor Perspektiven auf (141-178). „Selbst die Feindschaft ihrer Gegner und Verfolger, so gesteht die Kirche, war für sie sehr nützlich und wird es bleiben“, wird Gaudium et Spes 44 zitiert (156). Kein Anlass also für Jammern und Klagen. Der Kapitalismus scheitert an seiner inneren Leere in dem Maße, wie er versucht, die kulturelle Hegemonie an sich zu ziehen. Das Geld ist eben doch nicht Gott.
Klaus Mertes SJ