Am 20. Mai 2019 haben die Katholischen Bischöfe des Heiligen Landes eine Stellungnahme mit dem Titel „Gerechtigkeit und Frieden werden sich küssen“ veröffentlicht. Diese neue Erklärung richtet erneut die Aufmerksamkeit nicht nur auf den Jahrzehnte währenden Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern im Heiligen Land, sondern auch auf die christlichen Palästinenser und ihre Rolle in dem Konflikt. Die Stellungnahme verdient eine aufmerksame Lektüre, da sie die Sorgen der christlichen Palästinenser zu diesem Zeitpunkt offenlegt:
Die neueren Entwicklungen im Palästina-Israel Kontext, der fortdauernde Verlust von Menschenleben, der andauernde Schwund einer Hoffnung auf eine dauerhafte Lösung und das Versagen der internationalen Gemeinschaft, auf die Anwendung internationalen Rechtes zu bestehen, um die Völker des Landes vor weiterem Streit und weiterer Verzweiflung zu bewahren, haben einen Punkt erreicht, an dem wir mehr Extremismus und Diskriminierung wahrnehmen. Selbst diejenigen, die sich einmal als Hüter der Demokratie und Förderer des Friedens ausgaben, haben sich zu Kämpfern um Macht [engl. „powerbroker“] und parteiische Teilnehmer am Konflikt entwickelt.
Dies hat viele zu der Frage geführt, ob die internationale Diplomatie und der Friedensprozess überhaupt auf Gerechtigkeit und guten Willen gestützt waren. Viele in Palästina und Israel fühlen, dass ihr Leben seit der Ankurbelung des Friedensprozesses immer unerträglicher geworden ist. Viele sind ausgewandert, viele weitere erwägen die Auswanderung und manche sehen ihren Ausweg in der Gewalt. Manche sterben friedlich und andere verlieren Glaube und Hoffnung.
Im Rückblick auf die letzten Jahrzehnte, in denen uns Friede und Versöhnung versprochen wurden, es jedoch nur zu mehr Hass und Unterdrückung, Korruption und Demagogie kam, ist es Zeit für die Kirchen und die geistlichen Führer, einen anderen Weg aufzuzeigen und mit Nachdruck darauf zu verweisen, dass alle, Israelis und Palästinenser, Brüder und Schwestern innerhalb der Menschheitsfamilie sind. Die Kirchen vertreten den Standpunkt, dass wir einander lieben und in wechselseitigem Respekt und als Gleiche miteinander leben können, gleich in Rechten und Pflichten in diesem selben Land. Dies ist nicht bloß ein Traum, sondern die kraftvolle Grundlage einer Vision, die schon unsere Vorfahren, die Propheten, bewegte.
Nur ein auf Würde, wechselseitiger Achtung und Gleichheit als menschliche Wesen gegründeter Friede wird uns retten, wird uns erlauben, zu überleben und sogar anspornen in diesem Land, das das Zeugnis unserer Vorfahren, der Patriarchen und Propheten geheiligt hat und das wir weiter heiligen durch unseren Einsatz für Gerechtigkeit, unseren Durst nach Frieden und die gegenseitige Liebe, die wir einander erweisen. Wir brauchen eine neue Orientierung, eine neue Erziehung und eine neue Vision für dieses Land und die beiden Völker, die hier leben.
Wir, die Leiter der katholischen Kirchen im Heiligen Land, stehen auf der Seite aller, die in diesem Lande leben, und zwar zunächst und vor allem als Menschen. Wir versuchen, einen Weg heraus aus einer andauernden Lage von Krieg, Hass und Tod aufzuzeigen. Wir versuchen einen Weg zu einem neuen Leben in diesem Lande aufzuzeigen, der auf die Prinzipien von Gleichheit und Liebe begründet ist. Wir betonen, dass jede Lösung – ohne Unterschied – auf das Allgemeinwohl aller gegründet sein muss, die in diesem Lande leben.
Wir rufen die Christen in Palästina-Israel auf, ihre Stimme mit Juden, Muslimen, Drusen und allen anderen zu vereinen, die diese Sicht einer auf Gleichheit und dem Allgemeinwohl gegründeten Gesellschaft teilen, und laden alle ein, Brücken welchselseitigen Respekts und wechselseitiger Liebe zu schlagen. Der Vorschlag einer Zwei-Staaten-Lösung hat zu nichts geführt und wird ohne jede Aussicht auf Verwirklichung wiederholt. In der Tat erscheint alle Rede von politischen Lösungen in der gegenwärtigen Situation als leere Rhetorik.
Wir setzen uns deswegen für eine Zukunftsvision ein, nach der jeder Mensch in diesem Heiligen Land volle Gleichheit besitzt, eine Gleichheit, die allen Männern und Frauen zukommt, die in gleicher Würde nach Gottes Bild und Gleichnis geschaffen sind. Wir glauben, dass Gleichheit jenseits aller politischen Lösungen, die gefunden werden mögen, eine grundlegende und dauerhafte Bedingung für einen gerechten und dauerhaften Frieden darstellt.
Wir haben in diesem Land in der Vergangenheit zusammengelebt, warum sollten wir nicht auch in der Zukunft zusammenleben? Dies ist unsere Vision für Jerusalem und das ganze Land, das Israel und Palästina genannt wird, zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer.
Hüter der Hoffnung
Angesichts der Verzweiflung, die ihre Gläubigen oft beherrscht und zu der Versuchung führt, sich aus der Gesellschaft zurückzuziehen und das Land ihrer Väter zu verlassen, geben die Hirten dieser Verzweiflung nicht nach, sondern formulieren eine Vision für die Zukunft und die Umrisse eines Kampfes um diese Vision. Im Heiligen Land von heute, Israel/Palästina, haben die Christen eine Berufung, Hüter der Hoffnung zu sein.
Stolz darauf, zu den direkten Nachkommen der Mutterkirche von Jerusalem zu gehören, bilden die palästinensischen Christen einen integralen Anteil des palästinischen Volkes, das seit der Mitte des 20. Jhd. vielerlei Unbill und Tragödie erlebt hat aufgrund des Konfliktes, der jüdische Israelis gegen palästinische Araber im Heiligen Land aufbrachte. Christliche Palästinenser bilden einen sehr kleinen Teil der Bevölkerung sowohl in Israel (ca. 2%) als auch in Palästina (unter 2%). Sie gehören zu einer Vielfalt von Konfessionen, wovon die Griechisch-Orthodoxen, die Griechisch-Katholischen, die Römisch-Katholischen und eine Vielfalt christlicher Ostkirchen den Hauptanteil bilden neben einer kleinen, aber einflussreichen Gruppe protestantischer Gemeinden und evangelikaler Gruppen. Während die überwiegende Mehrheit der Palästinenser Muslime sind, haben Christen doch stets eine bedeutende Rolle im Leben des Volkes gespielt. Christen bildeten etwa 10% der Bevölkerung 1948, doch leben heute die meisten christlichen Palästinenser in einer weitgestreuten Diaspora in den benachbarten arabischen Staaten und in der ganzen Welt.
Christen waren in der zweiten Hälfe des 19. Jahrhunderts und im frühen 20. Jahrhundert an der arabischen kulturellen, sozialen und politischen Renaissance beteiligt. Unter ihnen trugen prominente Denker, Schriftsteller, Dichter, Journalisten und Erzieher zur Formulierung zeitgenössischer arabischer Identität und Eigenart bei. Christen waren auch führend bei der Entwicklung der palästinensischen nationalen Bewegung und ihrer politischen Leitung beteiligt, die nach dem Ersten Weltkrieg den Volkswiderstand sowohl gegen die britische Kolonialherrschaft als auch die Entwicklung jüdischer zionistischer Institutionen mit britischer Unterstützung führte. In der nationalen Bewegung engagierte Christen förderten den Dialog und die Zusammenarbeit mit Muslimen im gemeinsamen Kampf zur Befreiung ihres Heimatlandes von Fremdherrschaft. Christen förderten auch eine zivile Identität, die Christen und Muslime befähigen sollte, als Gleiche in der Gesellschaft und in einem unabhängigen säkularen und demokratischen Staat zusammenzukommen. Bei dieser Aufgabe spielten christliche Institutionen in Palästina, besonders das Netzwerk von Schulen für Christen und Muslime, eine bedeutende Rolle.
Nach der Gründung des Staates Israel auf 78% des Gebietes des historischen Palästina (die übrigen 22% waren durch Jordanien und Ägypten besetzt) wurden viele Palästinenser, Christen und Muslime in gleicher Weise, über Nacht Flüchtlinge unter Verlust ihrer Heimat und ihrer Lebensgrundlagen. Städte, Dörfer und Stadtteile, in denen Christen und Muslime zusammengelebt hatten, wurden evakuiert und neu mit Juden bevölkert oder zerstört. Palästinenser fanden sich zerstreut auf drei verschiedene Bereiche: als eine Minderheit in Israel, das sich als jüdischer Staat definierte, als Einwohner und Flüchtlinge in den palästinischen Gebieten, die von Jordanien regiert wurden (die West Bank mit Ostjerusalem) und Ägypten (dem Gazastreifen) sowie als Flüchtlinge in einer weit verstreuten Diaspora (innerhalb der arabischen Welt und darüber hinaus).
In den 1950er- und 1960er-Jahren spielten Christen eine Rolle innerhalb der wachsenden Bewegung, die die Palästinafrage dem Weltbewusstsein nahezubringen suchte. Die Ereignisse von 1948 wurden gemeinhin als Katastrophe angesehen (der dafür verwendete arabische Ausdruck ist „nakbah“) und die Fluchterfahrung wurde für die ganze Bevölkerung charakteristisch, selbst für solche, die hartnäckig an ihrer Scholle festhielten. Als die palästinensische nationale Bewegung Schwung bekam und in der Mitte der 60er-Jahre zur Bildung der Palästinensischen Befreiungsbewegung (PLO) führte, spielten Christen eine führende Rolle in der PLO und förderten die Errichtung eines palästinensischen Staates. Linke Gruppierungen, die sich für Säkularismus und Marxismus-Leninismus einsetzten, wie die Volksfront zur Befreiung Palästinas und die Demokratische Front zur Befreiung Palästinas, wurden jeweils von den Christen George Habash und Naef Hawatmeh gegründet.
Der langjährige palästinensische Anführer Yasser Arafat und sein Nachfolger Mahmoud Abbas haben herausragende Führungsrollen entschlossen mit Christen besetzt unter Berufung auf die Einheit der Palästinenser, seien sie nun Muslime oder Christen. Bei den Ereignissen, die zu den Oslo-Abkommen in den frühen 90er-Jahren und zur Rückkehr Yasser Arafats in die West Bank führten, war und blieb Hanan Ashrawi, christliche Politikerin und Intellektuelle, eine der redegewandtesten Fürsprecherinnen der palästinensischen Sache. Heute gibt es in der von Mahmoud Abbas geführten Regierung der Palästinensischen Autonomie vier christliche Minister. Gleichzeitig behalten größere Städte wie Bethlehem und Ramallah trotz muslimischer Bevölkerungsmehrheit den Brauch, christliche Bürgermeister zu stellen, die auch den christlichen Einfluss in der Gesellschaft sichern. Dabei haben sich Christen nicht nur in der Politik, sondern auch in der Kultur profiliert, vor allem in der Literatur, im Film und in der Presse. Einige der prominentesten Abhandlungen über die Palästinenser als Volk sind von christlichen nationalistischen Autoren wie George Antonius vor 1948 und Edward Said nach 1948 verfasst worden.
Als Nicht-Juden in einem jüdischen Staat
Die Palästinenser, die nach 1948 im Staat Israel verblieben, wurden unter Militärregime gestellt, das zu Beginn von 1966 abgeschafft wurde. Doch auch heute protestieren Palästinenser gegen ihre Rolle als Bürger Zweiter Klasse. Obwohl sie politisch voll integriert sind, unterliegen sie doch verschiedenen Formen von sozialer, wirtschaftlicher und entwicklungspolitischer Diskriminierung als „Nicht-Juden“ in einem jüdischen Staat. In den frühen Jahren des Staates Israel kamen Christen und Muslime mit einigen Juden zusammen, um innerhalb der Israelischen Kommunistischen Partei gemeinsam für Gleichheit zu kämpfen. In den folgenden Jahren zersplitterte sich die politische Führungsriege der arabischen Bürger Israels in verschiedene politische Parteien, die gleichwohl vereint blieben im Kampf um bürgerliche Gleichheit aller Bürger und um das Recht des palästinensischen Volkes auf Selbstbestimmung. Christliche palästinensische Bürger haben in den vergangenen siebzig Jahren eine bedeutende Rolle in diesem Kampf gespielt und gehörten zu den Gründungsmitgliedern bedeutender politischer Parteien wie Hadash (die Demokratische Front für Frieden und Gleichheit) und Balad (die Demokratische Nationale Allianz), die im israelischen Parlament für Gleichheit und Frieden kämpfen.
In den frühen Jahren spielte innerhalb der palästinischen nationalen Bewegung die religiöse Identität, d.h. ob einer Christ oder Muslim war, eine untergeordnete Rolle gegenüber der gemeinsamen nationalen Identität als Wurzel des gemeinsamen Kampfes. Nach dem Krieg von 1967 wurde religiöser Aufstand Teil der Reaktion auf eine weitere Katastrophe, in der die israelische Armee die Streitkräfte der umliegenden arabischen Staaten besiegte. Im Verlauf dieses Krieges besetzte Israel den verbleibenden Teil des palästinensischen Gebietes. Säkulare arabische nationalistische Ideologien und die Führungsschicht, die sie hervorgebracht hatte, wurden weitgehend als Fehlschlag angesehen, da sie diktatorische Regierungen, oft dazu noch korrupte, hervorgebracht hatten. Die Rückkehr zur Religion bedeutete nicht nur Trost, sondern auch eine Suche nach politischen Alternativen. Zu Beginn des ersten Volksaufstands im Dezember 1987 gegen die israelische Besetzung der 1967 eroberten Gebiete hatte die islamische Bewegung in den besetzten palästinensischen Gebieten und in Israel ihre eigenen politischen Strukturen aufgebaut und damit begonnen, die säkulare palästinensische Führungsschicht herauszufordern. Das Bestehen auf islamischer Symbolwelt und Sprache führte zu Unbehagen unter den Christen, da diese darin eine Bedrohung der nationalen Einheit sahen, die im Einsatz für Säkularismus vonseiten von Christen und Muslimen zum Ausdruck gekommen war.
Im ersten Aufstand, bekannt als die intifada, gegen die israelische Besetzung der West Bank und des Gazastreifens, der 1987 begann, spielten Christen eine bedeutende Rolle im Widerstand durch Formen bürgerlichen Ungehorsams wie der Weigerung, Steuern zu zahlen, eingeführt durch die Bürger der vorwiegend christlichen Stadt Beit Sahour. Die Leitung der Kirchen in Jerusalem hatte einen bemerkenswerten Prozess der Indigenisierung durchlaufen. Langsam, aber stetig hatten Palästinenser Ausländer in Führungspositionen ersetzt, beginnend in den frühen 70er-Jahren mit den Anglikanischen und Lutherischen Kirchen und fortgesetzt 1987 mit der Katholischen Kirche. Ende der 80er-Jahre begannen die Kirchenleitungen, offener über Fragen von Gerechtigkeit und Frieden im Heiligen Land zu sprechen und so auch das Bewusstsein der internationalen Gemeinschaft zu wecken. Christliche palästinensische Theologen begannen die Schrift innerhalb eines palästinensischen Kontextes und spezifisch des Kampfes um nationale Befreiung auszulegen und versuchten die Christen weltweit zur Unterstützung des Kampfes für ein freies und demokratisches Palästina zu mobilisieren. Der Kampf war schwierig, da die Palästinenser die Bibel aus der Vereinnahmung von jüdischen und christlichen Zionisten befreien mussten, die den jüdischen Anspruch auf Palästina auf den Bibeltext und die Leiden der Juden in Europa gründen.
Die politischen Prozesse, die im Anschluss an die erste Intifada zur Gründung der Palästinensischen Autonomiebehörde geführt hatten und bei vielen als Aufblühen einer neuen Ära der Hoffnung begrüßt worden waren, kamen Ende der 90er-Jahre zum Erliegen. Schließich und endlich verfolgten die Israelis die Errichtung eines Palästinenserstaates entlang der Grenzen Israels nicht weiter. Ein zweiter Volksaufstand brach 2000 aus, als der rechte Likud-Parteiführer Ariel Scharon, der kurz darauf zum Ministerpräsidenten gewählt wurde, darauf bestand, den Haram al-Sharif (von den Juden als „Tempelberg“ bezeichnet) zu betreten. Dieser Aufstand belegt das Ausmaß, in dem der Kampf gegen die israelische Besatzung islamisiert worden war, sowohl rednerisch als auch strategisch. Viele Christen blieben reserviert gegenüber der extremen Gewaltsamkeit des palästinensischen Widerstandes, die auch zu einer Reihe von Selbstmordattentaten führten. Die Bedeutung politisierter Religion hat in den vergangenen zwanzig Jahren sowohl unter extremistischen jüdischen Israelis als auch unter palästinensischen Muslimen zugenommen. Die christliche Antwort blieb unterschiedlich. Es gibt solche, die resigniert haben und auszuwandern suchen, indem sie entweder ihr Vaterland verlassen oder sich aus dem öffentlichen Bereich zurückziehen, indem sie Zuflucht in geschlossenen christlichen Nachbarschaften, Institutionen und Clubs suchen, wo der Kontakt mit der Außenwelt sehr reduziert bleibt. Es gab auch eine volksnahe christliche Neuerweckung religiöser Frömmigkeit und die Anziehungskraft von religiösen Gruppen, unter ihnen auch den Evangelikalen, die eine geistliche Befreiung von den harten Realitäten des täglichen Lebens unter der Besatzung in der West Bank und in Gaza und dem andauernden Kampf gegen die fortdauernde Diskriminierung in Israel versprechen.
Am Rande der christlichen palästinensischen Gesellschaft stehen solche in Israel, die bereit sind, ihre palästinensisch-arabische Identität aufzugeben, in der Hoffnung, von der jüdischen israelischen Gesellschaft willkommengeheißen zu werden. Diese Identifizierung mit der jüdischen israelischen Gesellschaft geht öfter mit einer Verächtlichmachung ihrer muslimischen Landsleute als intolerante Fanatiker einher, bei gleichzeitigem Beifall für den westlichen Gesellschafsstil, den sich Juden in Israel angeeignet haben. Das israelische Establishment hat Christen aktiv dazu ermutigt, sich für einen Militärdienst in Israel zu entscheiden und sich als Nicht-Araber registrieren zu lassen, wobei sie gelegentlich eine „aramäische“ statt einer palästinensisch-arabischen Identität angeben. Eine ähnliche Politik wurde in den 50er-Jahren gegenüber den drusischen palästinensischen Bürgern Israels betrieben, die dazu ermutigte, sich in der israelischen Armee einschreiben zu lassen (der Militärdienst wurde 1956 für Drusen obligatorisch) und sich einfach als Drusen (statt Arabern) auszugeben. Die volle Assimilierung in der jüdischen israelischen Gesellschaft und der Erwerb gleicher Rechte wurde freilich unterlaufen durch das Insistieren des Staats auf seinem jüdischen Charakter, der in dem „Jewish State Law“ vom Juli 2018 bekräftigt wurde, das die zentrale Rolle der jüdischen Identität und der hebräischen Sprache unterstrich. Die Drusen organisierten massive Proteste gegen das Gesetz, während andere arabische Bürger in ihm einen weiteren Beweis dafür sahen, dass ein als jüdisch definierter Staat seinen arabischen Bürgern keine Gleichberechtigung gewähren würde.
Christen im Kampf um Frieden und Gerechtigkeit
Wahlergebnisse in Israel und Analysen politischer Meinungen in Israel und Palästina zeigen, dass sich die meisten christlichen Palästinenser als palästinensische Araber verstehen und dass sie politische Parteien unterstützen, die eine friedliche Lösung des Konflikts und volle bürgerliche Gleichheit in den beiden politischen Gebilden fördern. Die palästinensische Bewegung „Kairos“, die aus dem gleichnamigen von Christen veröffentlichten Dokument von 2009 hervorgegangen ist, bezeugt diese Ausrichtung. Was könnte der spezifische Beitrag von Christen beim Kampf für Frieden und Gerechtigkeit heute sein?
Erstens, die christlich-palästinensische Perspektive wird im Rahmen der palästinensischen und israelischen Gesellschaft formuliert. Von dort aus sind die Christen dazu aufgerufen, eine prophetische Botschaft auszurichten, die Stereotypen zu Fall bringt, und eine Kultur des Dialogs zu fördern, die sich auf die Menschlichkeit des anderen stützt. Die Christen sind ständig von der Kirche eingeladen, Sauerteig in der Gesellschaft zu sein, keine Isolierung oder Trennung von Muslimen und Juden zu suchen, sondern den ihnen zustehenden Platz als Mitbürger in der Gesellschaft auszufüllen und ihre Vision einer Gesellschaft zum Ausdruck zu bringen, die auf Werten gründet, die jedem einzelnen Achtung zusichern. Der Päpstliche Rat für Gerechtigkeit und Frieden sah es so:
„Die Christen sind nicht eine Brücke zwischen den beiden Parteien des Konflikts, sondern eher ein Sauerteig innerhalb der Gesellschaft, zu der sie gehören, wobei sie eine Sicht des Lebens pflegen, die dem Evangelium entspricht. Sie sind nicht dazu aufgerufen, sich gegenüber ihren Landsleuten zu verschließen, sondern eher ermutigt, eine aktive Rolle in der Gesellschaft zu spielen, indem sie eine Sicht des Menschen und der Gesellschaft fördern, die auf die Werte des Evangeliums gegründet ist“
(The present conflict in the Holy Land, 1.9.2016).
Zweitens, christliche Rede wird sich bemühen, die Geschichtsdarstellung [engl. „narrative“] jeder der beiden Parteien, die am Konflikt über die Kontrolle des Heiligen Landes beteiligt sind, zu respektieren. Dieser Respekt vor der Geschichtsdarstellung erkennt nicht nur die Enteignung der Palästinenser und ihren Schrei nach Gerechtigkeit an, sondern auch die tragischen Episoden in der Geschichte der Juden, die sie dazu führten, in Palästina eine Heimat zu suchen. Christliche Erziehungseinrichtungen versuchen diesen Respekt bei allen nachdrücklich zu vermitteln, die dort studieren.
Drittens, ein grundlegendes Misstrauen gegenüber politischer Rede, die sich auf theokratische oder ethnozentrische Gesichtspunkte stützt, charakterisiert christliche Rede. Christen fördern eine Politik eines gesunden Säkularismus, bei dem die Religion respektiert wird, nicht jedoch die politischen Realitäten bestimmt. Darüber hinaus müssen die Bürgerrechte aller Bürger den Vorrang gegenüber einer Ethnozentrik genießen, die eine bestimmte ethnische, nationale oder Sprachgruppe gegenüber anderen privilegiert. Ferner setzen die Christen Nachdruck darauf, dass der Konflikt nicht religiöser Natur ist, sondern eher ein solcher zwischen zwei nationalen Bewegungen, der jüdisch-israelischen und der palästinensisch-arabischen. Leider sind die Religion, ihre Schriften und Symbole manipuliert worden mit dem Ziel, die Ansprüche jeder der beiden Seiten zu befördern und zu radikalisieren, wobei die Bibel falsch ausgelegt und missbraucht wird, um den Konflikt anzufeuern statt Gerechtigkeit und Frieden zu fördern.
Viertens gibt es eine weit verbreitete Überzeugung unter Christen, dass der Konflikt angesichts von Unheilspropheten gelöst werden kann, die nachdrücklich betonen, der Konflikt könne nur so gelöst werden, dass man auseinander geht und die Gewalt minimiert. Der Päpstliche Rat für Gerechtigkeit und Frieden hat diese Überzeugung klar zum Ausdruck gebracht:
„Die Kirche glaubt, dass eine Lösung möglich ist. Doch ist es nicht die Aufgabe der Kirche, die konkreten Details der Lösung aufzuzeigen. Die Kirche hält daran fest, dass jede legitime Lösung Folgendes sichern muss:
- Gerechtigkeit für alle Menschen im heutigen Heiligen Land
- Gleichheit aller Bürger
- Freiheit für alle, einschließlich voller Religionsfreiheit
- Wechselseitigen Respekt, der sicherstellt, dass alle ihren Platz in der Gesellschaft finden
- Respekt vor dem internationalen Recht“
(The present conflict in the Holy Land, 1.9.2016).
Bei der Förderung dieser Vision sind die Christen politische Akteure, die sich bemühen, breite Koalitionen zu bilden, indem sie Partner identifizieren, mit denen sie die gleichen Werte teilen und mit denen sie sich in einem Kampf für Gerechtigkeit, Frieden, Gleichberechtigung und Versöhnung im heutigen Israel-Palästina einsetzen können.
Zweifellos ist die Präsenz der Christen in Israel und Palästina heute gefühlt in den zahlreichen Schulen am stärksten, in denen Christen und Muslime und in manchen Fällen sogar Juden unterrichtet werden. Der Päpstliche Rat für Gerechtigkeit und Frieden hat dieses Engagement im Namen der katholischen Bischöfe hervorgehoben (Weihnachtsbotschaft 2015):
„Wir bekennen uns erneut dazu, mit andern zu arbeiten, und dabei neue Energie und Kreativität aufzubringen, um das Leben in einem Umfeld des Todes zu fördern. Wir tun dies als einzelne Jünger Christi innerhalb unserer Gesellschaften, wobei wir daran festhalten, dass jeder Mensch stärker ist als die Macht des Todes, die uns umgibt. Wir bekennen uns erneut zu unserem Engagement im Namen unserer Kirchen: zu unseren Schulen, unseren Universitäten, unseren Krankenhäusern, unseren Heimen für alte Menschen, für Behinderte und Menschen am Rande, unseren Verbänden zum Schutz des Lebens, zu Menschenrechten, Konfliktbewältigung und Dialog. Diese Institutionen sind Oasen des Lebens, die jedem offen stehen. Sie zeigen bereits einen Weg in der Finsternis auf!“
Aus dem Englischen von Johannes Beutler SJ