Zehn Jahre Missbrauchskrise

Eine Begegnung auf Augenhöhe ereignete sich vor 10 Jahren – sie wird in die Geschichtsbücher eingehen: Einige Männer, die Jahrzehnte vorher Opfer sexualisierter Gewalt wurden, brachten den Mut auf, den Rektor ihrer Jesuitenschule, des Berliner Canisiuskollegs, mit der dunklen Seite ihrer Geschichte zu konfrontieren. Dieser versuchte wider Erwarten nicht, das Erfahrene zu vertuschen, sondern schrieb einen Brief an ehemalige Schüler und bat diejenigen, denen Gewalt angetan wurde, sich zu melden: „Wir glauben Ihnen!“.

Was dann folgte, hat die deutsche katholische Kirche in ihren Grundfesten erschüttert. Selbst im innersten Kreis der Getreuen fragte man sich, ob man nicht einem Selbstbetrug aufgesessen sei und kritiklos sein Leben in den Dienst einer moralisch verkommenen Institution gestellt habe. Die Scham, die Enttäuschung, die Wut auf die Täter und das Mitgefühl mit den Opfern der Gewalt mischten sich zu einem emotionalen Wirbelwind, der das ganze Gefüge der Seele ins Wanken brachte. Ich erinnere mich an einen Tremor in meinen Händen, der wochenlang anhielt und den ich nie vorher so verspürt hatte. Ich war existentiell ins Wanken geraten. Manch einer versuchte noch, sich mit abwehrenden Rationalisierungen zu stabilisieren: Man munkelte, Journalisten wollten der Kirche mit einer Kampagne schaden, denn es sei ja in ihr gar nicht schlimmer als in Schulen, in Sportvereinen oder sogar in Familien. Diese Beschwichtigungen glaubten selbst ihre Erfinder nur in Momenten pseudo-heroischer Realitätsverweigerung. Denn die Kirche ist nach ihrem eigenen Anspruch nicht irgendein Sportverein mit ein paar missratenen Übungsleitern, die ihre Hände nicht von jugendlichen Körpern fernhalten konnten.

Die Kirche versteht sich als der mystische Leib Christi. Dass jemand, der nicht nur im Auftrag des Herrn unterwegs war, sondern Christus in dieser Welt sakramental verleiblichen sollte, Kinderseelen so verletzte, dass Lebensfreude, Vertrauen und Liebesfähigkeit in ihnen beschädigt wurden, das ist wahrlich ein Maximum an Perversion, das ist der ultimative Verrat. Selbst kirchenferne Journalisten, die nicht wissen, ob die Zahl der Apostel größer ist als die Zahl der Planeten, spürten doch, dass hier etwas von immenser spiritueller Tragweite geschehen war, etwas im Wortsinn Diabolisches, ein betrügerisches, kaum überbietbares Auseinanderreißen von Anspruch und Wirklichkeit. Die todbringende Gefahr für Kinderseelen näherte sich ihnen maskiert in persona Christi. Ein Sportverein ist dieses moralischen Abgrundes gar nicht fähig.

Während viele Gläubige die Relevanz des Geschehens im Herzen erspürten oder sogar intellektuell durchdrangen, schien es, dass erhebliche Teile der kirchlichen Hierarchie mit Verdrängung beschäftigt waren. Man hoffte, dass die Krise nach zaghaften administrativen Veränderungen schon wieder abklingen werde. So dauerte es 8 Jahre, bis die sogenannte MHG-Studie die Strukturkrise unausweichlich vor Augen führte. Immerhin war die Studie von den Bischöfen selbst in Auftrag gegeben worden. Fehlversuche gab es seitens der Hierarchie allenthalben: eine frühere missglückte Studie, eine missglückte Pressekonferenz, eine missglückte Strategie zur Entschädigung der Betroffenen, ein missglückter Brief eines ehemaligen Papstes, dessen intellektuelle Schärfe früher bewundert wurde, missglückte Zwischenrufe eines ehemaligen Präfekten der Glaubenskongregation, dem die Einfühlung in die kirchliche Realität seiner Heimat nicht gelang. Man könnte noch mehr aufzählen, gleichsam die vielen Strophen eines Klageliedes rezitierend. Aber der Ruck, der nach der MHG-Studie durch die hierarchische Kirche ging, kann dennoch hoffnungsvoll stimmen.

Kann man in Anlehnung an Churchills Diktum hoffen, dass die Bischöfe am Ende vieles richtig machen werden, nachdem sie vorher die falschen Wege alle ausprobiert hatten? Glaube gibt es eben nicht ohne Hoffnung. Ein unsicherer Tremor befällt heute meine Stimme, wenn ich bekenne, dass in mir nach diesen 10 Jahren Hoffnung aufkeimt. In zahlreichen Stunden mit Betroffenen von sexualisierter Gewalt durch Geistliche bin ich reich beschenkt worden. Die Kirche kann von den Überlebenden dieser Gewaltakte, wenn sie ihnen auf Augenhöhe begegnet, viel über sich selbst begreifen. Mancherorts spürt man bereits einen Aufbruch zu einer veränderten Kirche, die weniger autoritär und ausgrenzend handelt. Wenn vor 10 Jahren in mir eine Mischung aus Scham, Schmerz und Wut vorherrschten, so empfinde ich heute mehr Dankbarkeit. Ich bin den Betroffenen dankbar, dass sie gesprochen haben.

Ich will lieber in einer kleinen, von manchen Kreisen belächelten, dafür aber authentischen und gewaltfreien Kirche leben, als in einer mächtigen, angesehenen Kirche, die ein dunkles Geheimnis birgt. Ich hoffe, dass, wenn wir uns dieser Begegnung auf Augenhöhe öffnen, aus der ausgehaltenen Realität schmerzlicher Wunden auch Kraft hervorgeht, eine Anerkennung des Leidens, die hoffentlich befreiend wirkt für die Überlebenden und die Umkehr ermöglicht für uns Amtsträger – die „Missgeburten“ (1 Kor 15,8) in der Kirche –, die wir in der einen oder anderen Form unsere Sendung verraten haben durch Tun oder Unterlassen. 

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