Als im Frühling dieses Jahres der reguläre Schulunterricht in Rheinland-Pfalz endete und die Schülerinnen und Schüler ins Wochenende entlassen wurden, bestand nur eine vage Vermutung, dass der Unterricht bald darauf nicht wieder wie gewohnt beginnen würde. Im Laufe des letzten Schultages noch meldeten die Medien die beschlossene Schließung der Schulen und die weit darüber hinaus gehende Aussetzung der meisten gesellschaftlichen Aktivitäten. Im Laufe der nächsten Tage wurde immer klarer, dass die Pandemie nicht einfach zu willkommenen Ferien verhalf, sondern eine Phase einleitete, welche das Zusammenleben der Menschen in bisher nicht bekanntem Ausmaß beschneiden und grundlegend verändern würde. Selbstverständlichkeiten des Miteinanders, von Begrüßungsritualen bis zu sozialen Kontakten, Gewohnheiten des täglichen Lebens und die freiheitliche Entfaltung der Persönlichkeit wurden plötzlich von Grund auf infrage gestellt.
Verunsicherung, Isolationsängste, Vereinsamung, Überforderung bei der Neuordnung des persönlichen Lebens waren und sind die Folge. Auch wenn einige Beobachter durchaus positive Auswirkungen der Pandemie bemerkten, wie beispielsweise die Entlastung der Umwelt und die allgemeine Entschleunigung, man darüber zu reflektieren begann, was man an Positivem für die Zeit nach der Pandemie hinüberretten könne, führte die Seuche zu Verunsicherung, rief Ängste hervor, hinterließ eine allgemeine Verstörung und die Erfahrung der Ohnmacht. Nur Menschen, die einen Krieg erlebt hatten, berichteten von ähnlichen Erfahrungen.
Die folgenden Ausführungen wollen nicht diesen lebensweltlichen Überlegungen nachgehen, so wichtig eine grundlegende Reflexion auf das Geschehene auch ist. Es soll vielmehr die Situation des gläubigen Christen in den Blick genommen werden und den Fragen nachgegangen werden, welche sich aus der Pandemie für das Menschen- und Gottesbild sowie für den Glauben an Gott ergeben. Was ist der Mensch angesichts der Pandemie? Was offenbart sie über das Wesen Gottes? Wo ist Gott in der Pandemie? Wozu ist der Glaube an Gott in einer solchen Situation gut?
Der gläubige Mensch hat es in dieser Situation leichter und schwerer zugleich. Leichter, weil er in Krisenzeiten in Gott Trost und Halt finden kann, er nicht ausschließlich darauf angewiesen ist, Sinnstiftung rein innerweltlich zu erlangen. Gleichzeitig hat er es aber auch schwerer, da die Geschehnisse nicht nur das christliche Menschenbild, sondern auch das Bild von Gott als Liebenden infrage stellen. Die Eindrücke von Menschen, die an Corona erkranken, einsam und verlassen sterben, lassen an der Gottesebenbildlichkeit des Menschen zweifeln und werfen die Frage nach der Wirksamkeit Gottes in dieser Welt, ja seiner Existenz überhaupt auf.
Das biblische Menschenbild
Die Wurzeln des christlichen Menschenbildes liegen im Judentum. Der Mensch ist nach Auffassung der Bibel Abbild Gottes. Die Aussage des Buches Genesis über den Menschen kann hier in seinen Facetten nicht eingehend erörtert werden. Es wird beispielsweise die Frage diskutiert, ob es sich bei der Bestimmung des Menschen als Abbild Gottes um eine Wesensaussage handele oder nur um eine funktionale Qualifizierung, die seine Liebesfähigkeit aber auch die Beherrschung der Schöpfung bewirke, als Stellvertreter Gottes auf Erden. Grundsätzlich folgt aus der alttestamentlichen Deutung des Menschen, dass dieser weder vergottet noch rein innerweltlich verstanden werden darf. Der Mensch ist an Gott gebunden und erlangt von daher die Freiheit, als sein Stellvertreter zu wirken. Der Mensch ist somit theonom und autonom zugleich. Er ist theonom, weil er als Abbild des Urbildes auf Gott bezogen bleibt. Er ist autonom, weil ihm daraus Freiheit und Gestaltungskraft erwachsen.
Das Christentum greift die Bestimmung des Menschen durch das Alte Testament auf. In Christus wird Gott Mensch. Christus ist daher das Abbild Gottes schlechthin: Er ist Gott selbst, der eingeht in die Welt, den Menschen daher eine unveräußerliche Würde schenkt, seine alttestamentliche Bestimmung als Abbild nicht nur bestätigt, sondern bekräftigt, ja vollendet. Der Mensch wird zur Gestaltung der Welt aufgerufen, nicht zerstörerisch, sondern pflegerisch. Die Autonomie des Menschen ist theonom und bewahrt ihn vor Allmachtfantasien. Seine Macht hat Grenzen, bleibt bezogen auf das Urbild, Christus, Gott selbst, und bekommt von daher Maß und Richtung.
Von zentraler Bedeutung ist, dass die Qualifizierung des Menschen als Abbild Gottes nicht nur eine abstrakte Analogie begründet, der Mensch also gottähnlich und zugleich mehr noch von ihm verschieden ist. Als gläubiger Mensch erfährt er seine Existenz, ganz praktisch, als göttlich und menschlich zugleich. Er verfügt über gestalterische Kraft, Liebesfähigkeit, hat Ungeheures vollbracht, in Wissenschaft, Technik, Kunst, und damit Anteil an der Macht Gottes. Gleichzeitig wird er aber immer wieder geerdet, auf sein zerbrechliches Menschsein, seine Endlichkeit verwiesen, wenn er sich seiner Unvollkommenheit, der Erfahrung von Hass, Krieg, Krankheit und eben auch der Pandemie, dem Tod stellt. Der Mensch als Abbild Gottes zeigt sich im konkreten Leben für den gläubigen Menschen darin, dass er Anteil an der Allmacht Gottes hat, er aber gleichzeitig begrenzt, ohnmächtig, machtlos, ja der Natur hilflos ausgeliefert ist. Gerade die Pandemie macht dies so deutlich. Der Mensch hat Anteil an der Wirklichkeit Gottes, er sehnt sich nach ihm. Gleichzeitig ist der Mensch aber Teil der Welt in ihrer Begrenztheit.
In Zeiten der Pandemie wird somit die Analogie des Menschen mit Gott, sein Abbildsein in besonderer Weise fragwürdig. Die Teilhabe an der göttlichen Herrlichkeit wird gebrochen durch die Erfahrung der Begrenzung, der Ohnmacht, ja der Tatsache, dass ihm Wesentliches entgleitet. Die Verdunkelung seines Abbildseins wirft darüber hinaus aber unmittelbar die Frage auf, wie er als Abbild das Urbild Gott angesichts solcher Erfahrungen zu verstehen habe.
Das Gottesbild
Die Pandemie bewirkt somit nicht nur eine Krise des Menschenbildes, sondern stellt gleichfalls eine Anfrage an das Gottesbild dar. Die Fragwürdigkeit der Ebenbildlichkeit des Menschen wird zur Fragwürdigkeit Gottes selbst.
Es wird von Gott gesagt, dass er überall und in allem sei, er alles bewirke. Er ist also nicht nur in dem, was sich der Mensch wünscht und ersehnt, sondern auch in dem, was die Wünsche des Menschen überschreitet, sie durchkreuzt. Er sei in Gesundheit und Krankheit, in Freud und Leid, in der Erfüllung unserer Sehnsüchte, wie in deren Enttäuschung. Er sei auch in der Pandemie. Trifft dies zu, dann ist Gott qualitativ nicht mehr zu bestimmen, da er in allem ist. Die Erkennbarkeit Gottes wird nachhaltig verdunkelt. Steht auch die Pandemie irgendwie mit Gott in Verbindung, dann wirft das die Frage auf, wer dieser Gott eigentlich ist: Wie ist er zu erkennen? Was sind seine Wege? Sind seine Wege womöglich nicht unsere Wege?
Darüber hinaus folgt aus der Bestimmung Gottes als demjenigen, der in allem ist und der alles durchdringt, nicht nur, dass er im Leid ist, sondern dass er es zumindest auch zulässt. Was nützt dann aber die Religion und der Glaube, wenn das konkrete Leben mit seinem Leid seinen Lauf nimmt, egal, ob der Mensch sich gläubig als Abbild Gottes versteht oder nicht? Hat Gott sich dann nicht vom Menschen mit seinen Sehnsüchten und dem Lauf der Welt verabschiedet? Was soll also dieser Gott, zu was ist er und die Religion nütze, wenn das Urbild sein Abbild scheinbar alleine lässt?
Es geht um eine Radikalisierung der Theodizee, also nicht nur um die Frage, warum Gott uns leiden lässt und wie sich seine Allmacht und Liebe mit dem Leid in der Welt vereinbaren lässt, sondern um Gottes Erkennbarkeit, Berechenbarkeit, Brauchbarkeit.
Angesichts der Bedeutsamkeit der Fragestellung verwundert es nicht, dass sich zahlreiche Personen und Denker, von Hiob über Epikur und Dostojewski bis zu den Philosophen und Theologen der Gegenwart, mit dieser Frage beschäftigt haben. Bei ihnen begegnen uns die bekannten Antworten: Gott lehrt uns durch das Leid, er prüft uns, er richtet uns, das Leid sei Folge unserer Freiheit, dem Abbildsein des Menschen, das uns Gott in Liebe zugesprochen habe usw. Diesen bekannten Antwortversuchen soll hier nicht nachgegangen werden, da es in diesem Zusammenhang nicht so sehr um das Verständnis des Leids angesichts Gottes Liebe geht oder um die Frage, wie der gläubige Mensch mit dieser Spannung klarkommt. Es sollen die Folgen für das Gottesbild in den Blick genommen werden, welche sich aus dem Leid des Menschen ergeben. Möglicherweise kann eine genaue Bestimmung des christlichen Gottesbildes helfen, die Spannung von Gottes Liebe und dem Leid des eigenen Lebens besser zu bewältigen.
Gleich zu Beginn sei wenigstens ein Antwortversuch, der auch im Zusammenhang mit der Pandemie durchaus zu hören war, zurückgewiesen: Gott strafe, er richte die Menschen. Die Pandemie sei eine Strafe Gottes für die Verfehlungen der Menschen. Diese vertraute Strategie ist nicht nur deshalb abzulehnen, weil sie ein Gottesbild zeichnet, das dem christlichen Gott der Liebe widerspricht. Gott straft und richtet nicht, sondern konfrontiert die Menschen mit ihrer schuldhaften Existenz. Das Gericht ist also kein Vergeltungsakt Gottes, sondern besteht in der Erkenntnis der Wahrheit angesichts der göttlichen Gegenwart. Der Sünder straft sich selbst! Dieser Antwort auf das Leid in der Welt soll hier aber vor allem deshalb nicht weiter nachgegangen werden, da sie den Menschen für das Leid verantwortlich macht und damit die Aufmerksamkeit von Gott auf den Menschen verlagert. Hier geht es aber darum, nicht den Menschen, sondern vor allem Gott besser in den Blick zu nehmen und zu verstehen.
Letztlich sind angesichts des Leids in der Welt bezüglich Gottes und seiner Erkennbarkeit, seinem Nutzen wohl drei Bestimmungen möglich:
Erstens: die Abwendung von Gott. Wenn das Leid dem Menschen nahelegt, dass er von Gott verlassen sei, sein Abbildsein durch das Leid verdunkelt werde, sein Leben scheinbar in keiner Entsprechung zum Horizont Gottes stehe, dann folgt daraus Gottes Unerkennbarkeit und Bedeutungslosigkeit. Der Mensch verfällt in Gleichgültigkeit gegenüber Gott, da er ihn nicht mehr betrifft. Letztlich endet diese Erfahrung in der Leugnung Gottes, dem Atheismus. Man mag einem solchen Weg vorwerfen, er sei anthropozentrisch, da er die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse zum Maß aller Dinge macht. Gott wird abgelehnt, weil er den eigenen Wünschen nicht entspricht. Die Entscheidung, Gott Gott sein zu lassen ist aber, wenn sie errungen wurde, allemal mehr zu achten als der verbreitete heutige Atheismus, der aus dumpfer Gewohnheit ein Leben lebt, das jenseitige Horizonte nicht mehr in den Blick nimmt. Die Frage nach der Bewältigung des Leids stellt sich dem Menschen, der Gott fahren lässt aber selbstverständlich immer noch, vielleicht noch beißender, da ihm Gott fehlt, den er für dieses Leid verantwortlich machen kann.
Hält der Mensch im Angesicht des Leids an Gott fest, dann muss er das Leid irgendwie in die Beziehung zu Gott hineinnehmen. Er darf es nicht, wie bei der Auffassung der göttlichen Strafe, von Gott abspalten. Eine Strategie besteht darin, Gott als so groß zu verstehen, dass er all unsere Sehnsüchte und Wünsche überschreitet. Wird das Leid die bestimmende Erfahrung des Menschen und bleibt der Weg des Atheismus verschlossen, dann muss Gott eine Größe eigen sein, die sowohl die Erfüllung unserer Wünsche wie auch ihre Enttäuschung umfasst. Dies geht nur, wenn Gott absolut jenseitig, erhaben, übernatürlich und unbegreiflich verstanden wird.
Religionsgeschichtlich wird diese Strategie zur Triebfeder des qualitativen Monotheismus. Er geht nicht nur von der Einzigkeit Gottes aus, sondern bestimmt diese Einzigkeit als qualitativ von der Schöpfung verschieden. Gott steht der Welt gegenüber, überschreitet ihren Horizont. Wenn das Leid himmelschreiend ist, dann läutert sich das Gottesbild und wird befreit von Analogien der menschlichen Sehnsüchte mit der Wirklichkeit Gottes. Gott umfasst alles, indem er abstrakt ist und jenseits unserer Hoffnungen thront. Der Mensch gibt es dann auf, Leid und Gott verstehen zu wollen, widersteht der Versuchung, Gott ins Bild zu setzen. Wie im Atheismus gibt er die Entsprechung Gottes mit der Welt auf – mit dem Unterschied, dass er an der Wirklichkeit Gottes weiter festhält, auch wenn diese unbegreiflich ist.
Im Judentum zeigt sich dieser qualitative Monotheismus im Verbot der Gleichsetzung eines bestimmten Bildes mit Gott. Gott ist jenseitig, letztlich nicht greifbar. Er ist im Feuer, in der Wolke, im Zelt, er darf nicht im Tempel eingemauert werden. Der Bund mit seinem Volk relativiert nicht seine Unbestimmbarkeit und seine Unberechenbarkeit. Er offenbart nur Gottes Ambivalenz, seine Unbegreiflichkeit.
Nach dem Islam ist Gott dem Menschen zwar so nahe wie seine Halsschlagader (Sure 50, 16). Sein Wesen, seine Eigenschaften bleiben aber letztlich verborgen. Das Leid des Menschen muss ertragen werden: als Schicksal, als unbegreifliche göttliche Vorsehung. Gott ist umfassend, er ist alles und damit irgendwie auch im Leid. Die Verbindung kann nicht erklärt, muss aber hingenommen werden.
Warum kommt es hier nicht zur Leugnung Gottes? Historisch, soziologisch vielleicht deshalb, weil sich der Mensch in vergangenen Zeiten keine Existenz ohne eine göttliche Wirklichkeit vorstellen konnte. Wirkliche Gottlosigkeit war kaum denkbar. Darüber hinaus stand der Mensch noch nicht im Mittelpunkt, verdeckte die Anthropozentrik noch nicht die Wahrnehmung der göttlichen Wirklichkeit durch eigene Wünsche. Der Verzicht auf das Bild, die Analogie, das Schweigen angesichts der Unbegreiflichkeit Gottes fiel vielleicht leichter als heute.
Die dritte Strategie des Umgangs des gläubigen Menschen mit dem Leid besteht darin, dass man das Leid nicht als Ausdruck der Unbegreiflichkeit Gottes deutet, sondern sich gerade im Leid die Wirklichkeit Gottes offenbart. Im Leid zeigt sich Gott selbst, wird sein Antlitz anschaulich. Diesen Weg ist das Judentum mit der Vorstellung vom leidenden Gottesknecht gegangen, der ohne Schuld von den Menschen geschunden wird, dabei nicht verzweifelt, sondern sein Leid als besondere Auserwählung durch Gott deutet.
Das Christentum ist dieser Vorstellung gefolgt. In Christus wird Gott Mensch. Gott zeigt sich, ist im Antlitz Christi eindeutig zu schauen. Damit wird die Auffassung, dass der Mensch Abbild Gottes sei nicht nur bekräftigt, sondern auf die Spitze getrieben. Durch die Menschwerdung Christi bekennt sich Gott ausdrücklich zum Menschen und verleiht ihm eine herausragende Würde, nennt den Menschen nicht mehr Knecht, sondern Freund.
Diese Bekräftigung der Analogie zwischen Gott und Mensch ist dabei kein Rückfall in die Mythologie, die beides miteinander vermischt, also den Menschen vergöttlicht oder Gott vermenschlicht. Im Gegenteil: Gott ist so mächtig, dass er sich einlassen, sich zeigen kann. Der qualitative Monotheismus wird im Christentum noch radikalisiert. Wahre Größe braucht keine Distanz. Gott scheint nun in Jesus Christus den Sehnsüchten des Menschen zu entsprechen. Das von Jesus verkündete und gelebte Reich Gottes kommt den Wünschen des Menschen entgegen, der sich nach Liebe, Achtung, Geborgenheit, nach Frieden und Harmonie sehnt. Der Mensch wird aufgewertet, Randgruppen integriert, Frauen in ihrer Würde geachtet, die Ohnmacht als wahre Macht qualifiziert.
In der Radikalität seiner Botschaft, die Jesus, gelegen oder ungelegen, lebt und verkündet, aber vor allem sein gewaltsames Ende am Kreuz scheint die Hoffnung auf die Entsprechung der menschlichen Wünsche mit Gottes Handeln aber wieder nachhaltig zu zerstören. Im Kreuz bricht die Unbegreiflichkeit Gottes, seine Andersheit, wieder mit aller Kraft durch, ja wird als Eigenart Gottes qualifiziert, da selbst Jesus in scheinbarer Gottverlassenheit stirbt. Durch den Tod Jesu am Kreuz wird Gott und Leid miteinander verbunden. Gerade im Leid, den Leidenden wird das Angesicht Gottes sichtbar.
Gott und das Virus
Was bedeutet das alles für das Verständnis des Leids des gläubigen Menschen angesichts der gegenwärtigen Pandemie? Was sagt das alles über Gott aus und welchen Nutzen kann der Mensch angesichts des Leids aus seiner Beziehung zu Gott ziehen?
Grundsätzlich folgt aus der Menschwerdung Christi und seinem Leiden die besondere Nähe Gottes zu Menschen, die leiden müssen, gerade auch in der Situation der Pandemie, in der Menschen verstört und verunsichert sind, isoliert, ohne Beistand ihrer Angehörigen sterben mussten und müssen. Ihnen kann die Botschaft der Nähe Gottes im Kreuz Trost spenden, ebenso die zentrale Hoffnung des christlichen Glaubens, dass der Mensch nicht für den Tod, sondern für das Leben bestimmt ist, da Christus von den Toten auferstanden ist. In einer Welt, die nicht aufgeht, in der Leid stets gegenwärtig ist und den Menschen gleichzeitig die tiefe Sehnsucht nach Vollendung erfüllt, ist das Jenseits keine Vertröstung, sondern Notwendigkeit.
Ungeachtet dieser Hoffnungsperspektive offenbart die Menschwerdung Christi und sein Tod am Kreuz aber etwas über Gott selbst. Das Leid als zentrale Krise des Menschen lässt Einblicke in das Wesen Gottes zu, da dieser in es selbst eingegangen ist. Gott macht unsere Welt zu seiner Welt und seine zu unserer. Das Leid muss daher nicht zur Unbegreiflichkeit oder Leugnung Gottes führen, sondern kann sein innerstes Wesen offenbaren.
Damit werden alle Überzeugungen fragwürdig, die das Leid als mit dem Wesen Gottes unvereinbar qualifizieren. Solche Gottesbilder beschränken Gottes Wirken auf die Erfüllung der Wünsche des Menschen. Sie setzen ins Bild. Der Mensch, der durch das Leid seinen Glauben verliert, macht die Enge seines Bildes von Gott, er müsse dem Menschen ein Leben in Glück und Harmonie schenken, zum alleinigen Maßstab, mag diese Reaktion konkret auch noch so verständlich sein. Aber auch die Vorstellung von einem Gott, der vollkommen absolut über allem thront, der letztlich unverständlich und unzugänglich sei und der vom Menschen passive Schicksalsergebenheit verlange, verfehlt Gott, da sich so die Welt des Menschen und Gott entfremden.
Die Leugnung Gottes wie die Vorstellung seiner Entfremdung von der Welt verkennen die wahre Größe Gottes, da nicht gesehen wird, dass sich seine Allmacht nicht im Abstand, sondern in der Nähe zu den Menschen erweist. Gottes umfassende Liebe zeigt sich darin, dass er in Freud und Leid des Menschen eingeht: Wahre Größe braucht keine Distanz.
Das christliche Gottesbild ist dadurch charakterisiert, dass es genau diese Nähe Gottes zulässt und damit Freud und Leid als Erfahrungen des Menschen in die Beziehung zu Gott hineinnimmt. Gott ist sowohl in der Erfüllung der Wünsche des Menschen wie im Eintreten seiner schlimmsten Befürchtungen, da Gott in Jesus Christus in alle Spektren des menschlichen Lebens eingegangen ist, diese angenommen hat. Daraus folgt, dass Gott nicht auf eine bestimmte menschliche Erfahrung festgelegt werden kann. Er ist nicht nur in der Erfüllung der menschlichen Wünsche und verbirgt sich, wenn sie nicht in Erfüllung gehen. Gott ist in Freud und Leid, im Glück wie im Unglück, da in Jesus Christus deutlich wurde, dass Gottes Liebe alle Wirklichkeiten des Menschen umfasst. Gottes Universalität ist seine radikale Bereitschaft zur Partikularität: Mut zur Partikularität als letzte verbliebene Metaerzählung.
Daraus erwächst eine große Herausforderung. Gott ist immer Bild und Zerstörung des Bildes zugleich. Er ist nicht nur in Freud und nicht im Leid oder umgekehrt, sondern zeigt sich, ist gegenwärtig in beiden Wirklichkeiten, immer wieder changierend, wechselnd, überraschend. Er ist eben nicht nur unser Bild – oder gar kein Bild: Das wäre schon wieder ein Bild. Gott ist in der Erfüllung unserer Wünsche und immer auch dort, wo unsere Erwartungen durchkreuzt werden. Man trifft sein Wesen am besten, indem man ihn nicht benennt und doch benennt. Gott ist aber nicht unberechenbar. Er ist verlässlich in seiner Liebe zu uns, die alles durchdringt, keine Wirklichkeit auslässt.
Die Spannung, die daraus erwächst, wird dann aufgegeben, wenn Gott, wie im Atheismus, einem bestimmten Bild geopfert wird. Aber auch der Agnostizismus erliegt dem Hang zum Bild, da Gottes Unerkennbarkeit eine Passivität, eine statische Fassungslosigkeit zur Folge hat. Die Erkenntnis des Gläubigen, dass sich Gott immer auch dem Bild entzieht, unterscheidet sich hier, da er die Möglichkeit der Offenbarung anerkennt und dadurch in der Spannung des Suchenden verbleibt. Vielleicht besteht darin das Wesen der Sünde: Absonderung, verstanden als Weigerung, sich dieser Spannung immer wieder neu auszusetzen.
Der Weg mit Gott verlangt, diese Spannung auszuhalten. Gott ist in der Nähe und in der Ferne. Er ist in der Erfüllung wie auch in der Durchkreuzung unserer Wünsche. Er ist in der Schönheit wie in der Hässlichkeit. Er ist in Freud und in Leid. Die Herausforderung, die Spannung des christlichen Glaubens, besteht also nicht darin, an Gott festzuhalten, wenn dieser den Vorstellungen des Menschen widerspricht, sondern darin, alles – die Erfüllung wie die Enttäuschung – als Offenbarung seines Wesens zu deuten, anzunehmen und zu leben.
Gott wird dadurch qualitativ nicht festlegbar, nicht begreifbar. Er ist eben keine abgrenzbare, festlegbare Wirklichkeit, sondern Liebe, die alles umgreift. Die Herausforderung besteht darin, nicht in einen Agnostizismus zu verfallen, aufgrund der Tatsache, dass er in allem zu finden ist, die Suche nach ihm aufzugeben und einem passiven Fatalismus zu verfallen. Gott in allem zu suchen, ist eine aktive Haltung, welche die Unbegreiflichkeit Gottes als inneren Kern seiner Liebe deutet, die konkret und flüchtig zugleich ist.
Wer ist Gott, und zu was ist er zu gebrauchen, gerade angesichts der Pandemie? Wenn Gott, wie angedeutet, Liebe ist, die in alles eingeht und der Weg mit Gott verlangt, diese Spannung durchzutragen, also nicht in die Statik zu verfallen, das eigene oder kein Bild von Gott als Möglichkeit gegenüber zu stellen, dann ergibt alles Sinn, was hilft und lehrt, in dieser Spannung zu verbleiben: Erfahrungen und Begegnungen, die bewegen, den eigenen Horizont, die eigenen Vorstellungen zu ergründen und zu überschreiten.
Grenzsituationen sind dazu besonders geeignet. Sie stellen Selbstverständliches infrage, durchbrechen Gewohnheiten, bringen den Alltag durcheinander, offenbaren Stärken und Schwächen. Sie verstören, sind Zumutung. Gerade dadurch können aber Verkrustungen aufgebrochen, Statik und Erstarrung überwunden werden. Zeiten der Krise sind daher auch Gelegenheiten, wieder zu lernen, Gott in allem zu suchen und zu finden. Damit ist nicht eine Erneuerung des Prinzips „Not lehrt beten“ gemeint. Das wäre schon wieder ein Bild, Statik. Grenzsituationen können den Blick weiten, die Dynamik der Liebe in allem neu zu entdecken.
Die Pandemie ist eine solche Grenzsituation. Sie verstört, bringt so manches durcheinander, legt unsere, aber auch die Schwächen der Gesellschaft schonungslos offen. Sie zeigt die Zerbrechlichkeit des Lebens. Sie kann bewirken, dass der Mensch am Leben verzweifelt. Sie kann aber auch den Glauben an Gott bekräftigen. Der Mensch erfährt im Leid und in der Perspektive der Auferstehung einen umfassenden Trost.
Die Pandemie ist eine Chance, Gott besser zu verstehen. In Zeiten, in denen nicht alles nach Plan läuft, Verwirrung droht, das Leid um sich greift, kann Gott von denen, die ihn noch suchen, möglicherweise besser verstanden werden als in Zeiten, in denen die Welt scheinbar funktioniert, vielleicht sogar harmonisch aufgeht. Der Mensch kann lernen, dass Gott, der alles ist, mit seiner Liebe alles umfängt. Gott ist in allem, gerade jetzt. Deshalb ist er zu gebrauchen, als Beistand gerade dann, wenn Selbstverständliches schwindet, vieles fragwürdig wird. Gott ist in Freud und Leid, Gesundheit und Krankheit. Er ist Liebe, geht in alles ein. Er ist Bewegung, Geist ...